dass Schüler aus bildungsschwachen Familien ein Ergebnis von 614 Punkten brauchen, um von der Grundschule in das Gymnasium wechseln zu können, aber Schüler, die aus einem bildungsnahen Elternhaus kommen, nur 537 Punkte, dann müssen Sie diesen Unterschied doch erklären.
Sie müssen erklären, wie Sie die politische und fachliche Verantwortung dafür übernehmen wollen, dass ein Kind aus bildungsschwachen Schichten heute deutlich besser sein muss als ein Kind aus bildungsstarken Schichten, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen.
Dann ist doch die Frage erlaubt, ob dieses Verfahren nach der vierten Klasse und dieser Zeitpunkt überhaupt der richtige sind. Diese Frage stellt sich aufgrund der Zahlen, und auch auf diese Frage sind Sie nicht eingegangen.
Herr Rau, Sie haben dargestellt: „Eine empirische Bildungsforschung hat für das Land hohe Bedeutung.“ Eine empirische Bildungsforschung ist dann keine empirische Bildungsforschung mehr, wenn sich ein Auftraggeber in die Personalauswahl eingemischt hat. Genau das versuchen Sie im Moment.
Eine empirische Bildungsforschung ist für mich dann nicht mehr aktuell, wenn es dazu kommt, dass Sie Sprecherinnen und Sprecher aus dieser Bildungsforschung öffentlich „abwatschen“. Eine empirische Bildungsforschung wird dann nicht mehr ernst genommen, Herr Minister, wenn Sie sich bei der Interpretation der Ergebnisse immer nur auf Professor Baumert beziehen und alle anderen an diesem ganzen Prozess Beteiligten links liegen lassen.
Das ist nicht der Umgang, wie er für eine wirkliche Akzeptanz der Ergebnisse solcher Bildungsforschung notwendig wäre, meine Damen und Herren.
Sie haben in Ihrer Presserklärung gesagt: Herr Schleicher ist nicht für politische Entscheidungen zuständig. Wir sind auch nicht für die wissenschaftliche Interpretation dessen, ob da etwas falsch oder richtig ist, zuständig. Wir und vor allem Sie sind aber dafür zuständig, die politischen Entscheidungen, die aus den Ergebnissen folgen, zu treffen und hierfür die Verantwortung zu übernehmen. Das haben Sie heute einmal mehr nicht getan. Das tun Sie mit dem Nachtragshaushalt nicht.
Der Versuch, dies alles zu einer öffentlichen OECD-Debatte zu machen, ist in unseren Augen eine relativ durchsichtige Provinzposse, aber der Bedeutung, die die Bildungspolitik hat, und der Verantwortung, die Sie eigentlich übernehmen müss ten, nicht angemessen. Das ist wiederum eigentlich schade.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kultusminister Rau, die Zeiten, in denen man den Überbringer einer schlechten Nachricht geköpft hat, sind wohl endgültig vorbei.
Meine Damen und Herren, ich habe bereits gesagt: Wir können es uns überhaupt nicht leisten, aus der empirischen Bildungsforschung der OECD auszusteigen. Es würde genau das passieren, was bei uns jahrzehntelang der Fall war, während sich andere Länder bereits auf den Weg in die empirische Bildungsforschung gemacht und diese praktiziert haben: Wir würden wieder in die alte Provinzialität und Selbstgerechtigkeit verfallen, und wir würden wieder keinen Millimeter in der Weiterentwicklung unseres Bildungswesens vorankommen.
Herr Kultusminister Rau, Sie haben gesagt: Die frühe Förderung greift. Ich habe ja in meinem vorherigen Beitrag angesprochen, dass dies die Grundschule betrifft. Aber wenn die frühe Förderung greift – was ja positiv ist –, dann passiert in Baden-Württemberg eines: Der Selektionsdruck an der Grundschule verschärft sich.
Wir haben ja nun ausgerechnet jetzt, als die PISA-Studie und die IGLU-Studie veröffentlicht wurden, in Baden-Württemberg den ersten Bildungsbericht vorgelegt bekommen. Im Bildungsbericht Baden-Württembergs finden wir bestätigt, dass es den Schülern mit Migrationshintergrund nichts hilft, wenn sie sich anstrengen, wenn sie sich bemühen, wenn sie lernen. Das machen sie, wenn sie in die Grundschule kommen. Dann sind sie genauso begeistert wie die Kinder aus akademischen Bildungshäusern. Aber es hilft ihnen nichts. Am Ende der Grundschulzeit machen sie die Erfahrung, dass es ihnen doch nicht reicht und dass sie für die Hauptschule oder die Schule für Lernbehinderte empfohlen werden, während die anderen Kinder aufs Gymnasium gehen.
Das heißt, je mehr wir in der frühen Förderung vorankommen, desto schärfer wird der Selektionsdruck, desto schärfer wird die soziale Auslese. Das sind Bestandteile unseres Bildungswesens, die aufzeigen, dass wir kein modernes Bildungssys tem haben. Ein modernes Bildungssystem geht mit Kindern so nicht um. Das führt nicht bereits bei kleinen Kindern zu Beschämung, zu Angst, zu Versagensängsten und zu Druck. Das ist auch ein Grund, weshalb die Ergebnisse von IGLU nicht dazu führen, dass wir in der Sekundarstufe I insgesamt vorankommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Kultusminister Rau, Sie haben gesagt – das ist richtig, und ich bin froh, dass Sie diese Erkenntnis gewonnen haben –, dass wir mit den Schülern mit Migrationshintergrund aus der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration ein großes Problem haben. Sie haben zu Recht auch gesagt: Die Eltern müssen gewonnen werden. Aber die Eltern dieser Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich zwar angestrengt haben, aber es trotzdem nicht gereicht hat, und dass sie in diesem Bildungssystem keine positiven Ergebnisse erzielen konnten. Deshalb muss man mit ganz anderen Mitteln und Methoden die Eltern gewinnen,
(Abg. Volker Schebesta CDU: Deshalb haben sie ihrem Kind mit einem Jahr kein Deutsch beige- bracht?)
