Die datenbasierte Bestandsaufnahme ist – da bin ich wieder bei der UN-Konvention – der von den Vertragsstaaten geforderte Schritt, den eigenen Standort differenziert zu analysieren, Bilanz zu ziehen und damit eine Grundlage für die zukünftige Entwicklung zu schaffen. Tatsache ist – diese Zahlen mögen vielleicht den einen oder anderen noch überraschen, aber wir haben jetzt den statistisch erbrachten Beleg –: Heute besuchen 54 000 Schülerinnen und Schüler in BadenWürttemberg eine Sonderschule. Doch schon fast 22 000 Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und sonderpädagogischem Förderbedarf besuchen eine allgemeinbildende Schule. Das sind 29 %, also fast ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler und damit doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. 230 Außenklassen zeigen, dass das Land BadenWürttemberg über einen enormen Erfahrungsreichtum auf dem Gebiet des gemeinsamen Unterrichts verfügt.
Die UN-Konvention ist zwischenzeitlich nationales Recht geworden. Wir haben uns den damit in Verbindung stehenden Herausforderungen gestellt. Die Kultusministerkonferenz hat zeitgleich beschlossen, dies in den nächsten drei Jahren konzeptionell in die Gesetzgebung der jeweiligen Länder einzubinden. Wir in Baden-Württemberg beteiligen uns nicht nur an diesem Prozess, sondern wir nehmen auch eine führende Rolle ein. Ich glaube aus gutem Grund: Mit unserem Konzept, das ich gleich in wenigen Sätzen skizzieren möchte, können wir durchaus eine Vorreiterrolle bezüglich der Entwicklung auch in anderen Ländern einnehmen.
Ich habe mir in diesem Zusammenhang schon erlaubt, die Frage zu stellen: Wie weit sind die anderen Länder innerhalb Deutschlands? Es gibt durchaus viele Bundesländer, die einen Wahlrechtsanspruch für die Eltern definieren. Aber in den meisten Bundesländern steht in den jeweiligen Schulgesetzen, dass es sozusagen eine Kapazitätseinschränkung gibt. In dem Moment, in dem nicht die erforderlichen Ressourcen oder nicht die erforderlichen Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, ist dieser Rechtsanspruch unwirksam. Dann, muss ich sagen, bringt dieser Rechtsanspruch recht wenig. Denn Eltern
sind natürlich dann enttäuscht, wenn sie einen verbindlichen Rechtsanspruch geltend machen und dieser am Ende gar nicht erfüllt werden kann, weil es gleichzeitig in den entsprechenden Gesetzen einen Vorbehaltsvermerk gibt. Das heißt, wir müssen jetzt gemeinsam mit den anderen Bundesländern überlegen, wie wir die Vorgaben der UN-Konvention Schritt für Schritt konzeptionell umsetzen.
Doch unabhängig davon treiben wir die Weiterentwicklung in Baden-Württemberg aktiv voran. Wie Sie wissen, wurde die Pflicht zum Besuch einer Sonderschule früher einmal eingeführt, um für junge Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf den Anspruch auf Bildung zu sichern. Diesen Anspruch stellt heute niemand mehr infrage. Wir halten daher jetzt den Zeitpunkt für gekommen, die Pflicht zum Besuch einer Sonderschule in die allgemeine Schulpflicht einmünden zu lassen. Dabei haben die Eltern einen Anspruch auf die Feststellung des Förderbedarfs ihres Kindes und auf Auskunft über mögliche Lernorte.
Wir müssen bei der Einzelfallbetrachtung hohe Sachkompetenz zum Tragen bringen. Künftig sollen daher in Bildungskonferenzen Förderkonzepte und Förderformen erörtert sowie gegebenenfalls Alternativen für das Kind entwickelt werden. Bildungskonferenzen sollen sich aus Fachleuten verschiedener Schularten sowie aus Experten aus dem außerschulischen Bereich zusammensetzen und die Eltern in den Beratungsprozess von Anfang an mit einbeziehen. Es ist ganz wichtig, dass die Beratung über den individuellen Förderbedarf eines jeden behinderten Kindes nur gemeinsam mit den Eltern stattfinden kann und stattfinden soll. Das ist Kernelement der Zielsetzung dieser Bildungskonferenzen, die wir einsetzen wollen.
Die Eltern sollen also kein orientierungsloses Wahlrecht haben, sondern sie sollen das Recht bekommen, nach einer eingehenden und umfassenden Betrachtung über den Lernort ihres Kindes zu entscheiden. Eltern sollen sich auch künftig für den Lernort Sonderschule entscheiden können, wo sie einen hohen fachlichen Standard mit einer entsprechenden räumlichen und sächlichen Ausstattung vorfinden. Es ist widersinnig, wenn manche hier behaupten, ein Entscheidungs- oder gar Wahlrecht würde in der Konsequenz bedeuten, gleichzeitig die Abschaffung der Sonderschulen fordern zu müssen. Ein solcher Schritt jedoch wäre durch kein Sachargument zu rechtfertigen.
