Protocol of the Session on November 5, 2020

Während der gesamten Projektlaufzeit war der Abbau der Stellen für den gesamten ÖGD nicht aufzuhalten. … Mit einem derart reduzierten Personalbestand wird die Freisetzung von Potentialen für Modernisierungsprozesse und die Erfüllung neuer Aufgaben verhindert. Die zurzeit gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben sind nicht mehr in vollem Umfang und mit der erforderlichen Qualität in allen Bezirken zu erfüllen.

2010, Frau Seibeld! Und wissen Sie, was das Bezirksamt Neukölln 2010 gemacht hat? – Von den 16 Stellen, die geschaffen wurden, ist nicht eine einzige in den öffentlichen Gesundheitsdienst gegangen. Am 1. Januar 2004 hatte der öffentliche Gesundheitsdienst eine Personalausstattung von 2 103 Vollzeitäquivalenten. Am 31. Dezember 2018 betrug die Ist-Zahl der verbliebenen Vollzeitkräfte noch 1 533. 227 Stellen waren zu diesem Zeitpunkt unbesetzt, obwohl dieser Senat bereits 2017 begonnen hatte, 400 neue Stellen im ÖGD aufzubauen. Trotz vielfältiger und ernsthafter Bemühungen, die Stellen zu besetzen, ist es noch keiner Senatsverwaltung und auch den Verantwortlichen in den Bezirken nicht wirklich gelungen, einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Das

liegt nicht nur an der Bezahlung. Da haben wir zum Beispiel für die Ärzte eine tragfähige Übergangslösung gefunden, die eine den Krankenhausärzten vergleichbare Bezahlung ermöglicht.

Diese Krise macht uns gerade deutlich, welch immense Bedeutung ein funktionierender öffentlicher Gesundheitsdienst hat.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Jetzt erwarten wir, dass die Kolleginnen und Kollegen dort jeden Tag über sich hinauswachsen und unsere politischen Versäumnisse der Vergangenheit über ihr individuelles und außerordentliches Engagement bis über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus ausbügeln. Der Einsatz von Hilfskräften, seien es Studierende, das THW oder die Bundeswehr, kann doch allenfalls eine kurzfristige oder nur vorübergehende Lösung in einer besonderen Ausnahmesituation sein. Das ist doch keine strukturelle Lösung – es sei denn, Sie wollen jetzt angesichts dieses Infektionsgeschehens, was die Bundeswehr betrifft, Schwerter zu Pflugscharen machen. Da wären wir sofort dabei.

[Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit von Anne Helm (LINKE)]

Eine grundsätzliche Neubewertung des ÖGD ist notwendig als substanzielle dritte Säule unseres Gesundheitssystems mit einer klaren und breit angelegten Definition seines Aufgabenspektrums, auch auf der Grundlage der Erfahrungen. Zur Erfüllung dieses Aufgabenspektrums braucht es die entsprechende personelle und technische Ausstattung. Wir müssen unsere Gesundheitsstrukturen pandemiefest machen. Es ergibt keinen Sinn, auf einen Impfstoff zu warten – in der Hoffnung, dann werde alles anders. Bisher ist es erst einmal gelungen, ein Virus zu eradizieren. 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken für ausgerottet – nach jahrzehntelangem Kampf und Milliarden von Impfdosen.

Wir werden also mit diesem Virus leben müssen und deshalb lernen müssen, mit diesem Virus zu leben, nicht furchtbestimmt, ängstlich und in sozialer Isolation, weil wir im Nachbarn, in jedem Mitmenschen den vermeintlichen Virusträger sehen, sondern selbstbewusst und in der Gewissheit, die Bedingungen dafür geschaffen zu haben, die es ermöglichen, auch diese Erkrankung zu beherrschen, so wie wir bisher auch alle anderen Krankheiten, die durch Erreger verursacht werden, zu beherrschen gelernt haben. Die Frage kann deshalb künftig nicht mehr sein: Was können wir uns an öffentlichem Gesundheitsdienst leisten? – Die Frage muss vielmehr sein: Was müssen wir uns an öffentlichem Gesundheitsdienst leisten?

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Und das muss dann auch konsequent und auskömmlich finanziert werden. Das ist gut angelegtes Geld. Eine Pandemie kommt uns allemal teurer zu stehen. – Danke!

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Burkard Dregger (CDU)]

Für die Fraktion der FDP hat der Abgeordnete Herr Kluckert das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Bemerkung vorweg! Es ist schon etwas merkwürdig, hier in diesem Haus über Coronamaßnahmen zu sprechen, während wir wissen, dass einige Kolleginnen und Kollegen jetzt zu Hause sitzen, weil entweder die Corona-Warn-App auf Rot war, oder sie erkrankt sind. – Ich möchte Sie alle auf diesem Weg herzlich grüßen, Ihnen alles Gute wünschen. Es ist nicht das gleiche Parlament, wenn man sich nicht von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen streiten kann.

[Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU, der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der AfD]

Herr Dr. Albers! Ich will gleich auf Ihren Redebeitrag eingehen, weil ich eine andere Bewertung habe. Sie haben wieder die öffentliche Gesundheitsversorgung so herausgestellt, als ob sie das einzig Wahre wäre. Wenn ich mir einmal andere Länder angucke und mir die Frage stelle, was unser Gesundheitssystem so viel besser macht – wir in Berlin sind bisher recht gut durch die Pandemie gekommen, was bei rund 3,8 Millionen Einwohnern eine Besonderheit darstellt – als das von anderen Ländern, komme ich zu einer Erkenntnis, die von der Ihren wahrscheinlich abweicht: Wir haben nämlich als erste Säule eine hervorragende gesundheitliche Versorgung in den Krankenhäusern, und nicht nur in den kommunalen Krankenhäusern, die mit Vivantes und der Charité – –

[Dr. Wolfgang Albers (LINKE): Das ist die zweite! Die erste ist der ambulante Bereich!]

Zu dem komme ich gleich, aber vielen Dank, Herr Dr. Albers! Ich kann auch, wenn es für Sie einfacher ist, die Reihenfolge umstellen.

[Heiterkeit]

Der zweite Bereich sind sowohl die guten Krankenhäuser in kommunaler Verwaltung als auch – das ist ganz wichtig – die Häuser in privater Trägerschaft, die eine ganz hervorragende Arbeit leisten. Wenn man die öffentliche und die private Gesundheitsversorgung gegeneinander ausspielt, wird man der Sache nicht gerecht, Herr Dr. Albers!

[Beifall bei der FDP – Beifall von Michael Dietmann (CDU)]

Die erste Säule, Herr Dr. Albers, ist eine hervorragende Versorgung mit ambulanten Ärzten in dieser Stadt. Dass unser System anders ist als in anderen Ländern, dass man nicht sofort in die Krankhäuser rennt, liegt daran, dass wir ein ambulantes Ärztenetz haben, das wie ein Wellenbrecher den Krankenhäusern vorgeschaltet ist und die erste Welle der Erkrankten, egal was sie haben, eben nicht in die Krankenhäuser laufen lässt, sondern in einer hervorragenden Arbeit den Wellenbrecher gibt und das abfängt. Das sind private Ärzte. Jeder erhält diese Gesundheitsversorgung, egal ob er privat oder gesetzlich versichert ist; das muss man auch einmal sagen.

[Beifall bei der FDP]

In den Ländern, in denen es eine Bürgerversicherung gibt, ist das nicht der Fall. In den Ländern, in denen die Bürgerversicherung, die Sie immer wieder hochhalten, existiert, wird die Gesundheitsversorgung so nicht gewährleistet, und das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. Wer heutzutage noch eine Bürgerversicherung vorschlägt, dem ist die Gesundheitsversorgung der Menschen nicht wichtig.

[Beifall bei der FDP – Ui! von der LINKEN]

Die dritte Säule – ganz wichtig als Wellenbrecher vor den ambulanten Ärzten – ist der öffentliche Gesundheitsdienst. Wenn man einmal jemanden, der mit Gesundheit nicht so viel zu tun hat, fragt, was die Gesundheitsämter eigentlich machen, dann hört man immer wieder: Das sind doch diejenigen, die den Leuten hinterhertelefonieren, wenn man sich wahrscheinlich infiziert hat! – Ja, das sind diejenigen, die hinterhertelefonieren. Aber nein, das ist nicht der öffentliche Gesundheitsdienst. Dieser hat so viel mehr Aufgaben, die er erfüllt und wirklich gut macht, die vor allem in Zeiten der Pandemie unheimlich wichtig sind.

Ich nenne Ihnen, weil meine Redezeit schon weiter ausgeschöpft ist, als ich dachte, nur zwei Beispiele. Da ist zum einen der Schutz der Gesundheit für das Wohl der Kinder und Jugendlichen. Bei Misshandlungen von Kindern – das wissen wir – ist der öffentliche Gesundheitsdienst oft der erste Ansprechpartner. Wir wissen auch, dass die Gewalt gegenüber Frauen und Kindern während des Lockdowns gestiegen ist, weil die zunehmende Isolation in engen Räumen auch zu Gewalt und Aggressivität führt. Die Gesundheitsämter sind hier der erste Ansprechpartner und auch diejenigen, die den Handlungsbedarf oft erkennen.

Und der zweite Punkt: Die Aufgabe des Gesundheitsschutzes ist auch, die Verbraucher zu informieren. Was machen denn Firmen, wenn sich Mitarbeiter infiziert haben und sie nicht wissen, können sie die noch weiter beschäftigen, oder wer muss in Quarantäne? – Da sind

(Dr. Wolfgang Albers)

die Gesundheitsämter die Ansprechpartner. Was Sie hier gemacht haben, ist, Sie benutzten die Gesundheitsämter als Callcenteragenten. Sie können dieser wichtigen Aufgabe nicht mehr nachkommen, indem sie Kontaktverfolgung machen.

Frau Seibeld! Das ist auch so ein bisschen die Kritik, die ich an diesem Antrag habe: Ich weiß nicht, ob wir mit mehr Geld für die Gesundheitsämter wirklich einen guten Dienst erweisen, denn, Sie haben es ja richtig gesagt: Ich habe einfach keine Lust mehr, mich über das Gesundheitsamt von Friedrichshain-Kreuzberg zu ärgern, wo der Hass auf die Bundeswehr größer ist als der Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Ich will mich über dieses Gesundheitsamt hier nicht mehr ärgern.

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Mit mehr Geld würden wir dort auch nicht mehr erreichen. Ich würde sogar so weit gehen – da meine Redezeit jetzt leider abgelaufen ist, kann ich nur noch einen Satz sagen –, dass wir überlegen müssen, ob wir die Kontaktnachverfolgung nicht zentral machen sollten. Es kann nicht Aufgabe jedes einzelnen Bezirkes sein, das zu machen. Und es kann nicht sein, dass die Gesundheitsämter am Telefon hängen und ihren anderen Aufgaben nicht nachkommen. Wenn wir ein super Gesundheitssystem haben wollen, dann müssen wir das anders organisieren und den öffentlichen Gesundheitsdienst sowohl gut ausstatten, sowohl mehr Geld geben und dann einen leistungsfähigen öffentlichen Gesundheitssektor erhalten. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Herr Abgeordneter Ziller.

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu, mit so einem Verlauf der Debatte zu diesem Antrag habe ich auch nicht gerechnet. Ich sage Ihnen mal, was ich als ersten Satz aufgeschrieben hatte: Wie in den bisherigen Redebeiträgen bereits klar geworden ist, eint uns das Ziel, die Gesundheitsämter bestmöglich für die Bewältigung der Coronakrise auszustatten und zu unterstützen. Sie sind ein zentraler Ort für die Bekämpfung der Pandemie.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Wir müssen sie sowohl technisch als auch personell dafür ausstatten. – Das, hatte ich gedacht, ist teilweise Bestandteil von Reden, auch von der Antragstellung.

[Zuruf von Stefan Förster (FDP)]

Genau, erst zuhören! – Wir haben jetzt viel Klamauk gehört, aber eigentlich haben wir keinen ernsthaften Vorschlag gehört, wie wir diese Gesundheitsämter fit machen oder wie man dieses Problem angeht,

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf von Paul Fresdorf (FDP)]

denn Sie können in alle Bundesländer gucken, in die großen Städte, wir haben da einfach ein Problem. Das hier für so eine Klamaukrunde zu nutzen, finde ich nicht angebracht.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Einen Satz noch, denn das muss zur Klarstellung auch sein: Friedrichshain-Kreuzberg der Bezirk, der den besten Besetzungsstand im Gesundheitsamt hat.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Isenberg?

Nein, danke! – Friedrichshain-Kreuzberg hat die meisten zusätzlichen Stellen über den Sommer geschaffen, also präventiv auf die Situation, in der wir jetzt sind, vorgearbeitet. Auch sonst, wenn man sich den Besetzungsstand anguckt, da gab es zuletzt auch, ich glaube, eine rote Nummer oder eine Drucksache, die wir uns alle hätten angucken können. Friedrichshain-Kreuzberg ist von allen Bezirken der Bezirk, der die neuen Stellen am besten besetzt hat. Insofern lassen Sie uns das beiseite tun und noch mal die Situation angucken! Alle Gesundheitsämter hatten Probleme, auch Friedrichshain-Kreuzberg mit dem guten Besetzungsstand, auch Bezirke, die die Bundeswehr einsetzen, und auch andere große Städte.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Welche Baustellen müssen wir uns angucken, wenn man sich den Sommer rückblickend anguckt? – Wir hatten gewisse Schwierigkeiten mit der Einführung von SORMAS. Da, glaube ich, sollten wir für die Zukunft, auch für die nächste Zeit nacharbeiten, denn ich glaube schon, dass die technisch verfügbaren Mittel und auch die Schnittstellen zu den Gesundheitsämtern, zur App, zu den ganzen Fragen immer in allen Bezirken up to date sein müssen. Da haben wir mit dem E-Government-Gesetz die Grundlage dafür geschaffen. Die Senatsverwaltung für Gesundheit ist dafür verantwortlich, den Bezirken den Stand der Technik vorzugeben, und die Bezirke haben diese Technik dann einzusetzen. Für Verzögerungen wie im Sommer habe ich in der Zukunft kein Verständnis. Ich finde, man muss diese ganzen Verfahren einüben. Das EGovernment-Gesetz ist für alle noch neu,

[Burkard Dregger (CDU): Vier Jahre alt!]

(Florian Kluckert)

aber in der Zukunft gehen wir davon aus, dass das jetzt einmal geprobt ist und funktioniert, dass die Bezirke immer auf dem aktuellen Stand der Technik arbeiten.