Protocol of the Session on October 30, 2003

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 53. Sitzung des 13. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie.

Urlaub für heute habe ich Herrn Abg. Junginger erteilt.

Krank gemeldet ist Herr Abg. Kaufmann.

Dienstlich verhindert ist Herr Minister Dr. Döring.

(Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Oh!)

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – Belastung der Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg durch das ungerechte und unsolidarische CDU-Konzept zur Kopfpauschale in der Krankenversicherung – beantragt von der Fraktion der SPD

Es gilt die übliche Redezeit von fünf Minuten für die einleitenden Erklärungen der Fraktionen und fünf Minuten für die Redner in der zweiten Runde.

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Drexler.

(Abg. Nagel SPD: Sehr gut!)

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Abg. Dr. Inge Gräßle CDU: Wo waren Sie ges- tern? Wir haben Sie vermisst!)

Ich bin halt ein gefragter Mann und muss an vielen Veranstaltungen teilnehmen. Ich kann abends nicht einfach nur essen gehen, Frau Kollegin. Das ist halt ein Unterschied.

Wir möchten heute über das Kopfprämienmodell der CDU reden.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Nicht Kopftuch?)

Vielleicht sollte man einfach einmal von Anfang an erklären, wie sich die CDU das vorstellt. Dieser dauerhaft gedeckelte Arbeitgeberanteil von 5,4 %, der bisher in BadenWürttemberg zum Beispiel für die AOK-Versicherten bezahlt wird, soll im Grunde genommen den Versicherten wieder zurückgegeben werden. Das heißt, dass der gut Verdienende von seinem Arbeitgeber mehr zurückbekommt als

der gering Verdienende. Wenn der Arbeitnehmer dann für seine Krankenversicherung eine Kopfprämie bezahlt, die für jeden gleich ist, dann sieht es natürlich so aus, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, dass jemand mit einem Bruttoeinkommen von 1 000 € eine Belastung – nach Rückzahlung des Arbeitgeberanteils und Bezahlung der Kopfprämie – von zusätzlich 210 € hat, das heißt eine Mehrbelastung um das Dreieinhalbfache gegenüber dem jetzigen Zeitpunkt. Der gut Verdienende, der 4 000 € brutto verdient, hat gegenüber seiner jetzigen Belastung ein Plus von 179 €. Das ist im Grunde genommen eine völlige Entsolidarisierung der Krankenversicherung.

(Beifall bei der SPD)

Noch schlimmer wird es im Übrigen, wenn auch noch die Ehefrau mit dabei ist. Dann belasten Sie die Familien in einem ungeheuren Ausmaß.

Nun sagte Frau Merkel am 7. Oktober wörtlich: „Hausmeister und Manager sind vor dem Herrgott gleich. Deswegen sollen sie auch die gleiche Krankenversicherungsprämie bezahlen.“

(Zurufe von der SPD, u. a. Abg. Capezzuto: Lieber reich und gesund!)

Das Problem ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU: Bei der CDU sind Hausmeister und Manager zwar vor Gott gleich, aber bei der CDU wird der Manager entlastet und der Hausmeister belastet. Das ist die Konsequenz Ihrer Kopfprämie.

(Beifall bei der SPD)

Das heißt, der Arbeitgeber finanziert durch seinen Arbeitgeberzuschuss für die gut Verdienenden die Kopfprämie fast vollständig, während der Geringverdiener die Mehrbelastung durch die Kopfprämie fast allein aus seiner eigenen Tasche bezahlt.

Die Prinzipien von Gerechtigkeit und Solidarität werden dadurch auf den Kopf gestellt. Aber es gibt ja auch die Frage, ob das, was die CDU hier macht, grundsätzlich noch verfassungsgemäß und mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes in Einklang zu bringen ist.

Jetzt versuchen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich herauszureden, dass man das anschließend ja wieder umverteilen und 27,3 Milliarden € irgendwo herholen könnte. Das wäre ein Zehntel des Bundeshaushalts. Dieses Geld ist doch überhaupt nicht vorhanden.

Die „Stuttgarter Zeitung“ hat hierzu geschrieben:

Wenn die CDU-Chefin Angela Merkel ein Modell in der Krankenversicherung favorisiert, das vorsieht, den Bundesetat mit knapp 30 Milliarden € zu belasten, dann darf man schon am finanzpolitischen Sachverstand zweifeln.

Daran zweifle ich auch.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Niemand sagt, wo man dieses Geld herholen soll.

