Protocol of the Session on June 4, 2014

Zwischen 2002 und 2010, also in einem Zeitraum von acht Jahren, wurden durch die frühere Landesregierung 1 115 öf fentliche Ganztagsschulen bei Einbeziehung von 1 800 Un terrichtsdeputaten, die seitens des Landes hierfür verlässlich vorgesehen waren, bewilligt. Sie, Herr Minister, sehen in Ih rer Planung, in Ihrem Konzept 1 920 Deputate für den Aus bau der Ganztagsgrundschulen vor. So groß ist der Unter schied, was die Ressourcenausstattung betrifft, also nicht.

Wir erwarten natürlich nicht, dass Sie die frühere Landesre gierung für den Kraftakt in den vergangenen Jahren loben. Aber Sie können zumindest die Ganztagsschulen würdigen, die eine wichtige pädagogische Arbeit geleistet haben. Diese pädagogischen Erfahrungen aufgrund der Tätigkeit der frühe ren Landesregierung in diesem Bereich nutzen Ihnen und al len anderen Beteiligten in Baden-Württemberg jetzt natürlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Der Bedarf hat sich geändert. Es gibt einen höheren Bedarf für den Ausbau von Ganztagsschulen. Aber das Wahlverhal ten der Eltern hat sich ebenfalls geändert. Deswegen möchte ich auf das Ergebnis einer forsa-Umfrage vom April 2013 ver weisen. Diese Umfrage wurde von der Zeitschrift „Eltern“ in Auftrag gegeben. Danach haben sich 87 % der befragten El tern für ein flächendeckendes Ganztagsschulangebot ausge sprochen. Sie haben sich gleichzeitig aber auch für ein frei williges Angebot ausgesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP)

Darüber hinaus gibt es eine Studie der Bundesagentur für Ar beit, aus der hervorgeht, dass 84 % der berufstätigen Eltern von Grundschulkindern einen Teilzeitjob wahrnehmen. Das belegt doch, meine Damen und Herren, dass sich die meisten Eltern ein möglichst flexibles Angebot vor Ort wünschen. Die ses Ganztagskonzept muss auch den unterschiedlichen Le bensentwürfen Rechnung tragen.

Deswegen fragen wir Sie, Herr Minister – wir haben in die sem Gesetzgebungsverfahren auch Gelegenheit, diese wich tigen Fragen zu vertiefen –: Werden Sie dem in Ihrem Gesetz entwurf gerecht? Auf den ersten Blick scheint es so zu sein. Zum einen sehen Sie das gebundene Konzept vor, und dann sprechen Sie von der Wahlform.

Wenn sich ein Schulträger und eine Schulkonferenz für die Wahlform entscheiden, lautet die konkrete Frage: Ist dies für die Eltern tatsächlich freiwillig, oder müssen sie sich, wenn sie sich dafür entscheiden, gleichzeitig verpflichten, das An gebot der Wahlform wahrzunehmen? Die entscheidende Fra ge ist, ob Sie versuchen, über die Hintertür eine verpflichten de Ganztagsschule für alle einzuführen.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: So ist es!)

Auf diese entscheidende Frage weisen wir hin.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Deswegen fragen wir auch: Warum setzen Sie die freiwilligen Horte und die frühere Kernzeitbetreuung bzw. die verlässli che Grundschule im Grunde nicht fort? Denn sie würden die se flexiblen Angebote, die von den Eltern so sehr nachgefragt werden, genauso ermöglichen.

Gerade heute steht bezogen auf einen Antrag, den die Stadt Weinheim im Rhein-Neckar-Kreis stellen wird, ein interes santer Artikel in den „Weinheimer Nachrichten“. Ich sehe den Kollegen Kleinböck hier. In dem Artikel geht es um die Fra ge der Einrichtung einer Ganztagsschule. Überschrift: „Wech sel des Schulbezirks keine Option“. Die Eltern haben einen offenen Brief an den Oberbürgermeister geschrieben. Darin geht es genau um die Frage der flexiblen Betreuung. Die Stadt Weinheim hat die Auskunft erteilt: Das wird zukünftig seitens des Landes nicht mehr finanziert; also können wir das im Grunde auch nicht mehr unterhalten.

In diesem offenen Brief steht – ich darf zitieren –:

Der wesentlichste Schwachpunkt ist aus Sicht der Eltern die fehlende Betreuung vor Schulbeginn.

Weiter heißt es in dem Brief:

Dieser Zeitraum reicht noch nicht einmal für eine Halb tagstätigkeit aus, sofern noch eine durchschnittliche Fahrtzeit zur Arbeitsstelle hinzukommt und der Partner die morgendliche Fehlzeit nicht überbrücken kann.

Die Eltern mahnen eine hohe Flexibilität an. Deswegen set zen wir darauf, dass flexible Angebote für die Eltern gleicher maßen ermöglicht werden. Das ist eine zwingende Vorausset zung, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter vo ranzubringen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Ich möchte in diese sachliche, konstruktive Debatte noch fol genden Aspekt einbeziehen. Gehen wir von dem typischen Beispiel einer zweizügigen Grundschule aus, einer Grund schule, die eine verbindliche Ganztagsschule einrichten will: Wohin gehen dann die Kinder, die eben nicht in eine Ganz tagsschule gehen wollen? Jetzt bieten Sie ihnen an, dass sie die Schule wechseln können. Was aber ist, wenn es keine wei tere Grundschule in diesem Ort gibt? Es handelt sich beim Thema Grundschulen um die besonders Schutzbefohlenen in unserer Gesellschaft. Hat das Prinzip „Kurze Beine, kurze We ge“ in diesem Gesetzentwurf überhaupt eine Verankerung? Man muss sich doch die Frage stellen: Wollen wir den Erst klässlern, den Zweitklässlern zumuten, dass sie aus ihrem ei genen sozialen Umfeld, aus ihrem eigenen Freundeskreis he rausgenommen werden, nur weil sie nicht in eine Ganztags schule gehen wollen,

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: So ist es!)

und möglicherweise mit einem Taxi oder einem Kleinbus in eine Nachbargemeinde gefahren werden? Das hat mit einer Flexibilisierung in diesem Bereich überhaupt nichts zu tun. Auch diese kritische Frage werden wir aufwerfen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Als Letztes in der ersten Runde das Thema Planungssicher heit: Welche Planungssicherheit gewähren Sie? Wie viele Res sourcen sind Sie jedes Jahr bereit einzusetzen? Der Kultusmi nister hat in jeder Debatte immer wieder nach dem Bund ge rufen, aber offensichtlich hat sich die SPD in Baden-Würt temberg gegenüber dem Bund weitgehend nicht durchsetzen können. Sie bekommen nicht besonders viel Geld, um in die sen Bereich zu investieren, zumal es auch eine originäre Lan desaufgabe ist.

(Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Ihr habt doch über haupt nichts unternommen! Wo war Ihre Unterstüt zung, damit mehr Geld nach Baden-Württemberg kommt?)

Das ist eine Landesaufgabe, Herr Kollege.

(Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Früher ist ja gar nichts gelaufen!)

Die Antragsteller wollen wissen, wie viele Ganztagsschulen jedes Jahr genehmigt werden. Die Antragsteller wollen wis sen, nach welchen fachlichen Kriterien Ganztagsschulen ge nehmigt werden.

(Zurufe der Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD und Jörg Fritz GRÜNE)

Soll etwa das Windhundverfahren etabliert werden?

(Zuruf des Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD)

Deshalb war es ein großer Fehler, dieses Thema – wer schreit, hat Unrecht, lieber Kollege Fulst-Blei – „Ausbau der Ganz tagsschule“ nicht in die regionale Schulentwicklungsplanung aufzunehmen. Denn eine Planungsverlässlichkeit gehört eben so dazu, übrigens auch eine Perspektive für die weiterführen

den Schularten, sich zu Ganztagsschulen zu entwickeln, und nicht nur für die privilegierte Gemeinschaftsschule.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Genau!)

Für die Fraktion GRÜ NE erteile ich Frau Abg. Boser das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ja, dass wir hier im Haus grundsätzlich Einigkeit darüber haben, dass der Ausbau der Ganztagsgrundschulen in Baden-Württemberg ein notwendiger Schritt ist, den wir in gewisser Weise auch ge meinsam gehen können. Aber man sieht schon an der Einfüh rung von Ihnen, Herr Wacker, dass es grundsätzliche Unter schiede hinsichtlich der Hintergründe gibt, weshalb wir in Ba den-Württemberg Ganztagsgrundschulen einführen wollen und warum dieser Schritt so notwendig ist.

