Protocol of the Session on June 28, 2007

Aber es geht hier nicht um Linientreue, sondern es geht um Wertorientierung.

(Zuruf des Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP)

Wenn wir sagen: „Wir haben einen Ministerpräsidenten, dem der innere Kompass fehlt, der nicht weiß, was er politisch eigentlich hier im Land entwickeln will, der die Baustellen abarbeitet, aber eben keine innere Leitlinie gefunden hat“, dann betrifft dies das Thema Wertorientierung und nicht so sehr die Frage, wie linientreu man an der einen oder anderen Stelle arbeitet.

(Abg. Jörg Döpper CDU: Was ist jetzt?)

Deshalb ist die Frage, die man sich als jemand, der in diesem Land Verantwortung trägt, stellen muss: Was ist es, was die Gesellschaft in Baden-Württemberg ausmacht? Was ist ein erfolgreiches Land eigentlich allen Bürgerinnen und Bürgern schuldig? Das ist doch die Quintessenz aus der Feststellung, dass wir einen erfolgreichen Wirtschaftsstandort haben: dass wir mehr als andere Länder verpflichtet sind, alle Menschen auch an diesem Wohlstand teilhaben zu lassen.

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Alle! Berlin auch! Wowereit!)

Wenn ich jetzt ins Land schaue, dann will ich einmal von den Statistiken weggehen und zu den Menschen, zu den Frauen, den Männern und den Kindern, gehen. Es ist ja erstaunlich und bemerkenswert, dass noch nicht einmal mehr Sie selbst das Stichwort „Kinderland“ in dieser Aussprache zu Ihrer Regierungsbilanz erwähnt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grü- nen)

Ich kann das verstehen. Ich würde mich auch schämen, wenn das, was wir hier haben, das Ergebnis von einem Jahr „Kinderland“ wäre.

(Abg. Jörg Döpper CDU: Oh!)

Sie müssen das, was in diesem Land erarbeitet wird, was die Menschen hier erarbeiten, auch dem Ganzen zugutekommen lassen.

Bei den Krippenplätzen liegen wir im Mittelfeld. Von 100 Kindern haben gerade einmal zwei eine Chance, einen Krippenplatz zu erhalten. Bei den Ganztagsbetreuungsplätzen sind wir das Schlusslicht. 100 Kinder müssen um sieben Plätze kämpfen.

(Widerspruch bei der CDU)

In Deutschland insgesamt steht für 22 % der Kinder ein Ganztagsbetreuungsplatz zur Verfügung, in Westdeutschland beträgt diese Quote 15 %. Ein reiches Land, ein Spitzenstandort wie Baden-Württemberg liegt auf dem letzten Platz, wenn es um das Wohl der Kinder und um die Unterstützung der Familien geht. Das ist das Beschämende an Ihrer Regierungspolitik.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Zurufe von der CDU, u. a. Abg. Werner Pfisterer: Positiv denken!)

Sie haben sich zu Recht über die Entwicklung am Arbeitsmarkt gefreut.

(Abg. Werner Pfisterer CDU: Aber? – Abg. Karl-Wil- helm Röhm CDU: Teilen Sie doch die Freude!)

Aber auch hier gilt der Blick nicht der Statistik,

(Abg. Werner Pfisterer CDU: Nicht? Schade!)

sondern auch hier geht es um Frauen und Männer, die gerade in unserem jetzigen System durchfallen. Wir haben einen Fachkräftemangel: Auf der einen Seite gibt es 80 000 freie Stellen, wie der Ministerpräsident erwähnt hat; andererseits jedoch finden Tausende junger Menschen keinen Ausbildungsplatz. Wenn Sie die Statistik doch noch einmal bemühen, dann sehen Sie beim Thema Ausbildungsplätze, dass der Anteil der Altbewerber – also derer, die Jahr für Jahr keine Chance finden, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, und immer wieder in Warteschleifen kommen, die nicht in der Arbeitslosenstatis tik auftauchen, sondern die im Berufsvorbereitungsjahr, in Praktika und in Schulmaßnahmen von einem Jahr zum nächs ten mühsam beschäftigt werden und die sich immer wieder bewerben müssen – im Jahr 1999 bei 36,9 % lag.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Im Jahr 2006 ist ihr Anteil auf 45,9 % gestiegen. Natürlich freuen wir uns, wenn es einen Ausbildungspakt und weitere Bemühungen gibt.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Erfolgreiche Be- mühungen!)

Aber dass Sie dabei vergessen, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die niemals eine Chance haben und die Sie praktisch wegfallen lassen, weil Sie sich nicht mit Menschen, sondern mit Statistiken beschäftigen, das ist das Beschämende an Ihrer Art, Regierungsbilanzen zu ziehen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Siegfried Lehmann GRÜNE)

Deshalb geht es darum, dass Sie in Ihrer Regierungspolitik beginnen, deutlich zu machen, was eigentlich die Werte sind, die dieses Land zusammenhalten sollen – außer der Wirtschaftskraft. Ein modernes Land, Exportweltmeister, braucht z. B. Integration als einen zentralen Wert.

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Haben wir nicht einen Integrationsbeauftragten?)

Ein solches Land braucht Unterstützung von Kindern und Jugendlichen schon zu einem Zeitpunkt, bevor sie in die Schule kommen, braucht ein Bild, wie eine moderne Familie aussehen kann, in der Frauen und Männer gemeinsam Beruf und Familie vereinbaren können. Das sind die Aufgaben, die man aber nur dann erfüllen kann, wenn man sich nicht nur um die technische Erledigung kümmert, sondern wenn man sich in die Situation der Menschen hineinversetzt. Hören Sie also auf, aufgrund von statistischen Erfolgen selbstzufrieden zu sein, und kümmern Sie sich vor allem darum, dass alle Bürgerinnen und Bürger und insbesondere die Kinder in Baden-Württemberg auch teilhaben können, und zwar unabhängig davon, aus welchen Familien sie kommen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Nach § 82 Abs. 4 der Geschäftsordnung erteile ich Herrn Fraktionsvorsitzendem Mappus das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Argumentation, die wir heute von den Oppositionsfraktionen gehört haben, war ja teilweise schon sehr bemerkenswert, wobei ich, Herr Kollege Kretschmann, Ihren Antrag auf Durchführung dieser Aktuellen Debatte gut finde. Meinetwegen können wir die Frequenz gern erhöhen und eine solche Debatte z. B. im Halbjahresrhythmus durchführen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Heiterkeit bei der FDP/DVP)

Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob Sie sie nach dem heutigen Tag noch so gut finden, aber sei’s drum. Wir sind wie immer allzeit bereit.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Ihre Argumentation ist ja schon bemerkenswert. Sie hat mich etwas an den gestrigen Tag erinnert, als wir über Heiligen damm diskutiert haben. Dort war es so, dass alle etwas für die Demonstrationen und das Chaos konnten – die Polizisten, die Politik –, nur die Demonstranten nicht. Heute ist es so, dass alle etwas für das gute Ergebnis unserer Landespolitik können: die Opposition selbstverständlich, die Wirtschaft, alle. Nur die Landesregierung kann nichts dafür.

Herr Kretschmann, das, was Sie in der letzten Stunde hier zusammenargumentiert haben, glauben Sie doch selbst nicht! Und Sie wissen, dass diese Regierung und die sie tragenden Mehrheitsfraktionen gute Politik machen. Deswegen werden Sie mit dieser Polemik, wie Sie sie auch über das Land bringen, schlicht und ergreifend scheitern. Da bin ich mir mehr denn je sicher, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Win- fried Kretschmann GRÜNE: Irgendwann muss man doch auch einmal eine polemische Rede halten!)

Das gilt übrigens auch für das Thema Arbeitslosigkeit. Jahrelang wurde in diesem Haus von diesem Rednerpult aus – auch von Ihnen, Herr Kretschmann – immer gesagt: Ihr müsst mehr gegen die Arbeitslosigkeit tun, ihr müsst mehr dafür tun, dass Arbeitsplätze geschaffen werden, ihr müsst mehr dafür tun, dass die Arbeitslosigkeit sinkt. Jetzt sinkt sie, und jetzt argumentieren Sie genau umgekehrt, nämlich dass wir angeblich gar nichts dafür können.

Ich frage mich schon: Wenn Politik auch in Ländern z. B. für die Absenkung der Arbeitslosigkeit nichts kann, warum ist es dann so, dass immer die gleichen Länder sehr viel bessere Ergebnisse haben als manche andere Länder? Warum ist es so, dass zufälligerweise die CDU-regierten Länder im Süden Deutschlands sehr viel besser dastehen als viele andere Länder im übrigen Deutschland? Sie wissen es: weil die Politik an diesem Standort einfach besser ist, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Wir wollen weiterhin in die Zukunft investieren,

(Zuruf des Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP)

z. B. in den Infrastrukturbereich. Meine Damen und Herren, da gibt es bei Ihnen einfach widersprüchliche Haltungen. Den Hinweis darauf kann ich Ihnen nicht so ganz ersparen.

Wir wollen das Landesstraßennetz weiter ausbauen.

(Zuruf von der SPD: Aber ihr kürzt!)

Wir haben gesagt: Wir wollen ab dem Nachtrag noch mehr Geld investieren. Sie haben dann das gemacht, was Sie immer machen: Sie haben gesagt, das sei viel zu wenig. Komischerweise war es so – daran kann ich mich noch gut daran erinnern –, dass die SPD zum Doppelhaushalt 1998/99 –

(Abg. Franz Untersteller GRÜNE: 98!)

zu einer Zeit, als wir für den Landesstraßenbau weniger Geld ausgegeben haben als heute – im Finanzausschuss Kürzungsanträge gestellt hat. Heute sind Sie plötzlich der Meinung, dass wir deutlich mehr machen müssten. Ja, was denn jetzt, meine Damen und Herren?

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Was ist denn das? – Un- ruhe bei der SPD)

Wir wollen mehr machen, wir machen mehr – aber machen Sie endlich einmal mit, und seien Sie nicht immer nur gegen das, was von der Regierung kommt.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Zuruf des Abg. Wolfgang Drexler SPD)