Protocol of the Session on February 5, 2015

Für die Fraktion GRÜNE erteile ich das Wort der Kollegin Lindlohr.

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Wissen ist die wichtigste Ressource, die wir für unseren Wirtschaftsstandort haben. Baden-Würt temberg ist ein Technologiestandort. Alle Bürgerinnen und Bürger Baden-Württembergs sind hoch gefordert, dass sie ständig ihr Wissen erneuern, um mit immer mehr Weiterbil dung ihren Lebensunterhalt zu finanzieren und einen neuen Arbeitsplatz in der sich wandelnden technologischen Welt und in sich wandelnden Branchen zu finden. Deswegen brauchen wir mehr Weiterbildung in Baden-Württemberg, und dafür setzen wir uns hier heute ein.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Dabei ist das Gesetz zur Bildungszeit, das der Minister hier gerade vorgestellt hat, nicht das Einzige, was wir tun, um die Weiterbildung in Baden-Württemberg voranzubringen. Das schulden wir unserem Wirtschaftsstandort.

Der Minister hat die Allianz für Fachkräfte gegründet. Wir in vestieren in Teilzeitausbildung, wir ergreifen viele Maßnah men. Wir haben die Welcome Center, und wir bringen Wei terbildung und Bildung für alle Bevölkerungsschichten in Ba den-Württemberg voran. Wir wissen natürlich, dass an unse rem Hochtechnologiestandort in vielen Unternehmen viele wertvolle Weiterbildungsmaßnahmen laufen. Wir wissen, dass viele Beschäftigte hochgradig daran interessiert sind, ihr Wis sen zu mehren und damit ihre Beschäftigungsfähigkeit zu er höhen. Aber das reicht noch nicht aus; die Anforderungen wer den höher.

Es gibt verschiedene Arten, die Weiterbildungsbeteiligung zu messen. Wir stellen auf jeden Fall fest: Die Weiterbildungs beteiligung ist ganz stark danach verteilt, welchen ersten Bil dungsabschluss die Beschäftigten haben. Erwerbslose bilden sich leider sehr viel weniger fort als Leute in Beschäftigung. Nach dem sehr weit gefassten Weiterbildungsbegriff des Adult Education Survey nehmen von den Beschäftigten, die min destens über die Fachhochschulreife verfügen, 74 % jährlich

an einer Weiterbildungsmaßnahme teil. Bei denen ohne Schul abschluss sind es nur 51 %. Wie gesagt, das ist ein sehr wei ter Weiterbildungsbegriff. Das beinhaltet auch Maßnahmen direkt am Arbeitsplatz.

Aber diese Spanne zeigt schon: Die Schwierigkeit, in einem sich wandelnden technologischen, wirtschaftlichen Umfeld immer neue Arbeitsplätze zu finden, die man mit seiner Qua lifizierung wahrnehmen kann, wird immer stärker dadurch dif ferenziert, dass Menschen mit geringerer Erstausbildung hier schlechtere Chancen haben

(Zuruf des Abg. Dr. Patrick Rapp CDU)

und auch durch geringere Teilnahmen an Weiterbildungsmaß nahmen ihre Chancen weiter verschlechtern. Dem müssen wir entgegenwirken, und ein Teil davon ist die Bildungszeit.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Uns waren besonders drei Fragen wichtig. Das ist zum einen die Frage der Qualität. Ja, es stimmt, die Freistellung der Mit arbeiter ist durch die Lohnfortzahlung mit Kosten für die Ar beitgeber verbunden. Das ist nicht wenig; das wissen wir.

(Zuruf des Abg. Dr. Patrick Rapp CDU)

Darum haben wir uns viele Gedanken darüber gemacht, wel che Qualität der Weiterbildung dies rechtfertigt. Darum fin den Sie in diesem Gesetz einen Ausschlusskatalog, was nicht unter Weiterbildung nach unserem Bildungszeitgesetz fällt. Und Sie finden die Zertifizierung, die dazu beiträgt, dass nur gute Anbieter Bildungszeit anbieten können.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die be rufliche Bildung steht im Vordergrund – dies hat Minister Schmid hier heute ausgeführt. Aber berufliche Bildung und Training on the Job sind nicht das Gleiche; das ist nicht das, wofür wir hier stehen. Es ist alles richtig und wichtig, was in den Betrieben funktioniert. Aber bei einer reinen Anpassungs qualifizierung kann es sein, dass das für unseren Wirtschafts standort nicht ausreicht.

(Beifall bei den Grünen)

Wir müssen auch an die Beschäftigten denken, bei denen sich die ganze Branche auflöst. Deswegen bietet dieses Gesetz auch einen Anreiz dafür, dass sich Menschen weiterbilden für Bereiche, die nicht direkt mit ihrer jetzigen Tätigkeit verbun den sind. Nehmen Sie die Unterhaltungselektronik. Fernseh geräte werden in Deutschland, in Europa praktisch nicht mehr hergestellt. In Esslingen ist Panasonic zusammengebrochen, Sie kennen andere Beispiele hier aus der Region. Da kamen auf einen Schlag ganz viele Menschen auf den Arbeitsmarkt, die für ihre Tätigkeit an der Maschine, die bei ihnen im Be trieb stand, qualifiziert waren, aber in ganz Europa wurden diese Maschinen und damit auch die rein tätigkeitsspezifi schen Qualifizierungen einfach nicht mehr gebraucht.

Deswegen ist es wichtig – dazu stehen wir –, dass berufliche Bildung hier auch heißt: berufliche Bildung für Tätigkeiten, die auch in einer anderen Branche, in einem anderen Job wirk sam werden können.

(Abg. Claus Paal CDU: Das sind Umschulungsmaß nahmen!)

Es ist richtig, dass die Bildungszeit das hier ermöglicht.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD – Zuruf des Abg. Andreas Deuschle CDU)

Wichtig war uns auch die Klausel für Kleinunternehmen. Das heißt nicht, dass Beschäftigte in Kleinunternehmen nicht der Weiterbildung bedürften. Aber wir müssen anerkennen, dass für Kleinunternehmen die Planbarkeit ihres Personaleinsatzes schon eine sehr große Rolle spielt. Es macht einen Unter schied, ob ich mit 1 000 Beschäftigten agiere und jemand ei ne Bildungszeit anmeldet, die ich als Arbeitgeber einplanen muss, oder ob ich in einem sehr kleinen Betrieb bin. Deswe gen haben wir das hier vereinbart. Der Minister hat es ausge führt: Das ist eine sehr gute Abwägung, die wir getroffen ha ben; zu dieser stehen wir.

Der wichtigste Punkt ist für uns die Sozialpartnerschaft. Des wegen haben wir in unserem Gesetz auch die Möglichkeit vor gesehen, solche Weiterbildungsvereinbarungen, die in einem Arbeitsvertrag, in einem Branchentarifvertrag, in einem Haus tarifvertrag hinterlegt sind, auf die Bildungszeit anzurechnen. Das ist das Tor dafür, dass sich die Sozialpartner zusammen setzen, dass Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerinnen und Ar beitnehmer dies für ihre Branche, für ihren Betrieb zum An lass nehmen. Dadurch können die Arbeitgeber Einfluss auf die Bildungszeitwünsche der Beschäftigten nehmen, kann man sich zusammensetzen und Weiterbildungsvereinbarungen tref fen, die die ganze Belegschaft umfassen, die auch an Un- und Angelernte adressiert sind und die zu einem Weiterbildungs aufbruch für Baden-Württemberg für die Branche führen. Das ist das große Signal, das von diesem Gesetz und von dieser Anrechnungsklausel ausgeht.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Zum Schluss möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie sehen können, dass das schon wirkt. Im Moment laufen die Tarifge spräche in der Metallindustrie in Baden-Württemberg. Dort gibt es zwar einen Qualifizierungstarifvertrag, aber dieser sieht bisher keinen individuellen Weiterbildungsanspruch vor, und dies bereits seit 2001.

Heute ist ein großes Doppelinterview von Südwestmetall-Chef Stefan Wolf und dem Bezirksleiter der IG Metall Baden-Würt temberg, Roman Zitzelsberger, in den „Stuttgarter Nachrich ten“ veröffentlicht. Sie haben gelesen, wie sich die Tarifpart ner dort aufeinander zubewegen. Mit dem Argument der Bil dungszeit im Rücken fordert die IG Metall eine Bildungsteil zeit. Stefan Wolf sagt heute gegenüber der IG Metall in den „Stuttgarter Nachrichten“ zu neuen Details: „Das höre ich mit Wohlwollen.“

Die Sozialpartner bewegen sich aufeinander zu. Sie nutzen die Gelegenheit, hier die Weiterbildung voranzubringen. Das nützt unserem Wirtschaftsstandort und den Beschäftigten in unserem Land.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Storz.

Herr Präsident, liebe Kollegin nen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis darf ich aus unserer Lan desverfassung zitieren. Dort lesen wir in Artikel 1:

Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemein schaft seine Gaben in Freiheit... zu seinem und der an deren Wohl zu entfalten.

Der Staat hat die Aufgabe, den Menschen hierbei zu die nen.

Meiner Einschätzung nach beschreibt der erste Artikel unse rer Landesverfassung sehr gut, warum Baden-Württemberg eines Bildungszeitgesetzes bedarf.

(Zuruf des Abg. Claus Paal CDU)

Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der sich jede und jeder einbringen kann, zu seinem und der anderen Wohl ent falten kann. Gerade uns Landtagsabgeordneten sollte die För derung des gesellschaftlichen Engagements der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land eine Herzensangelegenheit sein.

(Beifall des Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD)

Ja, Baden-Württemberg wäre ein kulturell und gesellschaft lich armes Land, wäre da nicht das bürgerschaftliche Engage ment in den Gemeinderäten, in der Feuerwehr, in der Jugend, in der Altenpflege, im Sport oder ganz aktuell auch bei den Flüchtlingsunterkünften. Ich will von dieser Stelle aus für die ses Engagement ganz herzlich Danke sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen)

Kollege Paal, ich teile Ihre Einschätzung zum Ehrenamt nicht. Ich sehe das Ehrenamt in den Gemeinden gefährdet. Reden Sie mal mit einem Feuerwehrkommandanten, oder reden Sie mal mit mir! Ich bin bei uns erster Vorsitzender des StadtTurnvereins, und ich kann Ihnen erzählen, wie schwierig es ist, jemanden als Übungsleiter zu finden. Denn jeder, der Übungsleiter werden will, muss eine Woche Urlaub nehmen, um den Übungsleiterschein in Steinbach zu machen.

(Abg. Claus Paal CDU: Ich mache mit der Feuerwehr freiwillig Projekte!)

Ein junger Familienvater tut sich das mit Rücksicht auf die Familie nicht an.

Unsere Gesellschaft verändert sich und verlangt deshalb auch von uns Veränderungen:

(Zuruf von der CDU: Ganz genau!)

technische Neuerungen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen. Wir müssen uns ständig neu orientieren. Wir müssen persönlich, aber auch gesellschaftlich eine Ant wort auf neue Fragen finden. „Non scholae, sed vitae disci mus“, so haben wir es in der Schule gelernt. Aber das gilt nicht nur für die Schule, sondern ein Leben lang.

Mit dem Bildungszeitgesetz geben wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jetzt die Chance, dem Anspruch nachzu kommen und sich während der Arbeitszeit unter Lohnfortzah lung an bis zu fünf Tagen beruflich, politisch oder ehrenamt

lich weiterzubilden. Deswegen ist die Bildungszeit gut für die Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg und gut für unser Land.

Auch wirtschaftlich ist die Einführung des Bildungszeitgeset zes zu befürworten. Erst letzte Woche unterhielt ich mich mit einem Unternehmer, der große Hoffnung auf die Einführung des Bildungszeitgesetzes setzt. Warum? Ganz einfach: Wenn das gesellschaftliche und kulturelle Engagement eine Aufwer tung erfährt, werden sich auch mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im gesellschaftlichen und kulturellen Leben ihrer Gemeinde einbringen. Insbesondere für die Unternehmen im ländlichen Raum ist das ein wichtiger Standortfaktor. Denn Kommunen, in denen es ein funktionierendes Vereinsleben gibt – wo man merkt: hier ist eine lebendige Gemeinschaft, in der man sich wohlfühlen kann –, sind attraktiv für Arbeitneh merinnen und Arbeitnehmer und auch für Arbeitgeber. Mit dem Bildungszeitgesetz unterstützen wir daher insbesondere Unternehmen im ländlichen Raum bei der Gewinnung und Bindung von Fachkräften.

Außerdem darf nicht vergessen werden: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich beruflich und politisch weiterqua lifizieren, sich ehrenamtlich engagieren, sind in der Regel auch motivierte Mitarbeiter. Von ihnen kann ein Unternehmen nie zu viele haben.

Mit dem Bildungszeitgesetz investiert das Land daher auch in den Erhalt und die Erhöhung der Beschäftigung im Land.

Ich bin mir sicher, dass wir mit dem Bildungszeitgesetz auch die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes insgesamt steigern werden. Voraussetzung hierfür wird sein, dass wir aktiv bei Arbeitgebern, aber auch bei Arbeitnehmern für das Bildungs zeitgesetz werben.