Sie haben zum einen davon gesprochen, dass es keine verläss liche Planung für die Kommunen in der Frage gibt, wer die Ganztagsschulen in welcher Weise einführen soll. Ich erinne re dazu nur an die Debatte, die wir heute Morgen geführt ha ben. Ihre Fraktion hat darin gefordert, dass wir in diesem Jahr eine Nullneuverschuldung erreichen. Wir wollen den Haus halt auch beim Thema Bildung im Blick behalten, aber wir wollen investieren. Daher ist es der richtige Weg, zu sagen: Wir wollen die Ganztagsgrundschule mit einem guten päda gogischen Konzept, aber mit Blick auf einen Haushalt, der am Ende auch nachhaltig gestaltet werden kann.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Deshalb ist es richtig, zu sagen: Wir gehen im Ganztagsschul bereich bei den Grundschulen voran. Denn wir wollen zum einen, wie Sie es beschrieben haben, den Bedürfnissen der Fa milien entgegenkommen; wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken. Zum anderen wollen wir aber auch das Thema Bildungsgerechtigkeit aufgreifen. Wenn wir beim Thema Bildungsgerechtigkeit sind, sage ich: Sie brauchen nur die StEG-Studie aus dem Jahr 2013 heranzuziehen. Diese be legt klar, dass ein gutes, rhythmisiertes Ganztagsangebot er forderlich ist, damit die Ganztagsgrundschule so ausgestaltet ist, dass sie auch dem Thema Bildungsgerechtigkeit gerecht wird.

Deshalb ist es aus unserer Sicht notwendig, zu sagen: Päda gogische Konzepte müssen eine Grundlage darstellen, um am Ende erfolgreich zu sein und um auch die Akzeptanz in der Fläche zu stärken. Sie haben gesagt, dies führe zu einer schwierigen Situation für die Eltern, die ihre Kinder nicht auf eine Ganztagsgrundschule schicken wollen. Wir haben aber doch momentan eine ganz andere Situation: Eltern entschei den sich bewusst für solche Modelle, für Schulen, in denen es gute Ganztagsschulangebote gibt und in denen eine Rhythmi sierung und ein gutes pädagogisches Konzept vorhanden sind. Nur diese Konzepte werden am Ende in der Fläche überzeu gen und werden die Eltern davon überzeugen, ihre Kinder dort anzumelden.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Kann das auch ein offenes Angebot sein?)

Wir haben immer davon gesprochen, dass wir die bestehen den Bereiche im Ganztagsschulbereich, was die Kernzeitbe treuung oder die Hortbetreuung anlangt, auch in Zukunft bei behalten wollen. Aber man muss schon sagen, dass genau die se Bereiche keine große Nachfrage genießen. Vergleichen Sie einmal Ganztagsgrundschulen, die ein gutes pädagogisches Konzept anbieten, mit denen, die ein sehr unflexibles Betreu ungskonzept für die Kernzeitbetreuung anbieten: Sie werden dabei feststellen, dass Eltern sehr viel häufiger den gebunde nen oder den offenen Ganztagsbereich wählen als die Kern zeitbetreuung. Denn welche Möglichkeiten haben denn die Betreuerinnen in der Kernzeitbetreuung oder in einer Hortbe treuung? Da müssen sie so flexibel sein, dass oftmals keine andere Möglichkeit besteht, als eine Hausaufgabenbetreuung oder eine Betreuung im Klassenzimmer anzubieten, dass aber nicht in großem Maß außerschulische Partner eingebunden werden können, weil der Charakter der Betreuung als flexib les Angebot dem ein Stück weit entgegensteht.

Wir wollen – ich bin dem Minister sehr dankbar dafür, dass es gelungen ist, mit dem Landessportverband und 44 anderen Vereinen und Verbänden diese Rahmenvereinbarungen zu schaffen – außerschulische Partner in den Ganztagsbereich in tegrieren. Wir wollen da ein flexibles Angebot schaffen. Es ist auch wichtig, diese Angebote einzubeziehen, um die Akzep tanz vor Ort zu stärken. Wir haben in Baden-Württemberg ei ne starke Vereinsstruktur. Diese Vereinsstruktur wollen wir er halten. Nun bietet sich die Chance, den Vereinen auch neue Gruppen zu erschließen. Heutzutage gibt es viele Kinder und Jugendliche, die keine Möglichkeit haben, Vereinsarbeit oder Musik zu erleben. Diese Kinder und Jugendlichen haben zu künftig in einer Ganztagsschule die Möglichkeit, Vereine ken nenzulernen.

Das sind Punkte, die wichtig sind, und das kann nur dann ein geführt werden, wenn das Ganztagsschulangebot auch eine Rhythmisierung aufweist, wenn eine Ganztagsschule damit umgeht, dass auch außerschulische Partner beteiligt sind. Da gibt es für ganz flexible Lösungen, wie Sie sie beschrieben haben, hohe Hürden. Deshalb bin ich froh, dass wir in einer solchen Form in das Ganztagsschulgesetz hineingehen, dass wir zum einen Möglichkeiten vor Ort bieten, die darauf abge stimmt sind, was Eltern wollen, zum anderen aber auch Rah menbedingungen auf den Weg bringen, die eine Qualität vo raussetzen. Denn nur Qualität wird am Ende auch überzeu gen.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Ich möchte noch einmal auf das Thema Bildungsgerechtig keit zurückkommen, das für uns bei der Bildungspolitik der grün-roten Landesregierung immer ein wichtiges Thema war. Wir brauchen ein Angebot, das Kindern und Jugendlichen auch dann, wenn sie aus sozial schwierigen Strukturen, aus bildungsfernen Haushalten kommen, ermöglicht, Bildung zu erleben. Kinder und Jugendliche müssen unabhängig davon, ob sie zwischen Bücherregalen und Klavier aufwachsen oder nicht, so weit wie möglich die gleichen Chancen bekommen. Dafür bietet die Ganztagsgrundschule vor Ort eine gute Vor aussetzung, wenn man sie gut ausgestaltet.

Damit gehen wir den nächsten Schritt. Mit all den anderen In vestitionen, die wir in den vergangenen drei Jahren auf den

Weg gebracht haben – Ausbau der Kleinkindbetreuung, Sozi alarbeiter in den Schulen, Investitionen in die Poolstunden, Erhöhung der Bildungsausgaben in Baden-Württemberg um 18 % pro Schüler in diesen drei Jahren –, sind wir auf einem guten Weg. Die Ganztagsgrundschule ist der nächste wichti ge Schritt auf dem Weg der Umsetzung des Koalitionsver trags. Deshalb sind wir, denke ich, auf einem guten Weg, grünrote Bildungspolitik umzusetzen.

Ich bin sehr froh, dass dies gemeinsam mit den kommunalen Landesverbänden geschafft worden ist und die kommunalen Landesverbände hier an unserer Seite stehen und uns unter stützen und sagen: „Wir wollen die Ganztagsgrundschule in Baden-Württemberg gemeinsam gestalten.“ Das ist, denke ich, ein Erfolg der grün-roten Landesregierung. Darauf kön nen wir jetzt hervorragend aufbauen.

Zum Abschluss möchte ich noch das Thema „Schulleiterbe setzungsverfahren und Drittelparität“ aufgreifen. Es ist ein wichtiger Schritt, dass wir die Drittelparität in den Schulkon ferenzen stärken, dass wir den Schülerinnen und Schülern so wie den Eltern die gleichen Rechte einräumen wie den Leh rern. Denn alle sind Beteiligte am Schulleben. Alle sind Be teiligte, die die Schulen mitgestalten sollen. Ich verstehe da her die Bedenken der Lehrer und des Philologenverbands, die derzeit geäußert werden, nicht, dass hier über die Köpfe der Lehrer hinweg beschlossen werden solle. Ich glaube vielmehr: Das ist ein wichtiges Gremium, das eben auch gemeinsam Schule gestalten kann. Schule soll mehr sein als ein Lernort. Sie soll auch ein Lebensort sein, und dazu gehört, dass alle mit einbezogen werden. Das schaffen wir mit der Drittelpari tät. Ich bin stolz darauf, dass wir das schaffen.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Warten wir einmal ab!)