Protocol of the Session on October 5, 2005

Herr Kollege Bayer, ich nehme ein Zitat vorweg als Antwort auf das Zitat, das Sie angeführt haben. Ich zitiere den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfamilienministerium aus dem Jahr 2002, also aus der Zeit eines Bundesfamilienministeriums unter Führung der SPD.

(Zuruf des Abg. Capezzuto SPD)

Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfamilienministeriums hat in einer Stellungnahme zu der Frage „Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Familienpolitik und PISA?“ – ein anderer Aspekt, der aber mit unserem Thema durchaus etwas zu tun hat –, Folgendes gesagt – nicht nur in einem Satz, sondern das war die durchgängige Linie seiner gesamten Stellungnahme –:

Das in Familien vermittelte und angeeignete Humankapital stellt die wichtigste Voraussetzung und die wirksamste Grundlage des lebenslangen Lernens dar.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Fleischer CDU: So ist es! – Lebhafte Zurufe von der SPD, u. a. Abg. Capezzuto: Das be- streitet doch niemand! – Abg. Wintruff SPD: Wo ist da der Zusammenhang? – Abg. Herrmann CDU: Es war offenbar zutreffend!)

Ein Satz, den man sich vielleicht auch an anderer Stelle merken sollte: Wir lösen Probleme in Familien nicht dadurch, dass wir den Familien die Kinder wegnehmen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Oh-Rufe von der SPD – Zurufe von der SPD)

Ja. Die Schule hat nicht eine ersetzende, sondern eine ergänzende Funktion.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP – Abg. Fleischer CDU: So ist es!)

Jetzt will ich das Thema an dem speziellen Problem der kleinen Kinder und ihres Medienkonsums noch verdeutlichen. Ich komme dabei natürlich noch einmal auf Herrn Professor Spitzer und andere Hirnforscher zurück. Die Sprache – –

(Abg. Capezzuto SPD: Der Schavanismus hört nicht mehr auf! – Abg. Wintruff SPD: Sie sind ein Macho! – Heiterkeit)

Sie sind der Erste, der das behauptet.

(Heiterkeit – Abg. Döpper CDU: Der weiß nicht, was ein Macho ist! – Abg. Walter GRÜNE: Frag mal den Mario!)

Ich will mich nicht revanchieren und fragen, wer von uns der größte Macho ist. Sei es drum.

(Abg. Walter GRÜNE: Dazu kann nachher der Ma- rio was sagen!)

Sprachentwicklung bei kleinen Kindern, Verhalten zur Umwelt, beispielsweise Aufmerksamkeit, emotionale Entwicklung: Diese Dinge geschehen durch das Gegenteil dessen, was Fernsehen bietet. Es setzt nämlich persönliche Zuwendung, Zeit, Vertrauen, Intensität, Variation, Anpassung an Situationen, Wiederholung voraus. All das setzt stabile persönliche Beziehungen voraus. Dadurch entsteht Sprachentwicklung, die übrigens nach Erkenntnissen der Hirnforschung zwischen dem fünften und dem achten Lebensjahr abgeschlossen ist und nicht erst dort beginnt.

(Abg. Theurer FDP/DVP: Richtig!)

Das heißt, diese frühkindliche Phase bezüglich der Entwicklung solcher Fähigkeiten findet ihren unmittelbaren Widerspruch in der Art und Weise, wie Fernsehen funktioniert.

Deshalb haben wir, glaube ich, hier die Aufgabe, massiv etwas zu tun.

(Abg. Theurer FDP/DVP: Sehr richtig!)

Wir müssen einerseits die heutigen Sprachdefizite, die wir unter dem Stichwort „mangelnde Schulreife“ feststellen, reparieren. Auf der anderen Seite müssen wir uns aber doch eigentlich wundern, dass es dieses Problem überhaupt gibt, und sollten nicht nur reparieren, sondern einmal daran denken: Was müssen wir denn tun, damit es erst gar keinen Reparaturbedarf gibt? Das ist doch die entscheidende Frage.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Es ist nicht nur ein Mangel an Sprachkompetenz, den wir bei kleinen Kindern erleben, sondern wir stellen bei 20 % der Grundschüler Verhaltensauffälligkeiten fest.

(Abg. Birgit Kipfer SPD: Was machen Sie denn da?)

Wir haben das Problem der Kurzzeitkonzentrationskinder, so schön KKK genannt, und, und, und. Meine Damen und Herren, hier haben wir es mit einem massiven Problem zu tun.

(Abg. Capezzuto SPD: Welches Konzept haben Sie, Herr Kollege?)

Ich habe auf diese Frage gewartet und will kurz etwas dazu sagen.

Erstens: Ich glaube, im Mittelpunkt muss in der Tat stehen: Weil die Dinge im Kinder- und im Wohnzimmer stattfinden, muss die Befähigung der Eltern erreicht werden, und zwar mithilfe des Kindergartens, mithilfe der Schule und mithilfe von Elterneinrichtungen, von Elternseminaren, in denen medienpädagogisches Material auch den Eltern zur Verfügung gestellt wird, die sich nicht selber um das Problem kümmern, weil sie es verkennen.

