Protocol of the Session on November 27, 2003

(Beifall bei den Grünen)

Leider gibt es für komplexe Probleme keine einfache Lösung. Wir brauchen eine grundlegende Reform der beruflichen Bildung und Ausbildung. Hier gäbe es im Land – wenn es denn auf Interesse stoßen würde – eine ganze Menge zu tun.

Ich möchte Ihnen erst einmal ein paar Stichpunkte zu den Problemen nennen, gegen die wir etwas tun sollten: eine geringer werdende Ausbildungsneigung der Betriebe und die Konjunkturabhängigkeit der dualen Ausbildung. Nur noch 30 % der Betriebe bilden aus, aber viele Betriebe nehmen ausgebildete Kräfte gern in Anspruch. Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen wird steigen. Das Berufswahlverhalten der Jugendlichen hat sich verändert. Die Ausbildungsfähigkeit wird bei steigenden Anforderungen von den Unternehmen häufig infrage gestellt.

Wir haben das ganz grundlegende Problem, dass das gegenwärtige Ausbildungssystem nicht an die Dienstleistungsge

sellschaft angepasst ist. Es ist also gerade nicht an den Bereich angepasst, der zukünftig groß ausgebaut wird. Schon jetzt arbeiten nur ein Viertel der Beschäftigten in der Region Stuttgart in Fertigungsberufen; also arbeiten drei Viertel im Dienstleistungsbereich. Aber gerade in diesem Bereich fehlen viele Ausbildungsplätze.

Was ist jetzt zu tun? Wir müssen die berufliche Bildung und Ausbildung grundlegend reformieren. Wir brauchen eine Modularisierung der Ausbildung. Wir brauchen mehr Kooperation zwischen schulischer und dualer Ausbildung und nicht die Konkurrenz, die bisher besteht. Das macht überhaupt keinen Sinn. Es geht vielmehr darum, dass beides gleichermaßen anerkannt wird. Der Blick auf die Nachbarn in Österreich und der Schweiz zeigt, dass dies sehr gut machbar ist und auch zu Erfolgen führt.

Wir brauchen eine schnellere Entwicklung von neuen, zukunftsfähigen Berufsbildern, eine Modernisierung des Prüfungswesens und eine Stärkung des regionalen Ausbildungsmanagements, um nur einige Punkte zu nennen.

Grundlage und Dreh- und Angelpunkt ist aber, dass die Schülerinnen und Schüler, die Jugendlichen die allgemein bildenden Schulen mit einem Abschluss verlassen, damit sie auch eine Ausbildung antreten können. Hier hat die Landesregierung noch sehr viel zu tun. Wir wissen, dass der PISA-Studie zufolge in Baden-Württemberg 18 % nur die unterste Kompetenzstufe erreichen.

Es gibt Integrationsdefizite bei den ausländischen Jugendlichen. Das können Sie gerade heute wieder in der Zeitung nachlesen. Der IHK-Strukturbericht 2003 legt dies dar. Wir haben eine viel zu frühe Festlegung auf die weiterbildenden Schulen, eine mangelnde Durchlässigkeit usw.

(Abg. Dr. Birk CDU: Für wen?)

Es ist bezeichnend, dass auch die Handwerkskammer, ein Hauptakteur der beruflichen Bildung, darauf besteht, dass man im Schulwesen einen kompletten Systemwechsel vollzieht. Deshalb sage ich zu den Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen: Die CDU stellt seit 50 Jahren die Kultusminister des Landes und jetzt die Kultusministerin. Machen Sie Ihre Hausaufgaben! Wer selber im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen auf andere werfen.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Wort erteile ich Herrn Wirtschaftsminister Dr. Döring.

Sehr geehrter Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Weckenmann, ich kenne niemanden, der sich in den unterschiedlichen Organisationen der Wirtschaft oder auch im Zusammenhang mit Berufsausbildungsausschüssen für eine Ausbildungsplatzabgabe einsetzt. Im Gegenteil ist es so, dass das Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung und viele andere, die für Ausbildung Verantwortung tragen, eine solche Ausbildungsplatzabgabe entschieden ablehnen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es!)

(Minister Dr. Döring)

Sie lehnen sie als bürokratisches Monster ab. Sie lehnen sie ab, weil sie zusätzliche Belastungen darstellt, und sie lehnen sie vor allen Dingen deshalb ab, weil sie alle davon überzeugt sind, dass eine solche Ausbildungsplatzabgabe keinen einzigen zusätzlichen Ausbildungsplatz schafft. Das ist das entscheidende Argument: Sie richten etwas ein, was den Betroffenen überhaupt nicht hilft, an keiner einzigen Stelle.

Deswegen wäre es sehr recht, wenn Sie auch von sich aus sagen könnten – denn Sie wirken ja in verschiedenen Gremien mit, bei denen es darum geht, Ausbildungsplätze zu schaffen –: Nehmen wir dieses Kampfinstrument einfach weg, und konzentrieren wir uns auf andere Bereiche, die erfolgversprechender sind.

Bevor wir dazu kommen, was erfolgversprechende Instrumente sein können, will ich Ihnen einmal konkret die Situation Ende des Jahres 2003 in Baden-Württemberg darstellen. Der erste und wichtigste Punkt – dafür können wir alle nur dankbar sein – ist, dass die prophezeite Lehrstellenkatastrophe bei uns nicht eingetreten ist. Ich möchte auch jetzt schon, am Ende dieses Jahres, davor warnen, im Mai des nächsten Jahres, wie es seit vielen Jahren geradezu Mode und schon Tradition geworden ist, vorausschauend wieder eine Lehrstellenkatastrophe auszurufen. Es ist ein blanker Unfug, so etwas zu machen, und es hilft überhaupt nicht. Wir haben sie in Baden-Württemberg aufgrund der Anstrengungen all derer, die sich gesamtgesellschaftlich der gesamten Verantwortung stellen und Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, erfreulicherweise nicht. Baden-Württemberg hatte, verehrte Frau Weckenmann, Ende September als einziges Bundesland mehr unbesetzte Lehrstellen als nicht vermittelte Bewerber. Ich halte das für eine großartige Leistung der Betriebe hier bei uns in Baden-Württemberg. Dafür können wir nur dankbar sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Ab- geordneten der SPD)

Wir haben den Rückgang der Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge als moderat zu bezeichnen. Er liegt in einem Bereich von etwa 2 %. Vor dem Hintergrund der aktuellen konjunkturellen Situation, auf die Herr Hofer zu Recht hingewiesen hat, ist das ein recht erfreuliches Ergebnis.

Aber, Kolleginnen und Kollegen, wo liegen denn die Probleme? Die Probleme liegen darin, dass wir bei uns pro Jahr 9 000 Jugendliche haben, die die allgemein bildenden Schulen ohne Hauptschulabschluss verlassen. 9 000 pro Jahr!

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Wer ist dafür verant- wortlich?)

Herr Kretschmann, der Reihe nach. Ich mache doch gar keine Schuldzuweisung. Im Moment bin ich nur einmal bei der Darstellung der Situation.

(Abg. Schmiedel SPD: Wieso ist Frau Schavan nie da, wenn wir so etwas diskutieren? Das geht sie doch etwas an!)

13 000 Jugendliche befinden sich im Berufsvorbereitungsjahr, und 6 200 befinden sich in berufsvorbereitenden Maß

nahmen der Arbeitsverwaltung. Das ist der entscheidende Punkt, um den wir uns kümmern müssen und auf den ich auch das Augenmerk legen möchte: Es ist dringend notwendig, dass wir uns bei der gesamten Ausbildungssituation auf die Theorieschwachen konzentrieren und ihnen Hilfestellung geben,

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr gut! – Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

dass wir nicht zu 16-, 17-Jährigen sagen: „Aufgrund deines schlechten oder fehlenden Schulabschlusses fangen wir mit dir nichts an.“ Es gibt doch nichts Schlimmeres, als jemanden zu Beginn seines Berufslebens gleich einmal auszusortieren und als nicht brauchbar darzustellen.

(Beifall bei allen Fraktionen – Abg. Kleinmann FDP/DVP: Genau!)

Das ist der entscheidende Punkt, um den wir uns in allen Bereichen kümmern müssen.

Dazu gehören, wie Sie zu Recht sagen, eine ganze Reihe von Maßnahmen im schulischen Bereich; das ist überhaupt keine Frage. Aber dazu gehört auch noch etwas anderes: Frau Weckenmann, es wäre sehr hilfreich – ich kenne nicht die Position der Grünen dazu –, wenn wir uns in diesem Bereich auch etwas mehr für die zweijährigen Berufsausbildungsgänge öffnen könnten.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP – Abg. Kretschmann GRÜNE: Wir haben es schon vor zwei Jahren vorgeschlagen!)

Umso besser. – Sie wissen, dass wir selbst dann, wenn wir die Maßnahmen, die Sie ansprechen, heute in der Schule auf den Weg bringen, womöglich noch mindestens für ein Jahrzehnt mit vergleichbaren Zahlen bezüglich der Theorieschwächeren leben müssen. Da reicht es doch nicht aus, dass wir nach jahrelangen Kämpfen fünf, sechs Modellregionen in Baden-Württemberg – Göppinger Modell, Offenburger Modell, wie sie alle heißen – bekommen, in denen wir diese Projekte auch ausprobieren können, wo wir schauen können, ob es etwas bringt, ob es etwas hilft, ob wir da ein Stück vorankommen. Sie müssen vielmehr

(Abg. Schmiedel SPD: Das Offenburger Modell sieht zwei Jahre vor!)

endlich zulassen, dass wir den Theorieschwächeren landesweit mit solchen zweijährigen Ausbildungsgängen entgegenkommen können, damit auch sie eine berufsqualifizierende erste Berufseinstiegsmöglichkeit bekommen. Das halte ich für einen ganz zentralen Punkt.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Wieser CDU: Sehr gut!)

Aber mit Ihrer Seite haben wir immer eine Auseinandersetzung darüber – Sie können ja in der zweiten Runde noch einmal Stellung nehmen, Frau Weckenmann –, dass Sie sagen, es bestehe die Gefahr des Einstiegs in den Niedriglohnsektor. Das ist doch überhaupt nicht so. Vielmehr haben die jungen Menschen die Chance, sich auch baukastenmäßig weiterzuqualifizieren. Wenn ein Jugendlicher nach zwei Jahren einmal einen ersten berufsqualifizierenden Ab

(Minister Dr. Döring)

schluss hat und in einem Betrieb ist, dann wird er sehr rasch sehen: „Das, was der andere kann, kann ich doch womöglich auch“, und wird sich weiterqualifizieren. Das ist keine Endstation, sondern er kann ja noch weitermachen. Geben Sie da doch bitte die Widerstände auf, damit wir endlich zu diesen Ausbildungsbereichen kommen und dort mehr erreichen können, als es bisher der Fall ist.

Ferner wollte ich Ihnen auch gerne etwas dazu sagen, was die Ausbildungsbereitschaft von Großbetrieben und kleineren Betrieben angeht. Ich warne ganz entschieden davor, hier große Betriebe gegen kleine Betriebe ausspielen und sagen zu wollen, die großen bildeten nicht aus und nähmen den kleinen Betrieben und dem Handwerk die Ausgebildeten weg. Das entspricht nicht der Realität. Ich bin froh darüber, dass wir zum Beispiel bei Bosch, Daimler-Chrysler und Porsche für 2003 und 2004 mehr Ausbildungsplätze haben als in den Vorjahren.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es! Richtig! – Abg. Ruth Weckenmann SPD: Habe ich aber auch nicht gesagt!)

Deswegen darf man sie nicht gegeneinander ausspielen. Wir brauchen sie beide. Wir brauchen die kleinen, wir brauchen die mittleren und wir brauchen die großen Betriebe, um der Ausbildungssituation in den nächsten Jahren auch tatsächlich gerecht zu werden.

Wir haben von unserer Seite aus untersuchen lassen, woran es liegt, dass wir diese theorieschwächeren Jugendlichen haben, dass wir die hohe Zahl an Jugendlichen haben, die ohne einen Schulabschluss oder mit einem nur sehr schlechten kommen. Ich werde der Reihe nach darstellen, welche Konsequenzen daraus sowohl in der Schule als auch bei den Betreuungsaufgaben danach als auch bei der Hilfestellung beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung gezogen werden müssen.

Ich nenne Ihnen einen weiteren Punkt, um den wir uns kümmern müssen. Was machen wir eigentlich mit denen, die ihre Ausbildung abbrechen? Wir haben eine ungeheuer hohe Zahl – nach wie vor um die 20 % – Ausbildungsabbrecher. Was machen wir eigentlich mit denen? Denen müssen wir genauso eine Chance geben, eine Ausbildung zu erreichen.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Wer regiert denn? – Abg. Schmiedel SPD: Wer regiert denn? Wieso fragen Sie uns?)

Lieber Herr Kollege Kretschmann, ich sage Ihnen, worum wir uns kümmern müssen, weil wir bei den Bereichen, verehrter Herr Schmiedel, die Widerstände von den Gewerkschaften haben. Das ist der Punkt. Da könnten Sie vielleicht behilflich sein.

(Beifall des Abg. Dr. Birk CDU)

Es geht doch darum, dass wir – wenn Sie in diesen Bereichen immer sagen: „Was fragen Sie uns? Macht ihr es doch!“ – es ja machen wollen.

(Abg. Schmiedel SPD: Aber Sie stellen nur Fra- gen!)

Wer verhindert denn die zweijährigen Ausbildungsgänge?