Protocol of the Session on November 26, 2009

(Zurufe von der CDU, u. a. Abg. Karl-Wilhelm Röhm: Sagen Sie als Arzt noch ein paar Sätze zu den Eltern! Das würde mich interessieren! Sie sind doch Arzt! – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Wir haben das Versprechen gehalten, Herr Kollege!)

Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Wir können das nachholen.

(Zurufe von der CDU: Schade!)

Unsere Überzeugung ist: Sie müssen die Eltern rechtzeitig mitnehmen, damit die Eltern ihre Pflicht erfüllen können.

(Glocke der Präsidentin – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Die Eltern müssen es aber auch wollen!)

Herr Abgeordneter, bitte kommen Sie zum Ende.

Genau diese Voraussetzung – das habe ich eben belegt – haben Sie am allerwenigsten geschaffen.

Ich komme zu dem Ergebnis: Solange Sie dieses Ziel fachlich, strukturell und finanziell nicht umsetzen können, wäre es besser, das Thema Ausbildungsreife als Anspruch der Politik der Landesregierung nicht zu offensiv zu vertreten. Denn dann kommt es leider am Ende zu der Zuschreibung, dass der einzelne Jugendliche schuld sein muss, da doch die Landesregierung so viel unternimmt – was aber eben, wie ich zu belegen versucht habe, nicht so ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Abg. Karl Zimmermann CDU: Viel geredet, nichts gesagt! Kann man mir das Pro- tokoll geben, damit ich das nachher verstehe?)

Für die Fraktion der CDU erteile ich Frau Abg. Schütz das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Was Bildung sein und leisten soll, ist in Deutschland eine ununterbrochen diskutierte Frage. Insbesondere hier in Baden-Württemberg haben wir ein Bildungssystem von hohem Niveau. Unsere Universitäten sind anerkannt und beliebt. Eine Ausbildung z. B. im deutschen Handwerk genießt weltweit ein hohes Ansehen.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: So ist es! – Abg. Karl Zimmermann CDU: Zeit für Applaus muss sein! – Beifall bei der CDU)

Wir müssen dennoch hinterfragen, inwieweit die Situation hier historisch bedingt ist, und wir müssen uns auch die Frage stellen, wie wir uns in Zukunft optimal positionieren, da sich die Anforderungen auf dem Ausbildungsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt kontinuierlich verändern. Ein gutes Beispiel hierfür sind die technischen Neuerungen und Entwicklungen.

Ich möchte damit sagen: Die Schulen stehen vor großen Herausforderungen, da sie inzwischen auch Aufgaben wahrnehmen, für die sie früher nicht verantwortlich waren. Aus meinen Beobachtungen als Ausbilderin kann ich jedoch bestätigen, dass für die Fragen der Bildung und Ausbildung hierzulande und an sehr vielen Orten sehr viel Kraft und Ideenreichtum aufgebracht wird.

Mit dem nötigen Mut, auch innovative Wege zu gehen, und mit einem beharrlichen Willen zur Wandlungsfähigkeit werden wir unsere Bildungssysteme weiterhin stabil halten und auch zukünftig nachhaltig verbessern können. Ich darf an unsere neu eingerichtete Enquetekommission erinnern, die nach einer umfassenden Analyse wichtige Anregungen und Empfehlungen zur zielgerichteten Weiterentwicklung unseres leis tungsstarken beruflichen Bildungssystems geben wird.

Welche Strukturen allerdings notwendig sind, damit aus Erziehung und Schule unter dem Einfluss der Öffentlichkeit Menschen mit einer hohen Ausbildungsreife hervorgehen, ist

hier, meine ich, noch nicht lange und umfassend genug besprochen worden.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Sie hören aus meinen Worten heraus, dass es möglicherweise noch andere Fehlerquellen geben kann als nur das Bildungssystem. Genau darauf möchte ich eingehen. An vielen Stellen vermisse ich den Hunger und die Bereitschaft, nach besseren Lebensbedingungen durch Bildung zu streben. Gerade die Bereitschaft nach einem lebenslangen Lernen, für das die Schule die Grundlage legen muss, ist für unsere Wissensgesellschaft von zunehmender und existenzieller Bedeutung. Menschen in anderen Ländern, mit denen unsere Kinder auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren müssen, suchen eine Zukunft durch Bildung. Halten wir fest, dass es dort etwas gibt, was uns nach und nach verloren geht.

Wir nehmen das Risiko auf uns, das damit verbunden ist, wenn die Bereitschaft zur Anstrengung sinkt, weil nachhaltige Werte an Bedeutung verlieren. Wie will man z. B. allen Ernstes glauben, dass man mit einem Computerspiel Sport treiben kann? Wie groß sind die Chancen, dass man durch eine Castingshow reich und berühmt wird?

(Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Null!)

Wer bestimmt denn diese Regeln im Wettbewerb des Lebens, und welche davon sind tatsächlich zutreffend?

Vor diesem Hintergrund unterstütze ich mit Nachdruck die weitere Stärkung praxisbezogener Themen im Schulunterricht, die verstärkt Einzug in unsere allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen halten müssen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Damit meine ich vor allem handlungsorientierte Unterrichtsinhalte, deren Nutzen gut und schnell erkennbar sind. Praktika sind notwendig und geben auch Einblick in den zukünftigen Arbeitsmarkt.

Es ist richtig, dass sich auch Lehrerinnen und Lehrer immer wieder mit praktischen und berufsnahen Themen aus der freien Wirtschaft vertraut machen, und es ist auch richtig, dass wirtschaftliche Inhalte verstärkt Einzug in unsere Schulen halten und den Schülern auf diese Weise praxisrelevante Inhalte vermittelt werden.

