Protocol of the Session on December 13, 2006

Hier kann man, wenn man die Geschichte kurz Revue passieren lässt, von großen Fortschritten berichten, die wir alle heute genießen und die glücklicherweise alltäglich geworden sind. Beispielsweise kann man in der Rheinschiene ohne Passkontrolle in unser Nachbarland Frankreich fahren. Man kann die gemeinsame Währung nutzen und muss nicht mehr mit zwei Geldbeuteln mit den vielen unterschiedlichen Währungen durch Europa fahren. Das sind praktische Beispiele, die zeigen, dass auch wir in Baden-Württemberg von dem immer stärker zusammenwachsenden, vereinten Europa profitieren können.

Meine Damen und Herren, es ist gut, dies bei einer solchen europapolitischen Grundsatzdebatte noch einmal in Erinnerung zu rufen – gerade für ein Land wie Baden-Württemberg, das ja als Wirtschaftsstandort zu einer der dynamischsten Wirtschaftsregionen in Europa und in der Welt gehört. Wir sind eine wohlhabende, eine sich gut entwickelnde Wirtschaftsregion, die auf offene Märkte angewiesen ist. Gerade unsere stark exportabhängige Industrie ist auf offene Märkte angewiesen und profitiert vom Projekt des Europäischen Binnenmarkts in besonderer Weise.

Wir haben in Baden-Württemberg 37 % Exporte, gemessen an der Gesamtwirtschaftsleistung. Ein großer Teil davon geht tatsächlich in das europäische Ausland, das zunehmend zum europäischen Inland wird, weil es gelungen ist, einen Gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen. Dazu kommen jetzt auch noch die Exporte in die zehn neuen mittelund osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Wenn man sich einmal klarmacht, dass schon heute die dorthin exportierten Güter, Waren und Dienstleistungen aus Baden-Württem

berg einen Anteil erreicht haben, wie wir ihn bei den Exporten in die Vereinigten Staaten von Amerika haben, dann merkt man, wie wichtig diese Entwicklung in Europa auch aus wirtschaftlicher Sicht für das Land Baden-Württemberg ist.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Thomas Blenke CDU: Das trifft zu! – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Exportweltmeister sind wir!)

Meine Damen und Herren, davon hängen in unserem Land Arbeitsplätze und Ausbildungschancen für unsere jungen Menschen ab.

Es ist damit auch gelungen, einen Raum in Europa zu stabilisieren, der noch vor 16 Jahren abgetrennt war – nicht nur durch die Mauer und den Zaun zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern auch durch ähnliche Sperrzäune zu den osteuropäischen Ländern. In der breiten Öffentlichkeit ist das, glaube ich, gar nicht mehr so sehr bewusst. Es ist aber wichtig, das an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Es war gar nicht selbstverständlich, dass die Transformation der ehemaligen staatssozialistischen, planwirtschaftlichen Staaten so einfach gelingen würde. Wenn man dorthin reist, merkt man, mit welchen Schwierigkeiten gerade diese Länder zu kämpfen haben. Wenn wir uns klarmachen, dass auch heute noch Mitbürgerinnen und Mitbürger aus BadenWürttemberg in der Bundeswehr im Kosovo oder in Bosnien-Herzegowina Dienst tun, wo diese Transformation leider nicht friedlich abgelaufen ist, dann kann man die europäische Wiedervereinigung mit Fug und Recht als großes Glück für die deutsche Geschichte, für Deutschland und damit eben auch für Baden-Württemberg bezeichnen. Nur wenn Frieden herrscht, können auf Dauer auch Wohlstand und Freiheit gesichert werden.

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Thomas Blenke CDU)

Deshalb stellt sich an dieser Stelle – wenn wir grundsätzlich über Europa diskutieren – auch die Frage: Wie geht es mit diesem Europa eigentlich weiter? Die beiden großen Themen Erweiterung und Vertiefung stehen hier im Mittelpunkt.

Bezüglich der Erweiterung stellt sich die Frage: Wo soll dieses Europa eigentlich aufhören? Gehört Kroatien noch dazu? Wir in diesem Hause waren der klaren Auffassung, dass dem so ist. Gehören dann aber nicht auch Serbien und irgendwann einmal vielleicht auch Albanien, Bosnien und Herzegowina mit dazu, oder soll hier eine weiße Insel bleiben? Das alles sind noch offene Fragen im Hinblick auf eine Erweiterung im Osten Europas.

Daneben laufen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, und es gibt die ungeklärte Zypernfrage. Der Ständige Ausschuss hatte die Möglichkeit, sich vor Ort darüber zu informieren, wie schwierig die Lage in diesem geteilten Inselstaat mit einem nicht anerkannten türkischen Teil und dem griechischzypriotischen Teil ist, gerade angesichts der Haltung in Ankara. Ich denke, auch für uns als Wirtschaftsnation ist es wichtig, dass dazu eine Lösung gefunden wird. Die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist wohl un

ausweichlich. Ich glaube, es gibt keine Alternative dazu, dass wir auf diesem Punkt bestehen. Der Acquis communautaire, die gesetzlichen Regelungen in Europa und die Menschenrechte müssen auch von der Türkei eingehalten werden. Auch in der Zypernfrage sollte man sich in Ankara bewegen, meine Damen und Herren.

Ich glaube, dass wir – in Baden-Württemberg leben eine Million ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, von denen 25 % türkischer Herkunft sind und einen türkischen Pass haben, und hier gibt es mittlerweile auch türkischstämmige Deutsche mit deutscher Staatsangehörigkeit – in diesem Hause einmal die Frage diskutieren sollten, ob nicht gerade die türkischstämmige Bevölkerung in unserem Land auch eine große Chance darstellt und Brücken in die Türkei bauen kann – ob sie nun Vollmitglied in der Europäischen Union werden wird oder ob man andere Formen guter nachbarschaftlicher Zusammenarbeit findet, wie es auch die Landesregierung bisher immer befürwortet hat. Man muss nur in die Schweiz schauen: Auch dieses Land ist eng mit der EU assoziiert, ohne Vollmitglied zu werden.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Es besteht überhaupt kein Zweifel, meine Damen und Herren, dass die Türkei eine europäische Orientierung haben sollte und dass es in unserem Interesse liegt, dass sich die Türkei westlich, europäisch-demokratisch orientiert. Es gibt so viele Schwaben am Bosporus,

(Abg. Rainer Stickelberger SPD: Aber auch Bade- ner!)

dass das doch eine große Chance wäre.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU)

Ich rege deshalb an, dass wir hier in Baden-Württemberg durch eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit den Demokratisierungsprozess in der Türkei aktiv unterstützen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Vielleicht könnte man eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit der Türkei aufbauen, weil die Türkei ja eine wachsende Wirtschaftsnation ist.

Damit möchte ich es in der ersten Runde bewenden lassen. In einer zweiten Runde werde ich auf die Notwendigkeit der inneren Reformen, vor allem der Verfassung in Europa eingehen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Christoph Palmer.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Der Europaausschuss scheint sich schon zu bewähren, denn wir führen eine munterere EU-Debatte als in den vergangenen Jahren.

(Heiterkeit des Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP)

Wir führen sie auch an einen prominenteren Ort. Ich halte das für richtig, denn die EU-Themen sind natürlich ganz wesentliche Themen eines Landes. Nicht immer lassen sie

sich im Verhältnis 1 : 1 operationalisieren und in eine Gesetzgebungstätigkeit umsetzen. Aber die europäische Ebene muss mit bedacht werden, weil sie unser Handeln auf Landesebene immer stärker beeinflusst. Auch deshalb halten wir den Europaausschuss für richtig, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU – Zuruf der Abg. Beate Fau- ser FDP/DVP)

Ich möchte auf ein paar Punkte institutioneller Art eingehen: auf die Verfassungsdiskussion, auf Kroatien und auf die Beitrittsperspektive der Türkei.

Zur Verfassungsdiskussion: Die deutsche Ratspräsidentschaft muss im ersten Halbjahr 2007 die Verfassungsdiskussion wieder „anspringen“ lassen. Wir brauchen einen Zeitplan, wir brauchen Verfahrensregeln. Ich sage deutlich, wir halten nichts von einer neuen Regierungskonferenz. Denn einen besseren Verfassungsvertrag als den vorliegenden wird auch eine neue Regierungskonferenz nicht erbringen. Für uns ist klar: Die CDU möchte den vorliegenden Verfassungsvertrag weitgehend verwirklichen.

Es ist immer nur die Rede von Frankreich und von den Niederlanden. Das Augenmerk sollte aber auch einmal darauf gelegt werden, dass 18 von 25 derzeitigen EU-Staaten den Verfassungsvertrag mittlerweile schon ratifiziert haben. Das heißt, wir sind schon weit fortgeschritten. Für mich ist klar: Bewegung in die Verfassungsdebatte kommt erst, wenn eine handlungsfähige Regierung in den Niederlanden gebildet ist, und vor allem erst dann, wenn die französische Präsidentschaftswahl im ersten Halbjahr 2007 vorbei ist. Dann allerdings sollte der bestehende Verfassungsvertrag zügig durchgesetzt werden. Denn mit den bisherigen unübersichtlichen Vertragsbestandteilen und Einzelverträgen werden wir über kurz oder lang – das ist meine große Sorge – mit dem ehrgeizigen Projekt Europa auf Grund laufen. Deshalb brauchen wir diesen Vertrag, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der SPD und der FDP/DVP)

Zur Beitrittsdiskussion: Die EU-Außenminister haben in dieser Woche – endlich, will ich sagen – die Entkopplung der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien beschlossen. Es werden jetzt unterschiedliche Kapitel zeitlich getrennt verhandelt. Kroatien gehört zu Kerneuropa. Es muss zügig verhandelt werden. Die wirtschaftlichen Probleme des Landes sind ungleich geringer als beispielsweise in den Beitrittsländern Rumänien und Bulgarien. Ich darf an dieser Stelle auch sagen: Wir heißen diese beiden Länder zum 1. Januar 2007 in unserer Gemeinschaft willkommen. Wir sollten in der Tat nicht immer nur die Probleme sehen, sondern auch die Chancen, die gerade für Wirtschaft und Kultur mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens verbunden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Jürgen Walter GRÜNE)

Das Durchschnittseinkommen ist in Kroatien viel höher als in Rumänien und Bulgarien. Die Hausaufgaben in Justiz und Verwaltung erscheinen bewältigbar, sodass eine Perspektive für 2008 oder 2009 da ist. Ich danke Herrn Minister

Willi Stächele dafür, dass er mit Engagement und mit großer Leidenschaft den Vorsitz der gemischten Kommission mit Kroatien wahrnimmt. Ich finde, Baden-Württemberg kann da eine ähnlich gute, konstruktive Rolle spielen, wie wir das bei Ungarn und bei einigen anderen Beitrittsländern der letzten Phase gemacht haben. Wir sollten die nächsten Jahre entschlossen nutzen, um die Verwaltung zu modernisieren und etwas für Kroatien zu tun. Herzlichen Dank für diese Arbeit!

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Mit dann 28 Mitgliedsstaaten wird die EU allerdings vorläufig zu einem Moratorium kommen müssen. Dann gilt die folgende Reihenfolge: zuerst Integration, dann klare Vereinbarung der Spielregeln, Verfassungsvertrag und eine vernünftige Diskussion um die europäische Nachbarschaftspolitik.

Damit bin ich beim letzten Thema, nämlich der Türkei. Hierbei möchte ich betonen: Ich bin gegen eine isolierte TürkeiDebatte. Diese Gemeinschaft muss über alle ihre Randzonen in einer vernünftigen Art und Weise gemeinsam diskutieren. Andernfalls wird sich das Türkei-Problem bei der Ukraine, die ebenfalls einen Beitrittsantrag gestellt hat, bei Weißrussland, beim Kaukasus – denken Sie an Georgien –, im Nahen Osten, im Maghreb, also an allen Rändern der Gemeinschaft wiederholen.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Gerade deshalb sage ich, dass das Konzept der privilegierten Partnerschaft, wenn es einmal an einem Rand ausprobiert wurde, zukunftweisend ist. Es ist keine Diskriminierung, sondern der richtige Ansatz, zu sagen: Es gibt für die Türkei nicht die volle Mitgliedschaft, sondern eine abgestufte Mitgliedschaft in Form der privilegierten Partnerschaft und in konsequenter Weiterentwicklung der Assoziierung, die wir in den letzten 40 Jahren betrieben haben.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Die Vollmitgliedschaft funktioniert nicht. Sie funktioniert von beiden Seiten her nicht. Wirtschaftlich würden wir uns überfordern, und das würde die EU sprengen. Die Türkei ihrerseits ist aber auch nicht bereit, von ihrem spezifischen Weg abzugehen. Es ist doch nicht vertretbar – das hat bislang auch kein Redner der Opposition hier unterstützt –, dass ein rechtmäßig abgeschlossener Vertrag, das AnkaraProtokoll, einfach nicht umgesetzt wird und die Türkei seit einem Jahr nicht bereit ist, Freizügigkeit für Zypern zu gewährleisten. Das darf es innerhalb der Europäischen Union, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht geben.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm und Abg. Tho- mas Blenke CDU: Jawohl! – Abg. Ulrich Lusche CDU: Sehr gut!)

Es geht um die Rolle der Minderheiten, und es geht um die Kirchen. Die Türkei bekennt sich zum Kemalismus, zu einer dominierenden Rolle des Militärs. Der Generalstabschef hat vor zwei Tagen gesagt: „Ich bin weder informiert

noch konsultiert worden“, und sofort ist die Regierung zum Ankara-Protokoll, zur Öffnung eines Hafens, eingeknickt. Es ist doch bizarr, dass ausgerechnet die Grünen den Weg zur Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union unterstützen – eines Landes, in dem die minimalen rechtsstaatlichen Grundlagen, die Mindeststandards an Rechtsstaatlichkeit in dieser Art und Weise nicht gewährleistet sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP – Abg. Boris Palmer GRÜNE: Solange das so ist, unterstützen wir den Beitritt auch nicht!)

Die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen – von acht der 35 Kapitel – durch die Außenminister ist richtig. Es wird dreimal Bewertungen geben: 2007, 2008 und 2009. Unsere große Sorge der vergangenen Jahre, dass es bei dem Weg der Türkei zur Europäischen Union einen schleichenden Automatismus geben wird, braucht nicht mehr länger aufrechterhalten zu werden. Jetzt ist die Zeit für Realismus angebrochen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, die Enttäuschung für die Türkei wäre am Ende dieses Weges viel größer – dann wäre wirklich Porzellan zerschlagen –, wenn jahrelang verhandelt worden wäre und erst am Ende Nein gesagt werden würde. Auch Herr Hofelich hat für die SPD hier im Übrigen ein klares Bekenntnis zur Vollmitgliedschaft vermieden. Jetzt ist noch Gelegenheit, den Prozess zu stoppen