Protocol of the Session on September 23, 2015

Drittens: Wir müssen ein Fundament bauen, das über den Mo ment hinaus dauerhaft tragfähig ist, ein Fundament aus Hu manität und Pragmatismus. Ich glaube, man kann das auch in einem der Grundsätze des Christentums ausdrücken, das ja unser Land tief geprägt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Darin steckt die Hinwendung zum anderen. Es ist ge rade das Proprium des Christentums, dass auch der Fremde der Nächste ist. Deswegen lernen wir alle im Religionsunter richt das Beispiel vom barmherzigen Samariter.

In dem angesprochenen Grundsatz steckt also die Hinwen dung zum anderen, egal, woher er kommt. Aber in diesem Satz steckt auch die Hinwendung zu uns selbst. Das heißt, das ei ne bedingt das andere. Nur wenn wir dabei auch auf uns selbst achten, wenn wir unsere Kräfte richtig einschätzen und ein

teilen, dann können wir auch anderen dauerhaft helfen. Wir sind zu Höchstleistungen in der Lage, aber wir sind nicht für ständige Höchstleistungen geschaffen.

Mit anderen Worten: Der Maßstab ist nicht einfach selbstlo se Hingabe, sondern der Maßstab ist ein dauerhaft durchhalt barer, pragmatisch fundierter Humanismus.

In diesem Bewusstsein ist die Landesregierung die Heraus forderung der stark steigenden Zahl von Flüchtlingen von An fang an angegangen. Von Anfang an haben wir auf eine brei te Verantwortungsgemeinschaft gesetzt. Deswegen hat BadenWürttemberg als erstes Bundesland im Oktober letzten Jah res einen Flüchtlingsgipfel mit allen relevanten Akteuren aus Politik und Gesellschaft einberufen und hat einen zweiten Flüchtlingsgipfel folgen lassen, noch bevor die Bundesregie rung ihren ersten Gipfel überhaupt geplant hat.

Krisen sind immer Stunden der Exekutive. Die Landesregie rung ist in der aktuellen Krise natürlich besonders gefordert. Wir betreiben zusammen mit den Kommunen ein Krisenma nagement, so gut wir es überhaupt können.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: So ist es!)

Wir haben einen Lenkungskreis im Land eingerichtet, der schnell entscheidet und handelt. Wir sind durch Staatssekre tär Murawski im Krisenstab der Bundesregierung vertreten und stimmen uns in allen operativen Fragen eng mit der Bun desregierung und anderen Ländern ab.

Wir haben in kürzester Zeit Erstaufnahmeeinrichtungen ge schaffen – die Ministerin hat es gerade noch einmal vorgetra gen –: in Ellwangen, Meßstetten, Heidelberg, Neuenstadt, Weingarten, Hechingen, Sigmaringen, Mannheim, Sinsheim, Donaueschingen, Offenburg, Freiburg, Villingen-Schwennin gen, Bruchsal, Wertheim und Philippsburg. Wir planen wei tere in Mannheim, Tübingen und Schwäbisch Hall.

Es ist gesagt worden: Zu Beginn hatten wir 900 Plätze in Karlsruhe. Heute sind wir bei einer Regelkapazität von 16 000 Plätzen. Das ist eine Verachtzehnfachung in kurzer Zeit. Wir entlasten damit die Kommunen. Das kann Baden-Württem berg wie kein anderes Bundesland tun. Das möchte ich noch einmal betonen. Anderswo werden Flüchtlinge teilweise ein fach durchgereicht. Das versuchen wir so gut, wie es möglich ist, zu verhindern.

Alle müssen sich noch einmal die Zahlen vor Augen führen: Im September waren 18 000 zusätzliche Flüchtlinge unterzu bringen. Dass wir es geschafft haben, dass niemand auf dem Bürgersteig übernachten oder im Garten liegen muss, wie es anderswo vorkam, ist eine ganz beachtliche Gemeinschafts leistung von Land und Kommunen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zuruf: Sehr gut!)

Wir werden jetzt in Heidelberg ein neues Verteilzentrum ein richten. Dort sind große Liegenschaften, in denen drei Vier tel aller Flüchtlinge innerhalb weniger Tage registriert, erken nungsdienstlich behandelt und medizinisch untersucht wer den können. Diejenigen mit guter Bleibeperspektive werden danach direkt in die Kommunen verteilt, diejenigen mit schlechter Bleibeperspektive kommen in die Erstaufnahme einrichtungen. Dieses baden-württembergische Modell wird

bundesweit stark beachtet und dient auch als Blaupause für andere Länder.

Es ist schon gesagt worden: Allerdings können wir dort nicht alle konzentrieren. Es gibt auch Flüchtlinge, die spontan auf treten – einfach in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Die wer den dann dort aufgenommen und registriert.

Wir haben die Polizei gestärkt und Sozialarbeiter eingestellt. Wir werden im Rahmen eines Nachtragshaushalts für weite re Verstärkungen sorgen.

Wir haben die Flüchtlingspauschale auf 13 200 € aufgestockt. So stark unterstützt kaum ein Land außer Bayern seine Kom munen. Mit den kommunalen Landesverbänden haben wir ein vernehmlich vereinbart, die Liegenschaften spitz abzurechnen.

Wir unterstützen also die Kommunen mit einem speziellen Bauprogramm – auch das ist schon gesagt worden – von 30 Millionen € bei den Flüchtlingsunterkünften. Es ist aber klar – das habe ich auch im Gespräch mit der Bundeskanzle rin noch einmal sehr deutlich gemacht –: Die eigentliche He rausforderung sind diejenigen, die bleiben; die bleiben in den Kommunen.

Nun liegt die Zuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau seit der Föderalismusreform bei den Ländern. Das ist in nor malen Zeiten auch in Ordnung. Aber bei dieser gigantischen Herausforderung geht das Ganze nicht ohne ein Zusammen spiel zwischen Bund und Ländern. Das muss in ganz anderen Größenordnungen erfolgen als bisher.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Wir haben Vorbereitungsklassen für Flüchtlinge eingerichtet, haben 200 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen und lassen 200 weitere folgen. Wir haben Programme zur Arbeitsintegration und Sprachförderung aufgesetzt. Wir haben ein Handbuch für Flüchtlingshelfer herausgegeben, das einem geradezu aus der Hand gerissen wird, sodass wir schon die zweite Auflage ma chen müssen.

Das heißt, wir handeln koordiniert, wir handeln entschlossen und mit ganzer Kraft, um unserer Verantwortung möglichst gut gerecht zu werden.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Allerdings: Wir stoßen – einfach aufgrund der Zahlen – an un sere Grenzen. Trotz des rasanten Ausbaus von Erstaufnahme einrichtungen führt die Tatsache, dass wir derzeit 27 000 Flücht linge untergebracht haben, natürlich zu einer Überbelegung in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Ich verstehe, dass dies nicht gut ist und allen enormen Stress bereitet. Aber bitte: Was ist die Alternative dazu? Wer dies kritisiert, den verstehe ich auch. Je der hat das Recht dazu. Worin liegen bitte die Alternativen? Die muss ich dann schon auch irgendwann einmal hören.

Ich will noch einmal sagen: Die Überbelegung in der Erstauf nahmeeinrichtung in Ellwangen ist nun wirklich dramatisch. Der Leiter der operativen Stabsstelle des Lenkungskreises, Landesbranddirektor Schröder, hat mir gesagt, dass noch heu te, spätestens morgen die Einrichtung in Ellwangen um 1 000 Personen entlastet wird; diese werden woanders unterge bracht.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Das habe ich gemeint mit der Aussage, dass ich keine Brand briefe brauche. Denn das wissen wir selbst. Wir sind bestens informiert, was dort geschieht und wie dort die Zustände sind. Es ist also bekannt. Sobald wir Entlastungskapazitäten haben, tun wir alles, was möglich ist, um diese überlasteten Aufnah meeinrichtungen zu entlasten. Aber es ist in der Regel so: So bald wir an einem Ende Entlastungen schaffen, läuft es uns am anderen Ende zu. Das muss einfach jeder einsehen. Das sind einfach die Faktizitäten. An denen kann die Landesregie rung erst einmal nichts ändern.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Jetzt will ich noch auf die Frage eingehen: Was ist eigentlich politisch gesehen – am Donnerstag steht ja der Gipfel an – der Dreh- und Angelpunkt, an dem wir schrauben können? Das ist die lange Verfahrensdauer. Die lange Verfahrensdauer ist der Dreh- und Angelpunkt, an dem wir aktuell etwas in der Krise verbessern können. Derzeit dauert ein Verfahren im Schnitt fünf bis sechs Monate. Das ist viel zu lange.

Ich will noch einmal darauf hinweisen: Letzten Sommer ha be ich einen Brandbrief an die Bundeskanzlerin geschrieben, in dem ich darauf hingewiesen habe, dass das Personal hier aufgestockt werden muss. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat im Oktober letzten Jahres einstimmig den dramatischen Appell an die Bundesregierung gerichtet,

(Zuruf des Abg. Matthias Pröfrock CDU)

die Verfahrensdauer durch Einstellung von mehr Personal zu verkürzen. Aber es hat über ein halbes Jahr gedauert, bis de Maizière dann verkündet hat, dass die Kapazitäten um 2 000 Stellen aufgestockt werden.

(Zuruf des Abg. Wolfgang Drexler SPD)

Das ist aufgrund des Anschwellens der Flüchtlingszahlen wie der zu wenig. Natürlich kann man diese Kräfte jetzt nicht so schnell requirieren. Das ist einfach so. Das lag nun wirklich nicht an uns. Ich möchte keine Schuldzuweisung machen.

(Zuruf von der CDU)

Das ist einfach eine Tatsache, die einen Teil unserer Proble me verursacht. Da ist wertvolle Zeit verloren gegangen. Jetzt müssen wir schauen, dass wir das durch schnellere Asylver fahren lösen.

(Glocke des Präsidenten)

Denn dadurch werden die Erstaufnahmeeinrichtungen entlas tet, die Menschen werden nicht länger in Unwissenheit gelas sen, und der Anreiz, nach Deutschland zu kommen, würde sich für jene ohne Bleibeaussicht drastisch verringern. Wenn wir die Verfahrensdauer auf unter drei Monate senken, dann werden alle anderen Anreizfunktionen sehr stark gemindert. Das muss jeder sehen. Das betrifft auch Ihre Diskussion über das Taschengeld. Wenn das Verfahren in einer entsprechend kurzen Zeit abgeschlossen ist, sinkt in jeder Hinsicht der An reiz drastisch. Darum ist das das A und O.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie des Abg. Peter Hauk CDU)

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glück?

Einen Moment. Ich führe noch den Gedanken zu Ende.

Jene, die bleiben können, können dann schneller integriert werden und schneller in Arbeit kommen. Abgelehnte Asylbe werber haben dann schneller Klarheit und würden schneller in ihre Heimat zurückgeführt oder können freiwillig dorthin zurückkehren.

Wir müssen deswegen die Prioritäten hier klar setzen. Dazu braucht man uns nicht zu überzeugen. Dass wir Flüchtlinge mit Bleiberecht und Flüchtlinge ohne Bleiberecht unterschied lich behandeln müssen, das bezweifelt niemand – vielleicht außer der Linkspartei; das weiß ich nicht genau. Aber nicht einmal Ministerpräsident Ramelow zweifelt daran, sondern sieht hier die Dinge genauso wie alle anderen Ministerpräsi denten auch und teilt die Einschätzung, dass es in dieser Si tuation gar nicht anders geht.

(Zuruf des Abg. Dr. Bernhard Lasotta CDU)

Wir müssen also sehen: Seither haben wir gerade einmal 50 zusätzliche Mitarbeiter vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bekommen. Am letzten Dienstag gab es nun ein langes Treffen mit der Bundeskanzlerin. Dort haben alle Mi nisterpräsidenten intensiv darauf hingewiesen, dass die Ver fahrensdauer verkürzt werden muss. Das Ergebnis haben Sie gesehen: Der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Herr Dr. Schmidt, ist zurückgetreten. Jetzt über nimmt diese Position Herr Weise, der Leiter der wahrschein lich größten Behörde der Welt mit 70 000 Beschäftigten. So können wir darauf bauen, dass es jetzt sehr schnell zu einer Entlastung kommt und die Entscheidungen schneller getrof fen werden. Jedenfalls erwarten wir von der Bundesregierung, dass das jetzt endlich eintritt.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD – Zuruf des Abg. Karl Zimmermann CDU)

Ich will noch einmal betonen, dass wir hier ansonsten mit der Bundesregierung gut zusammenarbeiten. Ich möchte mich da ansonsten überhaupt nicht beschweren. Der Bund-Länder-Ko ordinierungsstab trifft sich jede Woche, da wird jeden Tag zweimal telefoniert. Die Dinge werden also so gut abge stimmt, wie es geht.

Im Hinblick auf den anstehenden Flüchtlingsgipfel bin ich si cher – ich gehe jedenfalls konsensorientiert und kompromiss bereit dort hin –, dass wir da ein Paket schnüren werden, hin ter das wir alle uns stellen können.

(Zuruf von der CDU: Was sind Ihre Forderungen?)

Jetzt ist es, glaube ich, wichtig, dass ich noch etwas zur Ge sundheitskarte sage. Erstens: Die Gesundheitskarte ist schon beim letzten Asylkompromiss verhandelt worden.

(Zuruf von der CDU: Ganz andere Zahlen!)