Protocol of the Session on July 16, 2003

Es sind auch einige Punkte genannt worden, bei denen man noch nicht ganz zufrieden sein kann. Ich greife nur noch einmal die Frage der Mehrheitsentscheidungen heraus. Natürlich ist erkennbar, dass Europa auf dem Weg von bisherigen Einstimmigkeitsprinzipien hin zu Mehrheitsentscheidungen ist. Die Anzahl der Fälle, in denen jetzt tatsächlich Mehrheitsentscheidungen praktiziert werden können, ist auch deutlich größer geworden, aber leider nicht im Bereich einer europäischen Außenpolitik. Da fehlt offensichtlich noch die Bereitschaft der souveränen Staaten, auch in diesem zentralen Bereich zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Solange dies so ist, wird es schwer sein, der Europäischen Union europaweit und international ein stärkeres Gewicht zu verschaffen.

Meine Damen und Herren, mir steckt der europäische Meinungswirrwarr über die Irak-Krise noch immer in den Knochen, und wir dürfen uns mit diesem Ergebnis an dieser Stelle auch nicht zufrieden geben. Wir müssen erreichen, dass Europa in der internationalen Politik endlich mit einer Stimme spricht. Das ist eine Verpflichtung, die aus dem Konventsergebnis herauszulesen ist.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU)

Ich will deutlich sagen, dass wir über die Parteigrenzen hinweg erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um den Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern, die Konventsergebnisse nahe zu bringen. Ich halte es für richtig, diesen Prozess des Nahebringens so zu organisieren, meine Damen und Herren, dass die Bürgerinnen und Bürger in einer Volksabstimmung über die Europäische Verfassung befinden können.

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Kretsch- mann GRÜNE)

Dazu hat die FDP-Bundestagsfraktion einen entsprechenden Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag eingebracht. Darüber wird zu beraten sein.

Meine Damen und Herren, die Entscheidung über die Annahme einer Verfassung ist die grundlegendste aller politischen Entscheidungen. In einer Verfassung verständigen sich Bürgerinnen und Bürger über den Inhalt, über die Grenzen, über die Organisation, über die Ausgestaltung und über die Verteilung von politischer Macht. Wenn eine Europäische Union in der Zukunft nicht mehr nur eine Union der Staaten, sondern vor allem eine Union der Bürgerinnen und Bürger sein will, dann braucht ein solcher Verfassungstext auch die unmittelbare Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger.

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Kretsch- mann GRÜNE)

Denn wenn den Bürgerinnen und Bürgern ein echtes Mitwirkungsrecht zur Verfügung steht, wird es aus meiner Sicht besser gelingen, sie auf dem weiteren Weg des Integrationsprozesses mitzunehmen und sie für die europäische Idee zu begeistern.

Meine Damen und Herren, ich kenne die Einwände gegen eine solche Volksabstimmung. Zum Beispiel wird da beklagt, dass es zu wenig europäische Öffentlichkeit gebe, und es wird beklagt, dass es zu wenig Kenntnis über die europäischen Grundlagen gebe. Aber nachdem jetzt ein Verfassungstext auf dem Tisch liegt, müsste dies doch eigentlich Anlass und Grund sein, die Bürger noch stärker in diesen Prozess einzubeziehen. Ich kann nur hoffen, dass all diejenigen, die im Augenblick noch skeptisch sind, was die Volksabstimmung angeht, ihre Skepsis überwinden. Ich glaube jedenfalls, dass eine Volksabstimmung auch in der Bundesrepublik Deutschland in einer Situation, in der wir – ich will das ausdrücklich noch einmal sagen – wirklich sehr viel erreicht haben, die Krönung eines Verfassungsprozesses sein könnte.

(Abg. Theurer FDP/DVP: Sehr richtig! Guter Vor- schlag!)

Herr Ministerpräsident, Sie haben soeben einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten und Gremien gedankt. Ich will hier deutlich sagen, dass wir als FDP/DVP-Fraktion – ich denke, ich kann das für das gesamte Parlament sagen – uns in Brüssel durch Sie sehr gut vertreten gesehen haben.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU sowie des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Ich glaube, dass wir gerade in den Fragen, die für das Selbstverständnis des Landtags von Baden-Württemberg von großer Bedeutung sind – ich nenne noch einmal die Stichworte „Kompetenzen“ und „Subsidiarität“ –, einen überzeugenden Anwalt in Brüssel hatten. Nachdem Sie den Kolleginnen und Kollegen und den Gremienmitgliedern gedankt haben, die Sie genannt haben, will ich Ihnen im Namen der FDP/DVP-Landtagsfraktion große Anerkennung, großen Respekt und herzlichen Dank für Ihre Leistung in Brüssel aussprechen.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU sowie des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Kretschmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Ergebnis des Europäischen Konvents zur Erstellung einer europäischen Verfassungsordnung erfüllt mich in zweierlei Hinsicht mit Genugtuung und Freude.

Nach den Ergebnissen von Nizza mussten wir alle damit rechnen, dass Europa mit der Osterweiterung in eine schwere Krise gerät, weil seine ganze Ordnung nicht angemessen auf diese Erweiterung zugeschnitten war. Niemand konnte davon ausgehen, dass der Konvent, der im Letzten nur beratend wirkt – er kann ja selber gar nicht beschließen, was er berät –, eine solche Dynamik entwickeln würde; er ist über alles, was man vorher erwarten konnte, weit hinausgekommen. Das kann uns wirklich mit tiefer Genugtuung und Befriedigung erfüllen. Deswegen gelten allen, die an diesem Prozess mitgewirkt haben, unser Dank und unsere Anerkennung.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben im Konvent als Vertreter aller Bundesländer und des Bundesrats auch, glaube ich, im Auftrag der Landesparlamente gewirkt, sodass ich heute in der angenehmen Lage bin, Ihnen nicht als Sprecher einer Oppositionsfraktion, sondern als jemand entgegenzutreten, für den Sie dort auch mitgewirkt haben. Umso leichter fällt es mir, Ihnen in der Sache die Anerkennung meiner Fraktion ohne irgendwelche Abstriche aussprechen zu können.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU und der FDP/DVP)

Sie haben in Brüssel erfolgreich und von allen anerkannt gearbeitet und die Interessen der Länder sehr, sehr wirksam vertreten. Die „taz“ hat getitelt: „Ein Schwabe wird Europäer“. Nein! Weil wir schon einen schwäbischen Europäer

hatten, wurde er dort hingeschickt. Also noch einmal Anerkennung von uns und den Dank dafür, dass Sie mit Außenminister Fischer und Professor Meyer vom Bundestag so eng zusammengearbeitet haben. Auch das war, glaube ich, eine Grundlage für den Erfolg Ihres Wirkens.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Wir haben, insbesondere was die Bürgerrechte, die Transparenz,

(Zuruf des Abg. Capezzuto SPD – Vereinzelt Hei- terkeit)

eine klare Kompetenzordnung, mehr Bürgernähe, aber auch Effizienz angeht, große Fortschritte erreicht. Vor allem das, was uns als Vertreter der Länder besonders am Herzen liegt, hat dort kräftig Gestalt angenommen. Die nationalen Identitäten der Mitgliedsstaaten, aber auch ihre staatliche Gewalt auf regionaler und lokaler Ebene werden in der Präambel ausdrücklich geachtet – einschließlich der kommunalen Selbstverwaltung. Auch das war für uns, die wir nach dem Grundsatz „Global denken, lokal handeln“ politisch groß geworden sind, ganz wichtig.

(Beifall bei den Grünen)

Die Fragen einer eindeutigen Kompetenzordnung, der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in sehr vielen Artikeln und der Beachtung der kommunalen Selbstverwaltung sind aus unserer Sicht ganz wichtig, weil wir damit übereinstimmen, dass Europa nur dann von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen wird, wenn es von unten nach oben aufgebaut wird. Deswegen ist das von eminenter Bedeutung. Umso mehr beklagen wir mit Ihnen, dass wir es nicht erreichen konnten, die Daseinsvorsorge in der europäischen Verfassung abzusichern.

(Beifall der Abg. Renate Rastätter GRÜNE und Beate Fauser FDP/DVP)

Dennoch kann das – wenn wir Gesamteuropa sehen und wenn sich das Gesetz auf einen Rahmen beschränkt und wir nicht wieder die schlechte Erfahrung machen, die wir im innerstaatlichen Verhältnis gemacht haben: dass immer Vollgesetze gemacht werden – durchaus auch ein Vorteil sein, weil das dann eben in allen europäischen Ländern mit verankert werden kann.

Gerade wenn wir uns noch einmal vor Augen halten, dass die Mehrheit der europäischen Staaten zentralistisch organisiert ist, können wir zuversichtlich sein, dass mit einer Kompetenzordnung und der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips der richtige Weg in die Zukunft beschritten worden ist.

Lassen Sie mich nun noch die beiden Punkte ansprechen, die wir für die kritischsten halten.

Wir begrüßen natürlich die Stärkung des Europäischen Parlaments. Auch dazu haben Sie schon das Notwendige gesagt. Wir hätten uns allerdings – das kann ich ganz offen sagen – die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips grundsätzlich in allen Fragen gewünscht.

(Beifall bei den Grünen)

Die Situation, die jetzt entstanden ist – dass dieses Prinzip in einigen Bereichen weiterhin gilt –, wird eben dazu führen, dass das Europäische Parlament nach wie vor kein Vollparlament ist, sondern in wichtigen Fragen immer noch hinter der Exekutive hintanstehen muss. Ich halte das Einstimmigkeitsprinzip insbesondere in zwei Bereichen für hoch problematisch:

Das ist zum einen die Außenpolitik. Wir haben im Rahmen des Irak-Konflikts gesehen, dass die einzelnen Nationalstaaten in Europa, wenn es nicht mit einer Stimme spricht, in solch wichtigen Prozessen zur Erhaltung des Friedens eine völlig marginale Rolle spielen. Deswegen nehmen wir eine schwere Hypothek mit, wenn wir in diesem Bereich, in dem die Bürgerinnen und Bürger am meisten erwarten – dass der Friede auch in Zukunft erhalten wird, auch über unsere Grenzen hinaus –, nicht voll handlungsfähig sind, auch wenn wir den Fortschritt, dass das Amt eines europäischen Außenministers eingerichtet wird, nicht unterschätzen wollen. Wir hoffen, dass sich daraus wiederum eine Dynamik wie im Konvent entwickelt, die dazu führt, dass es in absehbarer Zeit zu einer Reform kommt.

Der zweite Bereich, in dem ich das Problem auch sehe, ist die Finanz- und Steuerpolitik. Ich glaube, dass auch in diesem Bereich das Einstimmigkeitsprinzip höchst schädlich ist, weil damit einzelne Steueroasen die ganze EU blockieren können. Wir haben gegenüber unserer Bevölkerung in der Steuerdebatte, die wir innerstaatlich zurzeit führen, oft große Probleme, steuerliche Gerechtigkeitslücken zu schließen, da wir in wichtigen Fragen wie etwa der einer gerechten Besteuerung von Kapitaleinkünften eigentlich nicht richtig vorankommen, weil wir solche Fragen nicht mehr nationalstaatlich lösen können, sondern eigentlich darauf angewiesen wären, zumindest europäische Lösungen zu haben. Insofern sehe ich da auch eine ziemlich schwere Hypothek.

Aber das sind wirklich die beiden einzigen Punkte, wo ich nicht zufrieden bin und glaube, dass da in der Zukunft die Verfassungsordnung geändert werden muss. Ich vertraue darauf, dass das in dem Prozess und durch den Druck der Verhältnisse geschehen wird.

Natürlich sind wir auch mit anderen Dingen unglücklich, zum Beispiel damit, dass der Tierschutz nicht als Recht in die europäische Verfassung aufgenommen wurde. Aber das muss man auch verstehen, da der Gedanke des Natur- und des Tierschutzes in vielen anderen europäischen Ländern nicht in dem Maß verankert ist wie bei uns. Wir hoffen, dass wir das, wenn es zu einer Aufschnürung kommen sollte – was ich nicht hoffe und wovor ich nur warnen kann –, doch auch wieder einbringen können.

Lassen Sie mich aber auch drei kritische Anmerkungen zu Ihnen machen, Herr Ministerpräsident.

Erstens: Sie bringen als Beispiel für die Zentralisierungsbestrebungen der EU immer die FFH-Richtlinie und die Vogelschutzgebiete. Wählen Sie sich doch vielleicht einmal ein anderes Beispiel aus.

(Abg. Rech CDU: So ist das nun einmal in Karls- ruhe!)

Mit der Subsidiarität ist es so: Man muss schon auch selber aktiv werden, wenn man verhindern will, dass die obere Ebene ständig Dinge an sich zieht.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, dass insbesondere Sie und viele andere Bundesländer hier etwas versäumt haben. Der Bund steht sogar davor, Strafen zahlen zu müssen. Man darf auf den Gebieten, auf denen man eigentlich zuständig ist – und das sind wir beim Naturschutz –, natürlich nicht schlafen und dann erstaunt sein, wenn andere das an sich ziehen. Also selber aktiv werden ist einmal die erste Losung, um das Subsidiaritätsprinzip für sich zu sichern.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Zweitens: Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zum Gottesbezug machen. Es ist wirklich bedauerlich, dass der nicht in der Präambel steht; jedenfalls ist das meine persönliche Überzeugung. Gottesbezug in der Verfassung heißt ja – Sie haben es auch dargelegt –, dass das Fenster zur Transzendenz offen ist, auch in einer demokratischen Gesellschaft. Aber wir sollten das nicht zu hoch hängen. Warum? Das eigentliche religiöse Desiderat unserer Verfassung ist nicht einfach der Gottesbezug in der Präambel, sondern die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte. Dass die Menschenwürde nach Artikel 1 Ewigkeitscharakter hat, das heißt unserem demokratischen Zugriff entzogen ist, das ist das eigentliche religiöse Desiderat in der Verfassung, wenn man es denn so sehen will. Ich jedenfalls sehe es so.

Das heißt, wir dürfen vor der Bevölkerung nicht so tun – das ist ein bisschen gefährlich –, als sei dies jetzt irgendwie eine gottlose Verfassung. Das halte ich für Quatsch. Das Entscheidende an unserer christlich-jüdischen Tradition ist, dass der Mensch als Person in seiner Würde unveräußerliche und unverletzbare Rechte hat, und diese stehen sehr wohl in der neuen europäischen Verfassung. Das ist das Entscheidende. Das müssen wir den Menschen auch sagen.

(Beifall bei den Grünen)