(Abg. Oelmayer GRÜNE: Die gehen da doch gar nicht hin!)

Die gehen nicht hin, in der Tat, das ist das Problem. Deswegen muss aktiv etwas geschehen, sodass wir auch an diejenigen Eltern herankommen, die die Probleme verkennen, die Herr Bayer angesprochen hat und die ich eben wiederholt habe. Das ist zunächst einmal, glaube ich, die große Aufgabe, Eltern dazu zu befähigen, etwa den Gesichtspunkt „Menge des Fernsehkonsums, Lebensalter, Selektion der Sendungen“ zu erkennen. Ein weiterer praktischer Hinweis könnte sein, dass der eigene Fernsehkonsum der Eltern und der Fernsehapparat im Kinderzimmer ein Problem sind.

(Abg. Walter GRÜNE: Gibt’s eigentlich keine Re- dezeit? – Glocke des Präsidenten)

Herr Abg. Müller, darf ich Sie bitten, zum Ende zu kommen?

Jawohl. – Zweitens – ich mache es in aller Kürze –: Wir brauchen noch mehr Forschung, und zwar Wirkungsforschung und nicht nur Tatbestandserhebung. Zu gleicher Zeit brauchen wir eine Forschung hinsichtlich der Abhilfestrategien. Ich glaube, dass sich hier unter dem Stichwort „Kinderland Baden-Württemberg“ ein weites Feld auftut.

Drittens: Wir brauchen mehr Verantwortung der Medienproduzenten und ihrer Aufsichtsgremien.

Viertens: Wir brauchen die Förderung des Lesens. Die Nutzung von elektronischen Medien im Verhältnis zu Lesemedien liegt bei den 13- bis 16-Jährigen bei 20 : 1. 20-mal mehr werden elektronische Medien genutzt als Bücher gelesen. Das muss ein Problem für die kulturelle Entwicklung unseres Landes sein.

(Abg. Walter GRÜNE: Da sind wir uns einig!)

Fünftens: Wir brauchen generell mehr Prävention bei diesem Thema und weniger Reparatur.

Lassen Sie uns die Gemeinsamkeiten, die hier deutlich geworden sind, nutzen. Es muss etwas geschehen. Das hat die Debatte gezeigt, und ich bin dankbar dafür, dass wir sie führen konnten.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Noll FDP/ DVP)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Kipfer.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege Müller, ich bin gespannt, was nach diesem fulminanten Vortrag darüber, was alles geschehen kann, jetzt geschieht.

(Abg. Alfred Haas CDU: Alles!)

Das werden wir sehen, spätestens in der nächsten Legislaturperiode.

Diese Debatte hat ja einen etwas merkwürdigen Charakter. Sie ist nicht aktuell, denn die Untersuchungen gibt es schon länger. Pfeiffer ist nicht der Erste, der diese Erkenntnisse hat.

(Abg. Drexler SPD: So ist es!)

Im Übrigen fühle ich mich sehr erinnert an die Debatten, die in diesem Hause vor etwa 25 Jahren stattfanden, als es um die Einführung des privaten, kommerziellen Fernsehens ging. Damals hat unser damaliger Fraktionsvorsitzender auf diese drohende Entwicklung hingewiesen, während es der CDU gar nicht schnell genug gehen konnte, kommerzielles Fernsehen einzuführen. Insofern kann ich es nur als das Abwischen von Krokodilstränen betrachten, wenn Sie das heute zum Thema machen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will die Analyse gar nicht fortsetzen. Aber wir müssen feststellen: Wir müssen uns von Medienwirkungstheorien verabschieden, die von interessierter Seite immer wieder vorgebracht werden, wie zum Beispiel der, dass Gewaltdarstellungen Zuschauer und damit auch Jugendliche von ihrer eigenen Aggression befreien würden und dass das in diesem Sinne gut wäre. Dies war eine lange Zeit verbreitete These.

Wir müssen uns auch über den Mechanismus des Jugendmedienschutzes unterhalten. Der zitierte Jugendmedienschutz-Staatsvertrag beinhaltet eine Überprüfungsklausel, wonach binnen der folgenden fünf Jahre – also spätestens bis zum Jahre 2008 – die Arbeit der KJM überprüft wird. Der Vorsitzende der KJM hat kürzlich einen Vortrag gehalten und eine sehr ambivalente Stellungnahme abgegeben.

Vor dem Hintergrund der neueren Forschung muss man sich eben fragen, ob die freiwillige Selbstkontrolle oder auch die Bewertung der KJM dem Problem angemessen sind. Man hat sich bisher um ausschweifende, verbotene Inhalte gekümmert, also um Rassenhass, Pornografie, exzessive Gewalt. Aber dass dies sehr viel differenzierter betrachtet werden muss, liegt, glaube ich, auf der Hand.

In § 5 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags steht unter der Überschrift „Entwicklungsbeeinträchtigende Angebote“: