Protocol of the Session on October 26, 2000

(Lachen bei der SPD)

Herr Kollege Rau, ich habe Ihnen sehr genau zugehört. Sie haben hier mitgeteilt, dass Herr Hochhuth alle Politiker, sogar uns angegriffen hätte

(Abg. Rau CDU: Er hat die Demokratie angegrif- fen!)

und dass man dann, wenn man Politiker angreift in einer, wie Sie finden, unqualifizierten Form – darüber kann man diskutieren –, besonders viel Sekundärliteratur brauche. Aber das ist doch eine zutiefst politische Aussage. Ist Ihnen das nicht klar?

(Beifall und Heiterkeit bei der SPD sowie der Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen)

Frau Ministerin, die Botschaft,

(Abg. Dr. Birk CDU: Redezeit!)

dass Sie eine Entscheidung, die Sie selber einmal getragen haben und die die dafür zuständige Fachkommission unverändert für richtig gehalten hat, zurückgenommen haben unter dem Eindruck von Problemen beim Mathematikabitur,

(Abg. Fleischer CDU: Darf einer bei Verdrehun- gen eigentlich doppelt so lange reden?)

uns hier anzubieten, das ist, sage ich Ihnen, nun wirklich der Seriosität und Ihrer Aufgabe nicht angemessen. Das kauft Ihnen niemand hier ab.

(Beifall bei der SPD)

Der Versuch – das sage ich Ihnen zum Schluss, damit Sie das schriftlich haben –,

(Abg. Haas CDU: Es ist besser, wenn Sie zum Schluss kommen!)

sich zu verstecken hinter den natürlich maßlos überzogenen, nicht gerechtfertigten, empörten Äußerungen des Herrn Hochhuth, die von uns nie geteilt, sondern kritisiert worden sind,

(Abg. Dr. Schlierer REP: Wann und wo? – Abg. Brechtken SPD: So ist es!)

der Versuch, sich dahinter in dieser Debatte zu verstecken, wo es nicht um die Frage geht, ob Sie oder sonst irgendjemand rechtsradikaler Tendenzen fähig sind, sondern wo es nur um die Frage geht, ob Sie Ihrem Amt gewachsen sind, ob Sie hier eine so genannte Fachlichkeit zelebrieren, die politische Hintergründe hat und die nichts erkennen lässt

(Abg. Fleischer CDU: Lächerlich!)

vom notwendigen Gespür für die politische Situation in Deutschland, ist nicht seriös. Spätestens nach der Rede des Herrn Schlierer müssten Sie ja kapiert haben, welche Strategiemuster hier eigentlich aufgebaut werden.

(Zuruf von der CDU: Wie lange schwätzt denn der noch?)

Sie sind offensichtlich für Ihre Funktion nicht qualifiziert. Das ist für mich die Quintessenz.

(Beifall bei der SPD – Abg. Dr. Birk CDU: Un- glaublich! – Abg. Fleischer CDU: Maurer ist über- qualifiziert!)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Kretschmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben natürlich, wie wir das von Ihnen gewohnt sind, in einer rhetorisch sehr brillanten Weise hier geredet

(Abg. Birgit Kipfer SPD: Brillant nennen Sie das? Nebelkerzen sind das!)

und haben Ihre Fraktion mitgezogen und einen großen Applaus eingeheimst. Mich konnten Sie allerdings in der Sache nicht ganz überzeugen.

(Abg. Haas CDU: Nicht ganz! – Abg. Dr. Reinhart CDU: Damit können wir leben! – Abg. Fleischer CDU: Jetzt sagen Sie einmal, wo Sie überzeugt wurden!)

Literatur ist nicht dazu da, wenn sie sich als politische Literatur versteht, der Politik zu gefallen. Zwischen Literatur, sofern sie sich politisch und gesellschaftlich versteht, und der Politik muss zwangsläufig immer ein Spannungsverhältnis bestehen.

(Abg. Rau CDU: Richtig!)

Was hat das zur Konsequenz? Es ist gar nicht Aufgabe der Politik – dafür hat sie gar kein Mandat –, Literatur zu beurteilen. Das kann natürlich jeder privat tun, wenn er Literatur liest. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber wir haben als Politiker dafür überhaupt kein Mandat. Das ist auch völlig richtig; denn die Gefahr, dass wir dann die Literaten, je nachdem, ob sie uns politisch nahe stehen oder nicht, ablehnen oder befürworten, wäre viel zu groß.

Was ist die Konsequenz daraus? Dass man die Auswahl und Beurteilung von Literatur Fachleuten überlässt, die davon etwas verstehen. Deswegen gibt es in Ihrem Ministerium eine Kommission, die dafür zuständig ist und die die entsprechenden Vorschläge macht. Die Aufgabe des Hauses ist es, formale Kriterien zu überprüfen, ob die denn stimmen oder nicht. Schon der Kollege Rau hat sich dabei nun in erhebliche Widersprüche verwickelt. Entweder ist der Grund für die Ablehnung des Buches, dass Sekundärliteratur nicht vorhanden ist, oder der Grund ist, dass das eigentlich ein für Demokraten inakzeptables Werk ist, das Hochhuth da geschrieben hat. Beide Argumente können jedenfalls nicht gleichzeitig stimmen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Dr. Birk CDU: Die inhaltliche Abwägung fehlt! Das ist das Problem!)

Jetzt sage ich Ihnen, warum das, was Sie dargelegt haben, Frau Ministerin, nicht überzeugen konnte. Sie hätten doch darlegen müssen, warum die Kommission, die Sie benannt haben und in der neun erfahrene Pädagogen sitzen, wie Sie wörtlich erklärt haben, zurücktritt. Darüber haben Sie kein Wort verloren. Man muss doch in einer solchen Situation, in der Ihr Haus eine Entscheidung fällt und eine Kommission aufgrund dieser ganzen Vorgänge zurücktritt, erklären können, warum sie das eigentlich getan hat. Schließlich sind es doch nach Ihrer Aussage erfahrene Pädagogen. Keine Äußerung von Ihnen dazu. Das heißt, wenn die Fachleute in der Angelegenheit aufgrund des ganzen Vorgangs, der ja für einen Außenstehenden schwer nachvollziehbar ist, zurücktreten, ist das doch von Ihrer Seite aus erklärungsbedürftig. Das können Sie doch nicht einfach nur konstatieren.

Zu Ihrer Hauptbegründung, es liege zu „Eine Liebe in Deutschland“ nicht die Sekundärliteratur vor wie zu „Faust“ – was soll man dazu sagen?

(Heiterkeit und Beifall beim Bündnis 90/Die Grü- nen und bei der SPD)

Welches Werk seit „Faust“ kann die Menge an Beurteilung aufweisen wie der „Faust“? Es ist doch vollkommen ausgeschlossen, ein zeitgenössisches Werk zu finden, das die gleiche Aufmerksamkeit hat wie dieses großartige Werk von Herrn Goethe, das nun Myriaden von Leuten gelesen und sich darüber ausgelassen haben. Da eine Gleichwertigkeit der Sekundärliteratur herzubringen ist doch vollkommen ausgeschlossen. So argumentierend, finden Sie nie ein Werk, das Sie zusammen mit „Faust“ in die Literaturliste stellen können. Das ist vollkommen unmöglich.

(Heiterkeit und Beifall beim Bündnis 90/Die Grü- nen und bei der SPD)

Sie müssen einfach erklären können, sonst bleibt doch an der Geschichte etwas hängen, warum die Kommission nach diesen Vorgängen zurücktritt. Was ist der Grund? Den Grund, den Sie angegeben haben, habe ich zu widerlegen versucht. Der kann es doch irgendwie nicht gewesen sein. Jetzt erfahren wir – das ist quasi die beamtenmäßige Lösung des Problems –, dass es eine ganz neue Kommission gibt, eine Kommission, die sozusagen ein ganz neues Projekt macht, nämlich Abitur für berufliche und allgemein bildende Schulen. Das ist natürlich die elegante Lösung, um die Frage zu umschiffen, ob die Kommission jetzt eigentlich wirklich zurückgetreten ist oder ob sie sich quasi von alleine auflöst und in etwas Neues übergeht.

(Heiterkeit beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Frau Ministerin, Sie werden verstehen, dass wir uns damit nicht zufrieden geben können, dass Sie uns noch schuldig geblieben sind, zu erklären, was in Ihrem Ministerium abläuft. Ich glaube, das Problem, das Sie haben, ist, dass Sie einfach nicht zugeben wollen, dass dort gravierende Pannen passiert sind. Ich glaube, wenn Sie das hier einfach ganz schlicht gesagt hätten, hätten wir das bei Wohlwollen akzeptieren können, bei Nichtwohlwollen nicht, dass das keine politische Intervention ist. Aber solange Sie diese Vorgänge nicht glaubwürdig und überzeugend darlegen können, kann ich nicht sehen, dass diese ganze Geschichte geklärt ist.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Berroth.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Durch das plötzliche Zurückziehen dieses Buches hat das Kultusministerium dem Buch eine unfreiwillige und, ich denke, auch unangemessene Werbung verschafft. Auch ich habe es mir erst jetzt gekauft

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU und der Republikaner)

und noch eines der letzten Exemplare ergattert. Bald danach war es vergriffen.

Ich muss sagen: Es ist ein schwieriges Buch, und zwar in mehrfacher Hinsicht.

(Abg. Birgit Kipfer SPD: Es ist doch nicht Ihre Aufgabe, das zu beurteilen!)

Zum einen ist es emotional enorm aufreibend. Es ist die Frage, inwieweit jungen Menschen so etwas konkret zugemutet werden kann oder, wie ich denke, auch muss.

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: Das sind Leute, die Abitur machen!)

Zum anderen hält sich der Autor selbst auch nicht unbedingt an die von ihm aufgestellte Forderung nach Menschenwürde. Wir haben das jetzt wieder ganz aktuell erlebt. Das scheint auch in dem Buch durch, und genauso scheint die zugrunde liegende Ideologie des Autors natürlich deutlich durch. Solches müsste im Unterricht, wenn man das Buch durchnimmt, auch behandelt werden.

Andererseits bietet dieses Buch aber ein Material, an dem sich nun wirklich hervorragend aufbereiten ließe, wie schwierig es ist, nach der Beendigung eines totalitären Systems Antworten auf folgende Fragen zu finden: Wie gehen wir mit dem Miterlebten um? Wie gehen wir mit den in unterschiedlichen Graden mit diesem System verwoben gewesenen Menschen um? Das bezieht sich beileibe nicht nur auf den Nationalsozialismus, sondern Gleiches können wir seit zehn Jahren im deutschen Osten miterleben.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)