Protocol of the Session on September 23, 2015

Diese LEAs sollen sich insbesondere um die Direktzugänge kümmern. Wer sich direkt in Meßstetten meldet, wird natür lich nicht extra nach Heidelberg geschickt.

Von dort aus sollen diejenigen mit guter Bleibeperspektive auf die Stadt- und Landkreise verteilt werden. Die Menschen aus den sicheren Herkunftsländern sollen bis zur Ausreise in der Erstaufnahmeeinrichtung verbleiben. Der Bund wird dazu die maximale Verweildauer in der Erstaufnahmeeinrichtung ent sprechend verlängern. Aber hier kommt auch schon meine

Kritik an den Bund: Bislang gibt es immer noch keine kurze Zeitvorgabe für die Asylverfahren beim BAMF.

(Abg. Winfried Mack CDU: Ja, weil Sie zuständig sind!)

Wir haben das – – Ich bin zuständig? Ich bin Bundesinnenmi nisterin? In meinem nächsten Leben!

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Winfried Mack CDU: Nein, Sie sind zustän dig für die Flüchtlingsunterbringung! Da können Sie viel zur Verfahrensverkürzung beitragen! Das ist das Problem in Baden-Württemberg!)

Ich fordere kürzere Verfahren und eine Zeitvorgabe. Ich for dere ein Zeitlimit ähnlich wie beim Berufsanerkennungsge setz, nach dem der Bescheid nämlich innerhalb von drei Mo naten ergehen muss. Das erzeugt Druck.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD – Abg. Wolfgang Drexler SPD: So ist es! Sehr gut! – Abg. Claus Schmiedel SPD: Sehr gut!)

Das BAMF muss zumindest die Anträge von Personen aus si cheren Herkunftsländern innerhalb von zwei Wochen abgear beitet haben. Das ist unsere Forderung an den Bund. Zumin dest die Anträge von Personen aus sicheren Herkunftsländern müssen innerhalb von zwei Wochen abgearbeitet werden.

Außerdem sollte der Bund die rechtlichen Rahmenbedingun gen für die schnelle Rückführung verbessern. Wir brauchen eine zentrale Stelle für die Passbeschaffung. Viele Abschie bungen scheitern einfach deshalb, weil Papiere fehlen. Da muss uns der Bund auch unterstützen.

Für die Bleibeberechtigten fordern wir sofortige Integrations kurse – auch dies fällt in die Zuständigkeit des Bundes. Wir fordern dies seit Jahren. Weil der Bund bislang nicht reagiert hat, haben wir im Land ein eigenes Landesprogramm „Chan cen gestalten – Wege der Integration in den Arbeitsmarkt öff nen“ erarbeitet. Wir wollen nämlich keine Zeit mehr verlie ren.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Wir können das tun, weil Baden-Württemberg ein relativ wohlhabendes Bundesland ist und weil die hiesige Wirtschaft Fachkräfte braucht. Andere Bundesländer können das viel leicht nicht. Auch das sollte man bei der Forderung nach EUweiten Standards einmal berücksichtigen.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Die Standards sind auch innerhalb Deutschlands höchst un terschiedlich. Wir sind in Baden-Württemberg in der Lage, Lehrer einzustellen und Förderklassen einzurichten. Wir sind auch in der privilegierten Lage, in der Fläche Sozialarbeiter einstellen zu können.

(Zuruf des Abg. Matthias Pröfrock CDU)

Andere können das vielleicht nicht. Andere bieten möglicher weise auch keinen kostenfreien WLAN-Zugang an. Andere finanzieren das Ehrenamt oder die Arbeit der psychosozialen Zentren, die traumatisierte Flüchtlinge betreuen, möglicher

weise nicht so wie wir. Auch das macht meines Wissens nur Baden-Württemberg.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Andere Bundesländer haben kein Sonderkontingent für be sonders bedrohte und traumatisierte Frauen und Kinder. Ich weiß auch nicht, ob andere Bundesländer Bauförderprogram me für die Kommunen in Höhe von jeweils 30 Millionen € beschlossen haben. Wir haben das gemacht – im letzten Jahr und auch in diesem Jahr –, und wir werden wahrscheinlich noch einmal nachlegen.

Man muss davon ausgehen, dass die hohe Zahl von Flüchtlin gen große Auswirkungen auf den Wohnungs- und Arbeits markt sowie auf die Bereiche Schule, Behörden, Soziales und Integration haben wird. Das wird eine Jahrhundertaufgabe; da machen wir uns nichts vor.

Einigen Flüchtlingen müssen wir unser Alphabet buchstabie ren, einigen anderen aber auch unsere Grundwerte – das ist vielleicht der wichtigere Teil. Wir können es nur in einem ge meinsamen Kraftakt schaffen, wenn alle an einem Strang zie hen.

Ja, Humanität gibt es eben auch nicht zum Nulltarif. Deshalb fordern wir eine strukturelle Beteiligung des Bundes an den Kosten. Bayern und Baden-Württemberg sind die beiden Län der, die fast eine Vollerstattung der Pauschalen vornehmen. Bayern rechnet spitz ab, wir rechnen zumindest den liegen schaftsbezogenen Anteil spitz ab; das ist der größte Anteil. Das führt zu einem großen Kostenaufwand. Im Ersten Nach tragshaushalt 2015 hatten wir 500 Millionen € vorgesehen, im Zweiten Nachtrag waren es dann bereits 652 Millionen €. Für 2016 rechnen wir mit über 1,8 Milliarden €. Bedenken Sie einmal, was man mit dieser Summe direkt vor Ort an Entwick lungshilfe leisten könnte,

(Zuruf von der SPD: Ja!)

z. B. wenn es Schutzzonen gäbe. Die Jesiden, mit denen ich am Montag gesprochen habe, sagen, sie würden nicht kom men, wenn es in Shingal eine Schutzzone gäbe. Auch das ist eine Möglichkeit, die der Bund vielleicht prüfen könnte.

1,8 Milliarden € – wie viele Ausbildungsplätze und welche nachhaltigen Strukturen könnte man damit auf dem Balkan schaffen? Auch das sollte man bedenken.

Ich will es bei diesem Ausflug in die internationale Politik be lassen,

(Abg. Andreas Deuschle CDU: Ja!)

wollte aber zu bedenken geben, dass sie für die Lage auch mit verantwortlich ist.

Ich will zur Landesebene zurückkommen, wo sich Menschen rührend dafür einsetzen, dass die Flüchtlinge bei uns gut auf genommen werden. Ich habe so viel Hilfe und Unterstützung in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen, und ich frage mich, wann es so etwas je gegeben hat.

Die Menschen müssen nicht nach der Arbeit noch Flüchtlin ge betreuen, sie müssen nicht mit ihnen Deutsch lernen, sie müssen auch nicht mit ihnen zum Arzt gehen oder mit ihnen

Fußball spielen, sie müssen nicht ihre Kleider spenden oder Spielzeug sammeln – aber sie machen es. Wenn das kein Grund ist, stolz auf dieses Land, seine Bürger und auf diese Leistung in diesem Land zu sein, was dann?

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP)

Das Wort erhält Herr Minister präsident Kretschmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben eine Zeitenwende, eine globale Krise, die uns heu te, aber auch in Zukunft in Baden-Württemberg herausfordern wird. Der brutale Bürgerkrieg im Irak, das brutale IS-Terror regime, das in immer mehr Länder im Nahen Osten eindringt, das Zerfallen des Iraks führen zu riesigen Flüchtlingsströmen. Wir müssen uns zudem darauf einstellen, dass etwa auch auf grund des Klimawandels Menschen zu uns fliehen werden – vor Dürren, vor Katastrophen, vor dem Untergehen ihrer Län der.

Die Welt ist zunehmend vernetzt. Wir merken jetzt einfach al le, dass uns die Probleme, die früher fern schienen, heute un mittelbar betreffen. Wir können nicht einfach so tun, als gin gen sie uns nichts an. Wir müssen diese Auswirkungen auf un ser Land bestmöglich bewältigen. Natürlich müssen wir auch die Ursachen bekämpfen. Dabei müssen wir einen langen Atem haben.

Die Ministerin hat es gerade gesagt: Es sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung, Unterdrü ckung, vor Perspektivlosigkeit. Zu uns nach Baden-Württem berg werden in diesem Jahr mit Sicherheit 100 000 Flüchtlin ge kommen. Ihnen zu helfen ist unsere humanitäre Verpflich tung.

