Protocol of the Session on July 27, 2006

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem hat Frau Rastätter sicherlich Recht: Jede Reform und jeder Umbau, der diesen Namen verdient, erfordert zunächst einmal eine schonungslose Betrachtung der Wirklichkeit. Diese Betrachtung muss ungeschminkt ausfallen. Da darf man nichts beschönigen. Da braucht man auch eine Sensibilität für alle Betroffenen, für die Schülerinnen und Schüler genauso wie für die Lehrerinnen und Lehrer.

Ich möchte meine – wie ich meine, schonungslose – Analyse der Situation der Hauptschule in fünf Kernsätzen zusammenfassen.

Erstens: Die Hauptschule – das wurde schon gesagt – hat nach wie vor ein negatives Image. Die Gründe sind uns allen hier bekannt. Da geht einfach niemand so richtig freiwillig hin, und die Einzigen, die strikt an der Hauptschule festhalten, sind gerade die, deren Kinder diese Schule nie besuchen werden.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Ute Vogt SPD: Ja! – Abg. Dr. Stefan Scheffold CDU: Wo nehmen Sie diese Behauptung her? – Zuruf des Abg. Dr. Klaus Schüle CDU)

Ich sehe möglicherweise Hauptschülerinnen und Hauptschüler da oben auf der Zuhörertribüne, und ich habe ein bisschen Bammel, den folgenden Satz zu formulieren, und trotzdem ist es so, ob wir das wollen oder nicht: Die Hauptschule ist so etwas wie eine Restschule. Deswegen müssen wir weg von diesem Negativimage – im Interesse auch der Schülerinnen und Schüler.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Indem wir es im- mer wiederholen?)

Ich komme schon noch zu meinen Vorschlägen.

Zweitens: Die Hauptschule schafft für immer weniger die berufliche Integration. Diese Aufgabe der beruflichen Integration wird dann auf die Berufsschule verlagert, auf das BVJ, und daraus ergeben sich nicht wirklich echte Zukunftsperspektiven. Die Raten der Übergänge vom BVJ in den Ausbildungssektor sind katastrophal; sie liegen unter 20 %. Auch diese Warteschleife ist nicht effizient.

(Beifall der Abg. Marianne Wonnay SPD – Lachen bei Abgeordneten der CDU und der FDP/DVP – Abg. Ursula Haußmann SPD: Das ist eigentlich kein Grund zum Lachen! – Abg. Thomas Blenke CDU: Verdienter Applaus!)

Sie experimentieren nun mit dem Modell Berufseinstiegsjahr und anderen Modellen. Diese sind wissenschaftlich gut vorrecherchiert, und sie zeigen vor allem eines: dass man mit einer konsequenten, durchdachten und durchgehenden individuellen Förderung enorme Erfolge erreichen kann.

(Abg. Volker Schebesta CDU: Dazu braucht man eine andere Schulstruktur!)

Aber davon hört man kein Wort in Ihren Reformüberlegungen zur Hauptschule. Genau das müsste in Wirklichkeit geschehen: individuelle Förderung als Strukturmerkmal der Hauptschule und aller Schulzüge konsequent zu realisieren.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Die Grundphilosophie, meine Damen und Herren, müsste sein, die Ausbildungsreife innerhalb der Schulzeit zu erreichen und nicht erst nach teuren, nachgelagerten berufsvorbereitenden Maßnahmen.

Drittens: Der Hauptschule gehen die Schüler aus. Darüber wurde einiges gesagt. Ich brauche das nicht zu wiederholen.

Viertens: Den Hauptschulen fehlen nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Lehrerinnen und vor allem die Lehrer. Es gibt so gut wie keine Studierenden mit dem Stufenschwerpunkt Hauptschule, und die wenigen sind fast ausschließlich Frauen. Der aktuelle Bedarf wird durch die gegenwärtigen Studentenzahlen auch nicht annähernd gedeckt. Möglicherweise wäre hier die Einführung eines Sekundarlehrers der richtige Weg. Ich jedenfalls kann niemandem vernünftig erklären, warum er auf das Hauptschullehramt studieren soll, wenn ihn bei geringerer Bezahlung die mit Abstand schwierigste Schülerschaft erwartet.

Nun haben Sie das auch erkannt und spielen ein bisschen an der Gehaltsschraube, wie man das dem „Pressespiegel“ entnehmen kann. Aber auch das verbessert die Situation an den Schulen nicht wirklich. Es geht um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Wenn die gesamten Arbeitsbedingungen sich nicht wirklich grundlegend verbessern und verbessern lassen und die strukturellen Defizite nicht beseitigt werden, dann ist dieser Vorschlag nicht mehr und nicht weniger als die Ankündigung von Schmerzensgeld.

Die Hauptschule – das ist meine fünfte These – ist die innovativste Schulart; auch darüber wurde schon gesprochen. Sie ist dies fast gezwungenermaßen, denn keine andere Schulart spürt den Druck zur Veränderung so stark wie die Hauptschule.

Aber, meine Damen und Herren: Alle gut gemeinten, alle – ich meine es wirklich ehrlich –

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Nur dieses Mal?)

wirklich guten Konzepte, alle guten Reformbemühungen haben die Kernprobleme in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht beseitigt. Alle Versuche, alle Modelle, alle Teilkonzepte haben die Negativentwicklungen nicht verhindert. Es gibt Personen, die von einer Krise der Hauptschule reden. Es gibt Personen, die sagen, die Hauptschule befinde sich im freien Fall. Zum Beispiel sagt die Bildungsreferentin des Baden-Württembergischen Handwerkstags, die Hauptschule würde sich nur dadurch von anderen Schularten unterscheiden, dass man dort von allem ein bisschen weniger lernen würde. Das darf nicht sein.

Diese Situation, meine Damen und Herren, verändern wir auch nicht durch neue Modelle, nicht durch ein Pilotprojekt hier oder einen Modellversuch dort, und zwar deswegen nicht, weil die Probleme der Hauptschule, die sich in den letzten Jahren angestaut haben, mit dem dreigliedrigen Schulsystem zusammenhängen. Dieses gegliederte Schulsystem passt einfach nicht mehr in unsere Zeit, und das sage nicht nur ich. Es passt nicht zu einem wirklich modernen Begabungsbegriff.

Deswegen kann es nicht angehen, dass Sie beim Umbau der Hauptschule ausschließlich mit der Reform von Warteschleifen operieren. Vielmehr brauchen wir einen Systemwechsel in dreierlei Richtung: pädagogisch in Richtung konsequenter individueller Förderung, strukturell in Richtung der Zusammenführung von Haupt- und Realschulen – darauf gehe ich in der zweiten Runde noch näher ein – und gedanklich, indem wir wirklich Ernst machen mit dem Slogan, den wir hoffentlich alle unterschreiben: Keiner darf im Schulsystem verloren gehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Dr. Arnold.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ich lasse auf die Hauptschule nichts kommen. Ich weise das entschieden zurück, was wir eben von der Opposition gehört haben – von wegen „Zwangseinweisung“ und „nicht freiwillig hingehen“.

(Abg. Norbert Zeller SPD: Waren Sie schon einmal dort?)

Ich habe als Elternvertreterin über Jahre für die Hauptschule gearbeitet, als Gesamtelternbeiratsvorsitzende hatte ich sehr viel Kontakt mit Schulleitungen, mit Eltern und mit Schülern.

(Abg. Dr. Nils Schmid SPD: Gesamtelternbeirats- vorsitzende! – Zurufe von der SPD: Hört, hört!)

Ich muss Ihnen sagen: Ich habe in den betreffenden Hauptschulklassen, vor allem in den Abschlussklassen, junge Menschen kennen gelernt, die schon sehr viel erwachsener waren und schon sehr viel mehr darüber wussten, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen, als mancher gymnasiale Nesthocker, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU)

Sie tun der Hauptschule bestimmt keinen Gefallen, wenn Sie sie bei jeder Gelegenheit öffentlich so schlechtreden.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Abg. Reinhold Gall SPD: Die reden doch wir nicht schlecht, um Gottes willen! Fragen Sie einmal die Wirtschaft, was die dazu sagt!)

Meine Damen und Herren, auch wir beschäftigen uns schon lange mit der Situation in der Hauptschule. Wir haben schon im Jahr 2002 eine diesbezügliche Große Anfrage eingebracht und im Schulausschuss behandelt, und wir sehen genauso wie Sie die strukturellen Probleme, die hier auf dem Tisch liegen und die in Zukunft ganz verstärkt auf uns zukommen werden.

(Abg. Reinhold Gall SPD: Was soll denn das?)

Der Rückgang wurde schon geschildert. Wir schließen uns den Aussagen an. Vor allem bedrückt uns, dass sich der Rückgang gerade in den Gebieten, in denen wir schon jetzt kleine einzügige Hauptschulen haben, mehr und mehr verstärkt. Das bedrückt uns auch sehr.

(Zuruf des Abg. Wolfgang Drexler SPD)

Sie haben es auch schon angesprochen: Im ersten Moment sieht es so aus, als wären kleine Klassen natürlich angenehm, weil man meint, man könnte dann individueller auf die Schüler eingehen. Aber wir wissen: Sie können bestimmte pädagogische Konzepte eben nicht in kleinen Klassen verwirklichen, Arbeitsgemeinschaften müssten wegfallen, Förderkurse müssten wegfallen. Das gesamte pädagogische Konzept und Angebot dieser kleinen Hauptschulen würde also sehr darunter leiden. Deshalb müssen wir hier reagieren; das ist gar keine Frage.

(Unruhe bei der SPD)

Wir wollen es aber anders machen als Sie, meine Damen und Herren von der Opposition. Wir wollen keine neue allgemeine Regelschule als Konzept von oben überstülpen. Wir wollen grundsätzlich am gegliederten Schulsystem festhalten, weil es sich in Baden-Württemberg sehr bewährt hat und weil wir auch für die Hauptschule unser Prinzip „Kein Abschluss ohne Anschluss“ verwirklicht haben.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU)

Auch Hauptschüler haben über die Werkrealschule heute die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Sie können sogar die Fachhochschulreife erlangen. Das ist für uns auch ein ganz wichtiges Projekt, welches vor Jahren auf den Weg gebracht wurde und sehr erfolgreich ist. Denn viele Haupt

schüler machen von dieser Möglichkeit Gebrauch, meine Damen und Herren.

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Wie viele?)

Wir wollen – wie in unserer schulpädagogischen Sichtweise insgesamt – vor Ort Möglichkeiten zur Lösung schaffen. Wir wollen, dass sich die Schulträger und Schulen mit allen Beteiligten vor Ort selbst Gedanken machen und versuchen, die Probleme, die es vor Ort gibt, in den Griff zu bekommen. Denn, meine Damen und Herren, die Situation ist ja auch sehr unterschiedlich. Es gibt vor allem in den großen Städten Hauptschulen, die starken Zuwachs haben, und es gibt die Situation im ländlichen Raum – das haben wir schon geschildert –, wo der Zulauf zurückgeht. Wir versprechen uns also nichts davon, von oben irgendetwas zu diktieren, sondern wir sagen: Die Probleme müssen gemeinsam vor Ort gelöst werden, natürlich mit unserer Unterstützung und Hilfe.

(Abg. Reinhold Gall SPD: Wie sieht die aus?)

Wir stellen uns das so vor: Auch im ländlichen Raum haben wir schon viele Schulen, die unter einem Dach untergebracht sind. Wenn wir sagen, wir wollen grundsätzlich am dreigliedrigen Schulsystem festhalten, dann schließt das ja nicht aus, dass einzelne Schularten in Einzelprojekten zusammenarbeiten. Das schließt ja nicht aus, dass Realschule und Hauptschule zusammen Projekte machen.

(Abg. Winfried Kretschmann GRÜNE: Wie wollen Sie denn das organisieren? Ein wahnwitziger Auf- wand!)

Warum kann man sich, wenn man sieht, dass man in einem Fach im Grunde nicht mehr unterrichten kann, nicht zusammentun und das gemeinsam unter einem Dach erledigen? Es geht also, wie gesagt, um Flexibilität vor Ort.

Eine andere Möglichkeit, die vor allem an größeren Standorten auch schon sehr stark genutzt wird, ist die Zusammenlegung von Hauptschulen. Wir beobachten das gerade in Heidelberg. Dort werden aus acht Hauptschulen in Zukunft vier gebildet. Das fällt in einem großen städtischen Komplex natürlich leichter als auf dem Land – das ist uns klar –, aber auch darin sehen wir eine Möglichkeit, die Probleme in den Griff zu bekommen.