Während es keine Begründung für eine Forderung nach Abschaffung der Sonderschulen gibt – und sinnvollerweise auch nicht geben kann –, erreichen uns Briefe wie etwa der eines Elternbeirats in einem Bildungs- und Beratungszentrum für Hörgeschädigte aus Stegen. Ich zitiere gern aus diesem Schreiben:
Behinderte Kinder und Jugendliche brauchen einen ungehinderten Zugang zum Bildungssystem. Damit ist auch gemeint: zu einem Bildungssystem, das ihren Fähigkeiten entspricht und sich flexibel auf sie einlassen kann. …
Wir wehren uns daher gegen den häufigen Rechtfertigungsdruck, auch in Presse und Politik, bezüglich unserer Entscheidung für eine Sonderschule. Die Erfolge unserer Kinder, deren Zufriedenheit und ihre neu gewonnene Le
bensfreude sind uns Beweis, dass wir uns mit unserem Kind für die richtige Förderung entschieden haben.
Sonderschulen werden also weiterhin dringend benötigt und sind gewollt. Deswegen sollen diese konsequent zu sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren weiterentwickelt werden und noch enger mit den allgemeinbildenden Schulen kooperieren.
Ich wiederhole gern, dass schon heute 29 % aller Kinder mit Behinderungen und sonderpädagogischem Förderbedarf eine allgemeinbildende Schule besuchen. Diese Zahl kann und wird sich steigern. Die allgemeinbildenden Schulen sind gefordert, die umfassenden Kompetenzen, über die sie diesbezüglich bereits verfügen, zu sammeln. Ich weiß, dass sich viele Schulen schon jetzt dieser Herausforderung stellen. Denn wir haben schon zahlreiche Schulen, die wissen, wie das geht, und deren gute Beispiele ausstrahlen. Natürlich werden wir positive Beispiele im Sinne von Best-Practice-Modellen mit einbeziehen. Ein solches Beispiel ist das „Konstanzer Modell“, das vor einigen Jahren in einem guten Dialog vor Ort an der Gebhardschule in Konstanz, lieber Kollege Hoffmann, eingeführt wurde. Es ist ein Beleg dafür, dass wir im Entwicklungsprozess durchaus auf gute Beispiele verweisen können.
Wir sind daher durchaus in einem dynamischen Prozess zum Wohl aller unserer Schülerinnen und Schüler, auch und gerade derer mit Behinderungen.
Nun zu Emmendingen. In Bezug auf die grundsätzlichen Fragen zur Neukonzeption der Sonderpädagogik wurde auch das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg zur Waldorfschule Emmendingen angesprochen. Heute ist der richtige Zeitpunkt, Präzises zu sagen. Wir haben nach eingehender Prüfung der Entscheidungsgründe beschlossen, nicht in Berufung zu gehen. Dies haben Sie mittlerweile auch den Medien entnommen.
Erlauben Sie mir dennoch zwei Anmerkungen dazu. Man muss sich die Urteilsbegründung in diesem Zusammenhang durchaus genau anschauen.
Erste Anmerkung: Mit ihrem eigentlichen Begehren, festzustellen, dass der Schulversuch unter den derzeitigen Bedingungen bereits endgültig genehmigt sei, hat sich die Waldorfschule nicht durchgesetzt. Das Verwaltungsgericht Freiburg hat in seinem Urteil festgestellt, dass mit der Einrichtung des Schulversuchs und dessen Verlängerung der Betrieb einer integrativen Waldorfschule Emmendingen nicht bereits dauerhaft genehmigt ist.
Erfolgreich waren die Kläger allerdings insoweit, als uns das Verwaltungsgericht verpflichtet hat, der Waldorfschule eine Genehmigung als Ersatzschule mit integrativer Beschulung zu erteilen. Diese Differenzierung mag auf den ersten Blick spitzfindig wirken, ist es aber nicht. Das Gericht hat keine Ausführungen zur staatlichen Förderung der zu genehmigenden Schule gemacht. Es gibt derzeit keine gesetzliche Regelung für die Beteiligung des Staats an den Kosten des Privatschulträgers in der mit der Klage geltend gemachten Form.
Denn die integrative Waldorfschule Emmendingen war ja, wie auch das Gericht bestätigt hat, ein Schulversuch.
Zweite Anmerkung: Die Urteilsbegründung war für viele überraschend. Zwar attestiert uns das Verwaltungsgericht, dass wir die Landesgesetze bei der ablehnenden Entscheidung richtig angewendet haben, es leitet allerdings einen Anspruch des Klägers auf Genehmigung direkt aus dem Grundgesetz her, und zwar aus dem Ersatzschulbegriff im Sinne des Artikels 7 Abs. 4 des Grundgesetzes.
Wenn wir nun mit dem Verzicht auf Rechtsmittel das Urteil rechtskräftig werden lassen und damit den dem Urteil zugrunde liegenden Ersatzschulbegriff akzeptieren, werden wir ihn bei künftigen Genehmigungsentscheidungen zu beachten haben. Das hat – wie noch zu prüfen sein wird – möglicherweise ganz erhebliche Konsequenzen für unsere künftige Genehmigungspraxis. Herr Kollege Hoffmann hat zu Recht angesprochen: Für den Träger der Waldorfschule Emmendingen bleiben natürlich auch in Zukunft viele offene Fragen bestehen. Diese liegen aber in der Entscheidungskompetenz des Trägers vor Ort, vor allem was die Kostenleistungen seitens der Kostenträger bezüglich vieler zusätzlicher Leistungen betrifft. Darauf hat das Gericht keine Antwort gegeben. Auch wenn wir nicht in Berufung gehen, werden wir hierzu keine Antwort geben können. Das ist ein Entscheidungsprozess, der natürlich bezüglich der Weiterentwicklung dieser Schule vor Ort geleistet werden muss.
Der Gesetzgeber wird dann auch in der Frage der Privatschulfinanzierung nach neuen Regeln suchen müssen. Daher wünsche ich uns die Einigkeit, sehr schnell eine gute gesetzliche Regelung zu finden; denn die Privatschulen brauchen in der wichtigen Frage ihrer finanziellen Ausstattung rasch Rechtssicherheit.
Anhand unserer Vorstellungen für dieses neue Konzept wird klar, dass wir in Baden-Württemberg weiterhin diesen dynamischen Prozess für unsere Kinder mit sonderschulpädagogischem Förderbedarf vorantreiben. Das bedeutet, dass wir auch in Zukunft gute Voraussetzungen haben, innerhalb Deutschlands eine wichtige Führungsrolle zu übernehmen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Wacker, Sie haben zu Recht festgestellt, dass in Baden-Württemberg Spezialangebote für Kinder mit Behinderungen vorgehalten werden. Das ist auch gut so. Wenn wir eine Entscheidungsfreiheit für Eltern wollen, brauchen wir dieses Angebot, denn sonst können sie sich nicht entscheiden.
Im Bildungsbericht, auf den Sie hingewiesen haben, steht allerdings, dass eine Sonderschulpflicht für Kinder mit Behinderungen dann besteht, wenn sie dem Bildungsgang einer Regelschule nicht entsprechen. Das ist genau der Punkt. Wenn Sie jetzt auf die Bildungskonferenzen abheben – nebenbei: das ist ein großer Aufwand –, dann frage ich mich: Was ist,
wenn die Bildungskonferenz keine Empfehlung für einen Besuch der Regelschule ausspricht? Dann haben die Eltern kein Wahlrecht in dem Sinne, wie wir es fordern.
Ich will Ihnen noch eines sagen, meine Damen und Herren: Herr Hoffmann, Sie irren, wenn Sie sagen, die UN-Konvention sei in Baden-Württemberg schon jetzt erfüllt. Ich lese Ihnen einmal einen Teil aus dieser Konvention vor, und dann werden Sie selbst merken, dass Sie gewaltig irren. Dort heißt es – ich zitiere –:
hinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden; …
Es geht hier also klipp und klar um den Grundschulunterricht und die weiterführenden Schulen, und genau dies ist in Baden-Württemberg nicht der Fall. Eltern können eben nicht sagen: „Wir wollen unser Kind in der Grundschule belassen“ oder „Wir wollen es auf eine weiterführende Schule schicken.“ Das ist nicht erlaubt.
Im Übrigen ist nach dieser Konvention der Staat angehalten, die Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Es gibt keinen Ressourcenvorbehalt, wie Sie ihn hier dargestellt haben. Deswegen sage ich für die SPD-Fraktion klipp und klar: Wir sind noch weit entfernt von dem, was Artikel 24 uns hier vorschreibt.
Nebenbei kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Schon heute werden Eltern beraten, nur: Es besteht eben die Pflicht, die Kinder dann entsprechend umzuschulen. Daran wird sich, wenn die Voraussetzungen nicht gegeben sind – Sie haben es ja gesagt – im Grundsatz nichts ändern. Das ist der entscheidende Punkt.
natürlich, und die Rektorin hat hier enorme Leistungen vollbracht – ein integratives Schulentwicklungskonzept. Die behinderten Kinder dieser Schule waren Teil der Schule.