Ich bin der Bundeskanzlerin wirklich dankbar für ihre klare Haltung und ihre klaren Worte in dieser Sache.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU)

Ich will auch noch einmal betonen: Das Asylrecht ist ein Grundrecht; es ist kein Gnadenakt, den wir gewähren; es ist ein Grundrecht. Es gehört zu den größten zivilisatorischen Er rungenschaften, dass wir ein solches Recht in unserer Verfas sung haben. Dieses Recht haben ja früher nur etwa die Kir chen gewährt. Es ist heute ein Grundrecht. Grundrechte sind – das weiß jeder; de Maizière hat es so ausgedrückt – nicht quantitativ beschränkt. Die Bundeskanzlerin hat gesagt, das Grundrecht auf Asyl kenne keine Obergrenzen. Ich habe ge sagt, für solche Flüchtlinge, die das Recht in Anspruch neh men, ist das Boot nie voll. Das ist alles etwas anders formu liert, meint aber dasselbe.

(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU)

Man kann aber, glaube ich, schon erwarten – weil es in unse rer Verfassung heißt, dass Grundrechte in ihrem Wesensgehalt nicht geändert werden dürfen –, dass sich jeder und jede Ab geordnete dahinterstellt.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Vereinzelt Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Abschottungspolitik ist keine Alternative. Denn wenn Men schen in ihrer Heimat alles verloren haben und nichts als ihr nacktes Leben retten konnten, dann werden sie für diese Frei heit für sich und ihre Kinder unfassbare Strapazen und Gefah ren in Kauf nehmen. Sie werden sich letztlich nicht von Grenzzäunen abhalten lassen.

Keine Frage, es ist eine gewaltige Herausforderung, die vie len Flüchtlinge gut unterzubringen und jene, die dauerhaft bei uns bleiben können, gut zu integrieren. Wir werden diese He rausforderung nur unter bestimmten Voraussetzungen meis tern können.

Erstens brauchen wir in dieser Krise eine Verantwortungsge meinschaft aller staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte – von Kommunen, von Ländern, vom Bund, von den Kirchen, von Verbänden, von der Wirtschaft, von der Zivilgesellschaft, aber natürlich besonders auch von Europa. Ich kann nur die Worte der Kanzlerin wiederholen: Wenn Europa nicht zurück findet zu seinen Werten, Solidarität übt und diese Verantwor tung wahrnimmt, wird diese Krise für Europa weit schlimmer werden als die Eurokrise. Dessen müssen wir uns bewusst sein.

Ich bin auch hier der Kanzlerin außerordentlich dankbar, dass sie mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier zäh daran ar beitet, ein Land nach dem anderen, das sich bisher verweigert, in die Solidarität hineinzunehmen. Man sieht, dass dies einen gewissen Erfolg hat, auch wenn es dabei langsam vorangeht. Aber diese Arbeit ist wichtig. Hierbei müssen wir alle den Druck erhöhen und dürfen nicht nachlassen. Ich glaube, es gä be keine sinnhafte Alternative dazu, dass Europa und alle sei ne Länder gemeinsam in diese Solidarität gehen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP)

Zweitens: Wir kommen natürlich ohne die vielen ehrenamtli chen Kräfte, die sich überall in Baden-Württemberg, in allen Teilen Deutschlands engagieren, überhaupt nicht aus. Man muss ehrlicherweise sagen: Wir könnten ohne dieses ehren amtliche Engagement diese Krise überhaupt nicht bewältigen. Ich möchte mich allen anschließen, die für dieses unglaubli che Engagement, das wir da feststellen können, schon ihren Dank ausgesprochen haben.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP)

Drittens: Wir müssen ein Fundament bauen, das über den Mo ment hinaus dauerhaft tragfähig ist, ein Fundament aus Hu manität und Pragmatismus. Ich glaube, man kann das auch in einem der Grundsätze des Christentums ausdrücken, das ja unser Land tief geprägt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Darin steckt die Hinwendung zum anderen. Es ist ge rade das Proprium des Christentums, dass auch der Fremde der Nächste ist. Deswegen lernen wir alle im Religionsunter richt das Beispiel vom barmherzigen Samariter.