Aber, lieber Kollege Rust, gestatten Sie mir eine Anmerkung. Ich mache in diesen zehn Jahren, in denen es den Europabericht nun gibt, alle Debatten mit und habe ihn hier auch ein paar Mal als Sprecher vertreten. Es gab einen guten Grund, dass wir den Bericht gekürzt haben, nämlich das Stöhnen und die Aussagen aller, 200 Seiten nicht bewältigen zu können.
Wir wollten den Versuch wagen, in Sachen Europa nicht nur kiloweise Papier zu produzieren, das keiner liest, sondern ein Konstrukt zu erstellen. Jeder kann dann in jeder einzelnen Zeile nachfassen, wo auch immer er Interesse daran hat.
Ich kann Sie nur ermuntern: Wenn Sie sagen, zur Agrarpolitik stehe zu wenig drin, dann genügt es, nur einmal beim Kollegen Hauk nachzufragen, und Sie werden alles bekommen, und zwar stapelweise.
Das war die Überlegung bei diesem Bericht. Deswegen, Herr Kollege Walter, glaube ich, man kann damit hantieren und arbeiten.
(Abg. Theurer FDP/DVP: Ein Kompendium! – Abg. Walter GRÜNE: Ich habe mich ja dafür aus- gesprochen!)
In einem Punkt würde ich dem Kollegen Rust allerdings gern widersprechen. Er hat es zwar nicht so gemeint, aber diese Passage seiner Rede war doch ein bisschen hinterhältig. Er sagte nämlich, über die Frage „Freihandelszone de luxe oder soziales Wohlfahrtsgebilde?“ würde eine Diskussion verboten. Man muss wissen, dass in zwei aufeinander folgenden Abschnitten des Berichts gesagt wird, worüber man konkret diskutieren muss. Dann erst heißt es:
Darüber sind wir uns ja sicherlich einig, dass wir nicht theoretisch philosophieren wollen, sondern dass wir mit den Menschen ganz konkret über die einzelnen Bausteine des Integrationsprozesses sprechen müssen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP – Abg. Rust SPD: Philosophieren ist ja immer theoretisch! Praktisch zu philosophieren geht gar nicht!)
Herr Kollege Rust, Sie haben mich auf Ihrer Seite, wenn Sie meinen, die Kommunikation mit der Bevölkerung sollte nicht nur bei Sekt und Häppchen in Brüssel geführt werden. Das kann ich mir von der Figur her sowieso nicht erlauben.
Aber das Wichtige ist natürlich, dass wir uns alle verpflichtet fühlen sollten, im positiven Sinne über Europa zu sprechen. Bei uns allen besteht eine gewisse Neigung
das ist zumindest bei vielen so –, dass, sobald die Diskussion beginnt, alle Probleme und Fehler auf Brüssel geschoben werden. Das aber ist falsch.
Insofern müssen alle in den Kommunikationsprozess eintreten. Denn was sich in Frankreich und in den Niederlanden abgespielt hat, muss uns eine Lehre sein.
Wenn es in Deutschland auch eine solche Abstimmung gegeben hätte, dann könnte ich nicht sagen, wie diese ausgegangen wäre.
Wir haben also keinen Grund, über die Wählerinnen und Wähler in den einzelnen Staaten zu schimpfen, sondern wir müssen uns die Frage stellen: Wo haben wir eine Bringschuld nicht erfüllt?
Ich komme gleich darauf. – Eines ist klar: Es muss in Sachen Europa eine neue Aufbruchstimmung herrschen.
Es muss wieder Lust auf europäische Entwicklung und europäische Zukunftsfähigkeit geweckt werden – Lust.
(Abg. Fleischer CDU: Statt Frust! – Abg. Theurer FDP/DVP: Richtig! – Beifall des Abg. Theurer FDP/DVP)
Das heißt, dass wir uns im Grunde nicht im Klein-Klein verlieren dürfen, sondern dass wir uns die zentralen Fragen anschauen müssen.
Das Erste ist die Frage der Erweiterung. Es gibt viele Sachgründe, die man für den Beitritt der Türkei anführen kann.
Es ist entschieden: Es werden Verhandlungen geführt. Ich meine, jetzt ist unsere Aufgabe, diese Verhandlungen sehr kritisch zu begleiten,
Vor allem aber müssen wir einen Grundsatz beachten, der im Vorfeld zu wenig beachtet wurde: Es geht nicht nur um ein Beitreten und um die Frage, ob die Türkei beitrittsfähig ist, sondern es geht auch um die Frage, ob wir aufnahmefähig sind.
Zur Beurteilung der Aufnahmefähigkeit würde ich nicht nur die Frage heranziehen, ob die Brüsseler Bürokratie die Aufnahme bewältigen kann, sondern dazu gehört auch die Frage, ob die Menschen in unserem Land diesen Weg mitgehen
und ob sie sich in diesem Europa auch dann noch wiedererkennen können, wenn die Türkei – bis Anatolien und noch weit darüber hinaus, bis in den asiatischen Bereich – hinzukommt.
Zur Aufnahmefähigkeit gehört auch, dass die Menschen in Europa sagen: „Jawohl, auch wenn diese Erweiterung vor
genommen wird, ist es doch noch das Europa, mit dem ich mich identifizieren kann.“ Wenn uns das jedoch verlustig geht, dann riskierten wir in der Tat, wenn wir die Türkei mit an Bord nähmen, dass mehr Schaden entstünde, als dass wir aufgrund der möglicherweise bestehenden guten Gründe zu einem Nutzen kämen.
Ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Ich war in der Nacht, als der Fortgang der Verhandlungen mit der Türkei bekannt gegeben wurde, sehr froh und glücklich darüber, dass nur eine Stunde später auch die Fortführung der Verhandlungen mit Kroatien bekannt gegeben wurde.