nicht dadurch, dass man sie in die Pflicht nimmt, sondern indem man es beispielsweise wie in Kanada macht – wir haben in Kanada einen PISA-Sieger erlebt – und die Eltern abholt,
indem man die Eltern von Migrantenkindern mit ihren Qualitäten, mit ihren Fähigkeiten, mit ihren Kompetenzen einbezieht und nicht immer nur diesen defizitorientierten Blick auf sie wirft.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Wer darf in Kana- da einwandern? Sagen Sie einmal, welche Vorausset- zungen dort gelten! Wer darf da einwandern?)
Herr Kollege Schebesta, Sie haben die TOSCA-Studie angesprochen. Es ist richtig: Wir haben mit den beruflichen Schulen zum Glück eine Möglichkeit, mit der Schülerinnen und Schüler auch später noch zum Abitur im beruflichen Gymnasium kommen können. Aber auch hier zeigt uns der Bildungsbericht Baden-Württembergs – das können Sie nachlesen, Herr Kollege Schebesta, wenn Sie das noch nicht getan haben –, dass sich die Situation im allgemeinbildenden Schulwesen auch im beruflichen Schulwesen widerspiegelt. Denn auch in den beruflichen Schulen sind die Schüler mit Migrationshintergrund in den Bildungsgängen unterrepräsentiert, die zu höheren Bildungsabschlüssen führen, nämlich im Berufskolleg und im beruflichen Gymnasium, und sie sind überrepräsentiert im BVJ.
Das heißt, wir kommen mit einem Bildungssystem, das weiterhin auf Auslese setzt, das weiterhin Schüler nach nur vier gemeinsamen Grundschuljahren trennt, nicht zu einem modernen Bildungssystem, das positiv mit der Heterogenität von Schülerinnen und Schülern umgeht, das jedes Kind abholt und individuell fördert und in dem Kinder mit unterschiedlicher sozialer Herkunft gemeinsam miteinander und voneinander lernen können. Wir müssen die Qualitätsdebatte führen, aber wir dürfen auch die Schulstrukturdebatte nicht außer Acht lassen. Auch diese muss in Baden-Württemberg geführt werden.
Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben eben nach dieser massiven Kritik an dem ach so „schrecklichen“ und „erfolglosen“ Bildungssystem in Baden-Württemberg gehört, wo die bildungspolitische Seligkeit liegt, nämlich in einer Gemeinschafts-, Basis- oder Wie-auch-immer-Schule von der Klasse 1 bis zur Klasse 10.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen und einmal ein solches Bildungssystem, das Sie immer als großes Vorbild hinstellen, etwas näher anschauen,
Ich beziehe mich auf einen Autor, der sicher auch Ihnen geläufig ist. Er hat im Jahr 2007 als Honorarkraft bei der Friedrich-Ebert-Stiftung – wohlgemerkt – im Büro der nordischen Länder in Stockholm gearbeitet. Er ist Absolvent der Politikwissenschaft und Skandinavistik der Humboldt-Universität in Berlin. Peer Krumrey weist auf Folgendes hin: In Schweden hat es einen Regierungswechsel gegeben. Einer der wesentlichen Problempunkte im Wahlkampf in Schweden war die Bildungspolitik. Wir haben in Schweden mittlerweile eine bürgerlich-liberale Regierung; die Sozialdemokraten sind abgewählt worden. Gerade die Unzufriedenheit mit dem schwedischen Bildungssystem hat zu dieser politischen Umwälzung wesentlich beigetragen.
Warum? Wir haben in Schweden eine Einheitsschule. Die Kinder gehen bis Klasse 10 in eine gemeinsame Schule, danach wird differenziert. Dies führt zu einer gymnasialen Oberstufe – sie befähigt einmal zur Hochschulreife – und in einem zweiten Zweig zur beruflichen Ausbildung. Wie sehen die Ergebnisse aus? Nur 70 % der jungen Leute, die diese Einheitsschule verlassen, schaffen tatsächlich auch das Klassenziel, nämlich den Abschluss. Das heißt, Schweden hat trotz aller individuellen Förderungen, trotz aller Bemühungen, diese Kinder über ein jahrelanges gemeinsames Lernen zu fördern, am Ende einen Bereich von Schülerinnen und Schülern, die durch das Raster fallen. Wenn wir Kinder also wirklich individuell fördern wollen, brauchen wir unterschiedliche Bildungsangebote mit unterschiedlichen methodischen Zugängen, um diese Kinder auch zu erreichen.
Dieses Ergebnis aus Schweden zeigt ganz deutlich: Wir haben immer Schülerinnen und Schüler, die wir auch in der Gemeinschaftsschule nicht ans Ziel führen können.
Hinzu kommt, dass in Schweden – das möchte ich auch zu bedenken geben, um das einfach einmal an diesem Beispiel festzumachen – wie in Finnland eine sehr, sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht, nämlich über 20 %. Das hängt zum
großen Teil damit zusammen, dass die dortige Sekundarstufe-II-Ausbildung im Grunde nur gymnasial gedacht und angelegt ist. Die berufliche Ausbildung kommt in Schweden ganz deutlich zu kurz. Dagegen ist hier in unserem Bildungssystem ein ganz wichtiger Pluspunkt.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der Abg. Veronika Netzhammer CDU – Zuruf des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP)