Protocol of the Session on April 16, 2015

Für die Landesregie rung erhält jetzt Herr Kultusminister Stoch das Wort.

(Abg. Volker Schebesta CDU: Er ist ja da!)

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich denke, es ist ein zentrales Thema, wenn wir uns hier im Haus über Bildungspolitik unterhalten – –

(Abg. Volker Schebesta CDU: Eine Entschuldigung für das Zuspätkommen wäre auch nicht schlecht!)

Ich bitte vielmals um Verzeihung, dass ich hier wenige Mi nuten zu spät eingetroffen bin, aber ich hoffe, dass Sie nach meiner Rede sagen können, dass es kein Problem war, dass ich ein wenig zu spät gekommen bin.

(Abg. Georg Wacker CDU: Sie lesen es ja nach!)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es freut mich, dass wir hier in dieser Debatte über eines der zentralen Themen in der Bildungspolitik sprechen, nämlich über die Frage des Um gangs mit Heterogenität. Die Frage des Umgangs mit Hetero genität, also mit der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen, stellt sich ja nicht nur an der Re alschule.

Sie wissen, dass sich die wachsende Heterogenität in unserer Gesellschaft auf viele Bereiche unseres Gemeinwesens aus wirkt. Deswegen ist im öffentlichen Diskurs gerade dieser Be griff ein zentraler geworden. Auch der heute hier zur Diskus sion stehende Antrag macht dies deutlich.

Ich bin der Meinung, dass es sich lohnt, hier zunächst einmal etwas genauer hinzuschauen, was es eigentlich mit dieser He terogenität auf sich hat. Denn wenn wir die Entwicklung un serer Gesellschaft unvoreingenommen und ohne Scheuklap pen analysieren, wird deutlich, welche Veränderungen not wendig oder sogar – ich betone es – unabdingbar sind, um die sen Herausforderungen gerecht werden zu können.

Die wachsende Heterogenität ist sicherlich Ausdruck und Fol ge der Entwicklungen in unserer Gesellschaft, und das Auf brechen bestimmter sozialer Milieus hat beispielsweise dazu beigetragen, die Durchlässigkeit in unserem Gemeinwesen zu erhöhen. Aufstieg durch Bildung zählt heute zur Normalität.

Auch das Thema Zuwanderung spielt in diesem Zusammen hang natürlich eine ganz erhebliche Rolle, denn es trägt auch

zur wachsenden Vielfalt bei. Der aktuelle Zustrom von Flücht lingen führt uns dies tagtäglich vor Augen.

Eine weitere Ursache ist die immer stärkere Individualisie rung in unserer Gesellschaft. Ob uns das jetzt gefällt oder nicht: Es ist ein Faktum. Das spiegelt sich in den Biografien vieler junger Menschen wider, die heute viel unterschiedli cher verlaufen, als dies beispielsweise vor gut 30 oder 40 Jah ren der Fall war. Für eine Gesellschaft – dies gilt auch jenseits des Bildungsbereichs – stellt die richtige Beantwortung die ser Fragen eine große Kraftanstrengung dar, dieser Heteroge nität gerecht zu werden. Aber ich glaube, es lohnt sich, auf die Individualität der Menschen einzugehen, um hier eine gelin gende Gesellschaft zu gestalten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Strukturen in un serer Gesellschaft wurden lange Zeit nach dem Prinzip der funktionalen Differenzierung gestaltet. Dies gilt auch für un ser Bildungssystem. Ich erkenne das an vielen bildungspoli tischen Debatten, die hier geführt werden. Aber ich glaube, in unserer modernen Gesellschaft stößt dieser Ansatz der funk tionalen Differenzierung auch immer öfter an die Grenzen sei ner Leistungsfähigkeit. Die gesellschaftliche Vielfalt findet sich eben auch und gerade in unseren Schulen wieder.

Über eine äußere Differenzierung im Sinne einer immer stär keren Gliederung in nicht nur drei, sondern vielleicht acht oder zehn oder zwölf Teile werden Sie diesem Umgang mit Heterogenität nicht gerecht werden, und schon gar nicht, wenn es in weiten Teilen auch dieses Bundeslands Baden-Württem berg schlicht und einfach zu wenige Kinder gibt, um diese Aufteilung in äußere funktionale Zusammenhänge aufrecht zuerhalten.

Wir müssen uns, wenn wir die Bildungslandschaft in BadenWürttemberg nicht erheblich schwächen wollen, von dem Ge danken der funktionalen und der äußeren Differenzierung ein Stück weit verabschieden und müssen unter Beibehaltung oder Erhöhung der Qualität versuchen, dass Kinder und Jugendli che bestmöglich gefördert werden, aber nicht mehr zwangs weise in unterschiedlich starken Leistungsgruppen, die Sie – so das Beispiel vom Kollegen Käppeler – dann auch nicht mehr ausreichend bestücken könnten.

(Zuruf des Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP)

Das gilt vor allem für den ländlichen Raum. Dort sind die Aus wirkungen der demografischen Entwicklung doch bereits seit vielen Jahren deutlich zu spüren. Sie alle nehmen doch in Ih ren Wahlkreisen wahr, dass weit vor 2011 Standorte von wei terführenden Schulen, Haupt- und Werkrealschulen, nicht mehr aufrechterhalten werden konnten, weil dort nicht mehr genügend Schüler vorhanden waren. Diese Fragen können Sie doch nicht einfach negieren.

(Zuruf des Abg. Winfried Mack CDU)

Sie müssen doch bereit sein, auch hier konstruktiv nach Ant worten zu suchen. Nur so können Sie doch Ihrer Verantwor tung für diese Gesellschaft, vor allem für die Kinder, gerecht werden, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Deswegen brauchen wir dringend neue strukturelle und päd agogische Antworten, um diesen Herausforderungen gerecht werden zu können. Niemand, der sich ernsthaft mit dieser Ma terie beschäftigt, kann doch behaupten, dass wir ohne Verän derungen auskommen, wenn unser Bildungssystem auch in Zukunft dieses hohe Niveau beibehalten will, für das BadenWürttemberg bekannt ist.

Aber dann gehen Sie doch auch einmal in eine ehrliche Ana lyse, z. B. auf der Basis der IQB-Ländervergleichsstudie des letzten Jahres zum Thema „Mathematik und Naturwissen schaften“. Neuntklässler über alle Schularten hinweg wurden auch in Baden-Württemberg geprüft. Baden-Württemberg fin det sich da noch auf Platz 9 wieder.

Darauf gab es eine ganz intelligente Bemerkung: Das sei die erste Quittung für Grün-Rot. Es tut mir leid, Herr Kollege Wa cker, ich kann es Ihnen hier nach wie vor nicht ersparen: Das war blanker Unsinn. Denn diese Schülerinnen und Schüler sind in dem gegliederten Schulsystem Baden-Württembergs groß geworden. Es hat sich deutlich gezeigt: Gut 50 % der Schülerinnen und Schüler haben in diesen Fächern Probleme, das Mindestmaß, die Mindestanforderungen zu erfüllen. Da können wir uns doch nicht ernsthaft zurücklehnen und sagen: Wir lassen alles einfach, wie es ist; es ist alles wunderbar.

(Abg. Volker Schebesta CDU: Das hat doch niemand gesagt! Das sagt doch keiner!)

Nein, wir müssen versuchen, auf diese Probleme – auch im Hinblick auf die Qualität – die richtigen Antworten zu finden.

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Kein Mensch ist ge gen Reformen! Wir sind nur gegen Ihre Reformen!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, deswegen ist eine pädagogische Weiterentwicklung des Schulsystems in BadenWürttemberg schon lange überfällig.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Angesichts der wachsenden Vielfalt – damit zurück zur Fra ge des Umgangs mit Heterogenität – müssen wir diese not wendige Differenzierung verstärkt im Klassenzimmer durch moderne pädagogische Konzeptionen durchführen.

Herr Kollege Kern, wenn Sie das Thema Differenzierung im mer auch mit dieser äußeren, funktionalen Differenzierung gleichsetzen, dann springen Sie zu kurz. Denn dann schauen Sie nicht in die pädagogische Praxis, die insbesondere ver sucht, innerhalb der Lernzusammenhänge einer Gruppe oder einer Klasse der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit von Schülern gerecht zu werden. Wir brauchen schlicht und ein fach ein Schulsystem, das weniger statisch und weniger starr gegliedert ist und mit mehr integrativen Angeboten, mit mehr individualisiertem Lernen und mehr individueller Förderung ausgestaltet ist.

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Welch ein Glück, dass mir ein Minister von der Praxis erzählt!)

Diese Zielsetzung, meine sehr geehrten Damen und Herren, unterstützen natürlich auch Erkenntnisse der modernen Bil dungs- und Erziehungswissenschaften. Hier zeigt sich, dass

diese Art von Lernen gelingen kann und den jungen Menschen einen echten pädagogischen Mehrwert bietet.

Nehmen Sie das Gutachten von Holger und Tino Bargel von 2010. Darin wurde wissenschaftlich dargelegt, dass es ange sichts der aktuellen Herausforderungen durch den Schüler zahlenrückgang und weiterer Gründe nicht gelingt, bei einer Beibehaltung der starken Ausdifferenzierung das Bildungs system in Baden-Württemberg in dieser Qualität aufrechtzu erhalten. Deswegen haben wir uns entschieden, in Richtung eines Zweisäulensystems zu gehen. Wir wollen sukzessive, mit langem Atem, aber klarem Ziel einen integrativen Bil dungsweg in der zweiten Säule etablieren, in dem die Kon zepte des individuellen Lernens und der individuellen Förde rung einen hohen Stellenwert haben.

Individualisierung heißt, dass unterschiedliche Niveaus abge bildet werden müssen und Schülerinnen und Schüler die Mög lichkeit bekommen, auch in ihrer unterschiedlichen Leistungs fähigkeit an ein und derselben Schule verschiedene Bildungs abschlüsse zu machen. Das ist die richtige Antwort auf die Herausforderungen, die wir haben.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, kommen wir zur Fra ge des Konzepts „Weiterentwicklung der Realschulen“. Ich kann Ihnen sagen, dass der Diskussionsprozess insbesondere mit der Arbeitsgemeinschaft der Realschulreaktoren und auch mit der GEW einen Zeitraum von über eineinhalb Jahren in Anspruch nahm. Darin haben wir um die richtigen Lösungen gerungen. Wir waren uns alle einig, dass es im Hinblick auf die Schülerschaft – so, wie sie sich heute an den Realschulen darstellt – die richtige Antwort ist, den Schülern dort ein An gebot zu machen, das sie zu einem Schulabschluss führt, und zwar zu einem erfolgreichen Schulabschluss.

Deswegen war es ein Vorschlag aus den Reihen der Realschu len, auch den Hauptschulabschluss an den Realschulen anzu bieten. Denn was wäre die Alternative gewesen? Was wäre der Wille derjenigen, die sich heute gegen dieses Konzept wenden? Sie müssen diesen Punkt auch ehrlich beim Namen nennen: Diejenigen wollen nämlich einen Teil der Schüler nicht an ihrer Schule haben, sie wollen diese Schüler so schnell wie möglich loswerden. Wo diese Schüler einen Ab schluss machen, ob sie einen Abschluss machen, ist diesen Lehrerinnen und Lehrern egal.

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Oi, oi, oi! – Zu ruf von der CDU: Das ist unglaublich!)

Das ist mir als Kultusminister und den Regierungsfraktionen definitiv nicht egal, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Haben Sie das jetzt gerade eben den Realschullehrern unterstellt, oder was? Das ist ja unglaublich!)

Dass wir die Schulen bei diesem Weg nicht alleinlassen, ist, glaube ich, wichtig. Diese Maßnahme können wir auch im Nachtragshaushalt erkennen. Wir haben bereits in den letzten Jahren verschiedene Maßnahmen ergriffen, damit Realschu len mit der wachsenden Begabungsvielfalt besser umgehen können – im Gegensatz zu den Vorgängerregierungen.

Herr Kollege Kern, wenn Sie gerade von der Freiheit des Schulsystems sprechen,

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Ja!)

dann sprechen Sie doch einmal mit Schulleiterinnen und Schulleitern, die vor 2011 versucht haben, innovative päda gogische Konzepte umzusetzen. Da war es mit der Freiheit in Baden-Württemberg aber definitiv nicht weit her, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Glocke des Präsidenten)

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kern?

Am Ende, bitte.

Dann ist es keine Zwischenfrage mehr.

Ich möchte die Stichworte nennen: Erweiterung der Stundentafel zur Durchführung der Kompetenzanalyse, Einführung von 2,2 Wochenstunden als Poolstunden und natürlich im neuen Kon zept auch die Aufstockung der Zahl der Poolstunden. Da hat Herr Kollege Wolf heute Morgen einen durchaus nachvoll ziehbaren Fehler gemacht.