Schülerinnen und Schüler müssen gut vorbereitet sein und müssen mit klaren Zielen und Erwartungen in die Berufsausbildung oder das Studium und in das spätere Berufsleben entlassen werden. Ich begrüße daher außerordentlich, dass engagierte Lehrerinnen und Lehrer mit Fachleuten aus Unternehmen und Hochschulen in den 42 Arbeitskreisen „Schule und Wirtschaft“ in Baden-Württemberg zusammenarbeiten.

Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, teile ich die Bedenken unseres Ministerpräsidenten. Denn die Schulen können diese vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht allein bewältigen. Sie können einen wichtigen Beitrag hierzu leisten; darüber hinaus sind aber alle Faktoren, die die Entwicklung unserer Kinder positiv beeinflussen, gefragt.

Ich wünsche mir daher ein starkes, ein noch viel stärkeres Engagement auch der Eltern sowie der Medien, die schon heute einen großen Beitrag hierzu leisten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: Bravo!)

Das Wort erhält Herr Abg. Lehmann für die Fraktion GRÜNE.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Das Thema Ausbildungsreife ist ein Thema, das immer wieder dann verstärkt in die Diskussion kommt, wenn Ausbildungsplätze fehlen. Das ist ein ganz typisches Phänomen.

(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Das ist aber ge- rade gar nicht der Fall!)

Der Antrag liegt auch schon eine Weile zurück. Das muss man auch einmal sehen.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das stimmt schon!)

Der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung hat meist zum Hintergrund, dass nicht alle jungen Menschen in einer beruflichen Ausbildung unterkommen. Früher gab es diese Diskussion in dieser Weise gar nicht.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat vor einiger Zeit ein Expertenmonitoring zu diesem Thema durchgeführt, zu einem Zeitpunkt, als die gesellschaftliche Diskussion hierüber sehr breit angelegt war. Dabei wurde z. B. Folgendes festgestellt: Der Aussage, dass vermehrt über eine zu geringe Ausbildungsreife geklagt werde, wenn es zu wenig Lehrstellen gibt, stimmen in einer hierzu durchgeführten Umfrage staatlich Verantwortliche zu 81 % zu; aus den Reihen der Wirtschaftsvertreter waren dies 31 %. Diese beiden Zahlen machen schon eines deutlich: Bei diesem Thema wird natürlich auch immer eine Ersatzdiskussion geführt.

Was jedoch an diesem Expertenmonitoring noch interessant ist, ist Folgendes: Man hat untersucht, was sich in den letzten 15 Jahren eigentlich verändert hat. Es hat sich natürlich etwas verändert. Frau Schütz, Sie haben es gesagt: Die Anforderungen an Beruf und Ausbildung sind gestiegen. Es gibt auch eine entsprechende Aussage von Wirtschaftsvertretern, die ebenfalls eine Umfrage gemacht haben, und zwar in Ausbildungsbetrieben: 95 % der Befragten haben gesagt, die Hauptschule sei als Vorbereitung für eine berufliche Ausbildung nicht mehr ausreichend. Das ist dramatisch; das muss man einfach zur Kenntnis nehmen.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Das liegt nicht nur an der Schule! Es liegt auch an den Schülern! – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Sie wollen sie seit heu- te Morgen wieder retten!)

Herr Zimmermann, es geht nicht darum, wie ich das bewerte. Sie wissen ja, dass ich selbst auch einen Hauptschulabschluss habe. Darum geht es gar nicht. Wir müssen uns aber einfach dieser Diskussion stellen, die da geführt wird.

Die Experten haben festgestellt, dass sich in den letzten 15 Jahren sehr viel verändert hat. An negativen Entwicklungen wird Folgendes benannt: 87 % sagen, die Beherrschung der Rechtschreibung sei zurückgegangen, 85 % meinen, die schriftliche Ausdrucksfähigkeit habe abgenommen, 84 % konstatieren, dass sich die Fähigkeiten im Bereich des einfachen Kopfrechnens verschlechtert hätten; schlechtere Konzentrationsfähigkeit wird von 80 % der Befragten konstatiert usw.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Mangelnde Übung!)

Es gibt aber auch positive Veränderungen, und diese sollte man meines Erachtens auch sehen. 87 % sagen, die Grundkenntnisse im IT-Bereich hätten sich bei den jungen Menschen verbessert. Die Selbstsicherheit im Auftreten ist heute besser; das merken wir alle, wenn wir mit Jugendlichen zusammenkommen. Da hat sich ein Wandel vollzogen.

(Abg. Alfred Winkler SPD: Außerhalb der Schule!)

Die Grundkenntnisse der englischen Sprache sind erheblich besser geworden, aber auch die Kommunikationsfähigkeit. All das sind wichtige Eigenschaften, bei denen es gegenüber früheren Jahren Verbesserungen gibt.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Das nützt nichts, wenn der Lehrling die Quadratmeterzahl ausrechnen soll!)

Jetzt muss man, Herr Zimmermann, ein bisschen unterscheiden. Es ist eine komplizierte Angelegenheit. Es gibt mehrere Faktoren: Elternhaus, Erziehung, Brüche in den Familienstrukturen haben da ebenfalls eine Bedeutung. Die Gesellschaft hat sich, was das betrifft, auch gewandelt. 80 % der Experten sind sich dabei auch einig. Ich zitiere:

Der Zusammenhalt innerhalb der Familie ist … gesunken, und die Vermittlung von Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und anderen Arbeitstugenden hat deutlich nachgelassen. Viele Jugendliche sind in ihren Familien weitgehend sich selbst überlassen.

Das ist sicherlich eine Charakterisierung, für die wir viele Beispiele kennen, die aber auf der anderen Seite auch die gestiegenen Anforderungen, die das Berufsleben heute mit sich bringt, beschreibt.