Die dritte Konsequenz ist eine fundamentale Belastung der Familien und Frauen. Ein Durchschnittsverdiener mit 2 000 € monatlich zahlt gegenwärtig für sich und seine Frau, die beitragsfrei mitversichert ist, 149 €. Nach dem CDU-Kopfprämienmodell muss er später zusätzlich 270 € bezahlen. Das muss man sich einmal vorstellen, wie Sie ihn belasten! Im Übrigen treiben Sie die Frauen fast zwangsweise zur Arbeit, damit sie ihren Kopfprämienanteil an der Krankenversicherung selber verdienen können, weil diesen der Mann nicht mitbezahlen kann. Das ist die Konsequenz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was Sie hier machen, ist im Grunde genommen, den sozialen Ausgleich, der bisher in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Krankenversicherung geherrscht hat, auf den Kopf zu stellen. Bisher gab es einen vierfachen sozialen Ausgleich in der Krankenversicherung: von gesunden zu kranken Versicherten – den Risikoausgleich –, von höheren zu niedrigeren Arbeitsentgelten – die Eigentumsumverteilung –, von Alleinstehenden zu Familien – den Familienlastenausgleich – und von jungen zu alten Versicherten, den Generationenausgleich. Das war vernünftig und war auch der soziale Kitt in der Bundesrepublik Deutschland. Diesen sozialen Ausgleich stellen Sie im Grunde genommen auf den Kopf.

Ich frage Sie: Was ist das für eine Idee? Ich habe gestern den Herrn Ministerpräsidenten erlebt, wie er immer von Bürokratieabbau gesprochen hat. Zuerst holen Sie den gering Verdienenden das Geld aus der Tasche, und dann machen Sie eine gigantische Umverteilungsorgie, angeblich über Steuern, und müssen unisono Beamte einstellen, um das viele Geld, nämlich über 30 Milliarden €, nachher den Leuten wieder, über welches System auch immer, in die Taschen zurückzugeben. Hier von Entbürokratisierung zu sprechen ist ein absoluter Unsinn.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Lesen Sie einmal nach, was Herr Geißler in der letzten Ausgabe der „Zeit“ in einem Interview von sich gegeben hat. Er hat gesagt: Diese Umverteilungsmaschinerie ist völlig katastrophal, ist ein bürokratischer Aufbau. Er hat dafür plädiert, die jetzige Umverteilung innerhalb der Krankenversicherung bestehen zu lassen, weil alles andere auch Ihre eigenen Wurzeln, sage ich jetzt einmal zur Volkspartei CDU, abschneidet, nämlich die der christlichen Soziallehre.

Wenn Frau Merkel, die natürlich eine ganz andere Geschichte hat, davon spricht, wenn jeder in der Krankenversicherung das Gleiche zahle, sei das Freiheit,

(Abg. Carla Bregenzer SPD: Sozialismus!)

würde ich Ihnen empfehlen, einmal darüber nachzudenken, was Sie unter dem Begriff Freiheit verstehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Haas.

(Lachen bei der SPD – Abg. Gall SPD: Um Gottes willen! Und das am frühen Morgen!)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Am frühen Morgen ein Parteitagsthema im Landtag zu beraten ist schon etwas Außergewöhnliches.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Wenn wir jetzt alle so viele Zwischenrufe machen wie Sie sonst dau- ernd, kommen Sie sowieso nicht zu Wort!)

Ich habe noch einen Kollegen, der in der zweiten Runde spricht. Der wird es dann ausbügeln, wenn ich nicht zu Wort komme, lieber Herr Kretschmann.

Trotzdem ist natürlich völlig klar, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen müssen. Ich frage mich allerdings, ob wir uns hier im Landtag mit dem Prämienmodell beschäftigen müssen. Das ist ja, wie Sie, Herr Drexler, wissen, ein Bestandteil des Herzog-Papiers, das Anfang Dezember auf dem Bundesparteitag der CDU beraten werden wird. Wir sind also mitten in einer Debatte über die Zukunftsfestigkeit der sozialen Sicherungssysteme.

Dass Sie sich daran beteiligen, ist ganz gut. Ich hätte allerdings erwartet, dass Sie dann wenigstens einmal Ihre Alternativen aufzeigten. Sie haben ja auch, lieber Herr Drexler, von Regierungsseite aus eine Kommission beauftragt, nämlich die Rürup-Kommission.

(Abg. Fischer SPD: Unsere Positionen sind klar!)

Es wäre ja einmal interessant, über diese Dinge zu sprechen, aber Sie haben sie links liegen lassen. Sie sind zu feige, die Dinge aufzugreifen und der Bevölkerung zu sagen, wie Sie die Systeme zukunftsfest machen wollen. Das ist die Wahrheit in der ganzen Geschichte.