Wir alle haben die Bilder aus dem Mittelmeer vor Augen, bei denen sicher jeder, der eine Seele hat, der Trauer und Schmerz empfinden kann, Mitgefühl hat. Wenn wir diese Bilder des Massengrabs im Mittelmeer sehen, berührt uns das, und es geht auch bis an die Wurzel der Seele.
Allerdings glaube ich, dass wir es uns nicht so einfach ma chen können wie der Vorredner, nämlich nur auf die EU zu schimpfen. Europa selbst ist sicherlich nicht die alleinige Hauptursache. Im Gegenteil: Wir müssen über die Fluchtur sachen nachdenken – die nicht in Europa liegen –, und wir bli cken sicherlich sorgenvoll in die Zukunft, wenn wir diese Ent wicklungen der zunehmenden Flüchtlingsströme sehen. Na türlich gehört an dieser Stelle unser Mitgefühl den Opfern und ihren Familien. Aber es ist auch richtig, wie der Vorredner sag te: Menschen waren in der Geschichte schon immer auf der Flucht, und sie haben selten ihre Heimat freiwillig verlassen.
„Das Parlament“ titelte diese Woche sinngemäß: „Europa ei nig in der Uneinigkeit“. Deshalb will ich vorab sagen: Wann, wenn nicht jetzt, muss sich Europa mit der Frage der Migra tion vertieft befassen?
Aber hierzu gehört, dass sich in Europa nicht 20 Staaten weg ducken dürfen, sondern dass wir gerade in Europa zunächst einmal bei der Frage der Migration eine faire Lastenvertei lung brauchen.
Das ist eine der Forderungen, die, denke ich, auf Einigkeit sto ßen. Wir brauchen damit auch eine abgestimmte Politik zwi schen der EU, den Mitgliedsstaaten und den Regionen, also eine neue Gesamtstrategie.
In der Tat sind über 50 Millionen Menschen auf der Flucht – eine Zahl, die erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder er reicht wird. Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Fron tex hat sich allein vom letzten Jahr bis zu diesem Jahr bei der zentralen Mittelmeerroute die Zahl der Flüchtlinge auf über 170 000 Menschen – im letzten Jahr waren es 40 000 – ver vierfacht, und diese Entwicklung setzt sich aktuell fort. Seit Beginn der Operation „Triton“ wurden über 25 000 Men schenleben gerettet.
Deshalb glaube ich, es hilft nichts, wenn wir nur pauschale Vorwürfe an die EU richten. Wir sind der Meinung, dass die ses Thema auch für parteipolitische Spiele ungeeignet ist, mei ne Damen und Herren.
Angesichts dieser Zunahme brauchen wir – das hat auch in der letzten Woche im Bundestag Außenminister Steinmeier betont, ebenso Innenminister de Maizière beim „Rettungsgip fel“ und am Wochenende auch die Große Koalition – natür lich eine Verbesserung der Seenotrettung, aber auch eine bes sere Überwachung der Seegrenzen. Die jetzt beschlossene, vom Europäischen Rat vorgenommene Verdreifachung der Mittel für diese Missionen begrüßen wir. Ich glaube eher, dass diese Mittel sogar zu gering sind.
Sie kennen auch die Doppelproblematik der Seenotrettung. Das Problem sind doch auch die kriminellen Machenschaften der Schleuser. Den Schleusern muss das Handwerk gelegt werden, Herr Kollege.
(Beifall bei der CDU – Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE: Warum hat man die Seenotrettung ein gestellt?)
Denn das Problem ist doch: Wenn Programme kommen und die Flüchtlinge auf Schiffen nur für ein paar Kilometer unter wegs sind in der Gewissheit, dass sie jetzt gerettet werden, hat das im Grunde genommen die Schleuserbanden sogar ermu tigt und ihre Zahl erhöht. Auch dagegen müssen wir vorge hen. Wir müssen die Probleme an der Wurzel angehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE: Warum hat man die Seenotrettung eingestellt? Sagen Sie doch mal etwas dazu! – Zuruf der Abg. Beate Böhlen GRÜNE)
Die ist ja nicht eingestellt worden. Herr Kollege, informie ren Sie sich erst einmal richtig, bevor Sie solche Zwischenru fe machen.
Was Italien betrifft, ist es natürlich so: Wir haben ein EUAsylrecht, zu dem gestern die EVP-Fraktion in Brüssel zu Recht gesagt hat, wir müssen auch dort Änderungen vorneh men. Nach dem jetzigen Dublin-Abkommen dürfte ein Asyl
bewerber nach Deutschland normalerweise nur über den Luft weg kommen. Wir wissen, dass das nicht funktioniert. Inso weit hat diese Rechtslage versagt. Da sind wir uns völlig ei nig.
Deshalb ist es richtig, wenn gesagt wird, dass wir im Grunde genommen eine bessere, eine saubere Quotenregelung brau chen und dass wir natürlich auch darüber nachdenken müs sen: Wie machen wir aus einer ungesteuerten Zuwanderung eine kluge Einwanderung? Die Frage der Legalität muss na türlich gestellt werden.
Diese Woche hat der Chef des Instituts der deutschen Wirt schaft zu Recht diese Frage auch im „Handelsblatt“ gestellt. Heute haben Sie die Überschrift: „Deutschland schrumpft“. Unsere Bevölkerungszahl wird zurückgehen auf 67 Millio nen, wenn nicht 500 000 Zuwanderer im Jahr kommen. Des halb müssen wir uns die Frage stellen: Welche kluge Einwan derungspolitik betreiben wir, um diesen zukünftigen Heraus forderungen gerecht zu werden? Auch der Sachverständigen rat für Migration hat diese Frage heute in den Medien gestellt.
Aber ich will schon sagen: Wir dürfen nicht zulassen, dass Kriminelle mit der Not anderer Menschen Geschäfte machen, meine Damen und Herren.
Deshalb ist es richtig, dass man darüber nachdenkt, Migrati onsberatungszentren auch vor Ort in Afrika zu schaffen. Ges tern waren die Bischöfe bei uns in der Fraktion. Ich habe auch dort gesagt: Ich glaube, wir müssen schon darüber nachden ken, nicht nur den Fisch – in Europa – zu geben, sondern auch die Angel – vor Ort in Afrika. Das heißt Hilfe zur Selbsthilfe.
Auch Hilfe vor Ort muss im Grunde genommen eine Diskus sionsgrundlage für unsere Debatten sein. Bei einer neuen Quo tenregelung in der EU gehören natürlich Größe, Einwohner zahl, ökonomische Situation für eine gerechte Verteilung bei den zukünftigen Regeln, aber auch die Einhaltung des Euro parechts dazu.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch all den Bürgerinnen und Bürgern danken, die momentan in unserem Land mit großer Hilfsbereitschaft den Flüchtlingen helfen, die sie begleiten, die sie fördern und die ihnen damit helfen, sich zu integrie ren. Auch das ist eine große Leistung unserer Landsleute in Baden-Württemberg.
Es ist auch sehr wichtig, dass wir jungen, gut ausgebildeten Leuten in Zukunft eine Perspektive geben. Aber dazu mehr in der zweiten Runde.
Herr Präsident, liebe Kollegen und Kolleginnen! Es musste sehr viel passieren – viele Unfäl le, viele Tote, das Drama von Lampedusa und jetzt die ganz große Katastrophe –, bevor Europa bereit war, das Thema Flüchtlingspolitik ins Visier zu nehmen und zu überdenken. Vorher wurde in Europa nur über Abschottungspolitik und da rüber, wie diese zu organisieren ist, diskutiert. Daher teile ich die Meinung des Vorredners: Europa hat in dieser Hinsicht ab solut versagt.
Natürlich gab es nach jedem Unfall Betroffenheitsbekundun gen, aber es gab gleichzeitig die Diskussion, dass eine Aus weitung der Seenotrettung nur neue Anreize für Schlepper schaffe. Das haben wir gerade auch vom Kollegen gehört. Ich denke, so können wir nicht mit diesem Thema umgehen, in dem wir immer nur überlegen, was auf der einen Seite pas siert, und die andere Seite, die Seite der Flüchtlinge, nicht be trachten.
„Mare Nostrum“ hat nach Schätzungen immerhin 150 000 Menschen das Leben gerettet. Es wurde im Oktober letzten Jahres eingestellt, weil Europa nicht bereit war, das Pro gramm, das bisher von Italien finanziert worden ist, weiter zu finanzieren. Seit dieser Einstellung sind wieder Tausende von Menschen ertrunken, die noch leben könnten, wenn es statt „Triton“, des Programms zum Schutz der EU-Außengrenzen – das reicht nur über 30 Seemeilen –, ein echtes Seenotret tungsprogramm gegeben hätte.
Weil das so ist, gibt es in unserer Bevölkerung eine ganz gro ße Empörung, eine Wut. Die Menschen bei uns trauern um die vielen Flüchtlinge, die ums Leben gekommen sind. Sie zeigen mehr Empathie als viele Politikerinnen und Politiker in Brüssel, die bloß überlegen, wie man eine Abschottungs politik organisieren kann.
Sie haben am Wochenende zuhauf demonstriert unter dem Motto „Europas Grenzen töten“. Sie sind bereit, den Flücht lingen zu helfen. Ich finde, wir können auf diese Menschen in Baden-Württemberg stolz sein, die so viel Empathie für die Flüchtlinge aufbringen. Ich möchte mich auch ausdrücklich bei diesen Menschen bedanken.
Unter dem Druck der Ereignisse hat nun ein Sondergipfel stattgefunden, und man muss sich einmal anschauen, was da bei herausgekommen ist: Die Verdreifachung der Mittel für die Seenotrettung klingt richtig gut, aber – da muss ich „aber“ sagen – diese Maßnahme ist eben nicht so weitreichend wie „Mare Nostrum“, weil sie sich auf diese 30-Meilen-Zone be schränkt und nicht da wirkt, wo die Hilfe am dringendsten ge braucht wird: an der Küste Libyens, von wo aus sich im Mo ment die meisten Flüchtlinge auf den Weg über das Mittel meer machen.
Stattdessen sagt man jetzt: Man muss die Schleuserkrimina lität bekämpfen – richtig –, Schleuserschiffe versenken. Aber Sie wissen alle, dass das ein sehr, sehr fragwürdiges Unter
fangen ist. Hierzu bedarf es wahrscheinlich eines UN-Man dats. Nicht ohne Grund kommt auch die Kritik aus dem Vati kan, dass das Ganze mit dem Völkerrecht unvereinbar sei.
Die Menschen werden trotzdem kommen, wenn man nicht da für sorgt, dass es auch legale Zuwanderungsmöglichkeiten gibt.
Am Wochenende wurden in einer Zeitung Beispiele von den wenigen Menschen gebracht, die das Unglück überlebt haben. Ich will einmal ein kurzes Beispiel zitieren.
Irfan aus Pakistan: Es war zu gefährlich in Pakistan. Wir haben große Probleme – mit al Qaida und anderen Ter roristen. Es gibt Anschläge, und wenn sie dich ins Visier genommen haben, bist du nicht mehr sicher. Sie haben schon meine beiden Brüder getötet. Ich musste weg. Das einzige Visum, das ich bekommen habe, war ein libysches. Das war 2013. Aber in Libyen war es schlimmer als bei uns in Pakistan. Dort herrschte auch kein Frieden. Also habe ich beschlossen, nach Italien zu gehen.
Hätte diese Person es jetzt nicht geschafft, sie würde sich im mer wieder – weil ihr gar keine andere Möglichkeit bleibt – auf den Weg nach Europa machen.
In dieser Situation befinden sich viele Menschen, die im Mo ment in Libyen, in Nordafrika irgendwo warten. Europa ist der Rettungsanker. Deshalb ist es nötig, legale Zuwanderungs möglichkeiten zu schaffen.
Natürlich müssen wir auch die Fluchtursachen bekämpfen. Das Thema Afrika ist angesprochen worden. Natürlich müs sen wir uns um Afrika kümmern. Wir brauchen eine bessere Koordinierung zwischen den Ländern, und wir brauchen na türlich auch eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge.
Das sind Themen für die nächsten Gipfel. Aber diese Fragen werden sich nicht von heute auf morgen lösen lassen. Des halb, meine Damen und Herren, gibt es keine Alternative zu „Mare Nostrum“. Das ist auch das, was wir wieder einfordern, wofür wir uns einsetzen: eine Seenotrettung, die sich eben nicht nur auf die europäischen Küsten beschränkt, sondern im gesamten Mittelmeer tätig ist. Die Alternative zu „Mare Nos trum“ heißt erneutes Sterben – Massengrab Mittelmeer.