Protocol of the Session on November 1, 2020

Wir riskieren schon jetzt, eine ganze Generation von jungen Menschen durch Brüche in ihrer schulischen, beruflichen und akademischen Bildung zu verlieren. Um hier Verantwortung zu übernehmen, hat die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales mit einem Sofortprogramm am Freitag das erste Ausbildungshotel in Berlin an den Start gebracht. – Dafür vielen Dank!

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Daniel Wesener (GRÜNE)]

Ich möchte Ihnen allen eine Frage stellen: Wie wollen wir der Bevölkerung, ohne deren Kooperation jede Maßnahme zur Pandemiebekämpfung ins Leere läuft, vermitteln, dass der Preis für die Bekämpfung dieser Pandemie eine der schwersten sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen der letzten 100 Jahre sein soll? – Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit, dass wir nicht bereit sind, diesen Preis zu zahlen. Für uns, das haben wir bereits im Frühjahr gesagt, muss die Bewältigung der Pandemie ein soziales Krisenmanagement sein.

Wir erwarten daher, dass derart weitreichende Maßnahmen, wie wir sie jetzt mittragen, sozial ausgewogen umgesetzt werden sowie mit belastbaren und verbindlichen Zusagen für Kompensationen und Entschädigungen verbunden sind.

[Carsten Ubbelohde (AfD): Dann machen Sie das doch!]

Wir erwarten, dass auch in der Krise, in der Pandemie der soziale Frieden erhalten und soziale Stabilität gewährleistet wird. Nur so wird es uns gelingen, die Pandemie erfolgreich zu bekämpfen. Eine Politik, die nur auf Autorität setzt und die Menschen mit ihren existenziellen Problemen, Nöten und Sorgen hilflos zurücklässt, hat keine Daseinsberechtigung.

[Beifall bei der LINKEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Na, das liegt doch an der Regierung! – Zuruf von Marc Vallendar (AfD)]

Aus dieser grundsätzlichen Haltung ergeben sich für uns verschiedene Anforderungen und Aufgaben: Die durch die drastischen Eindämmungsmaßnahmen eintretenden Schäden bei den Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen

und sozialen Trägern müssen durch schnelle und unbürokratische Hilfen kompensiert werden. Dazu gehören insbesondere die Ermöglichung der flexiblen Leistungserbringung für Zuwendungsprojekte und die Partner des Landes bei Leistungsverträgen nach den Sozialgesetzbüchern VIII, IX und XII und unbürokratische Hilfen für kleine und mittelständische Unternehmen sowie Soloselbstständige. Die Berechnung der Unterstützung sollte in Bezug auf den Jahresdurchschnitt des Umsatzes von 2019 erfolgen.

Wir müssen schnellstmöglich, und ich weiß, dass Sozialsenatorin Breitenbach das genauso sieht, vom Senat finanzierte Angebote zur niedrigschwelligen Unterbringung und Betreuung – die sogenannten 24/7-Einrichtungen oder auch die der Kältehilfe – sowie aufsuchende Angebote zur Sicherung von Leben und Gesundheit, zum Beispiel die Versorgung mit Essen, schaffen. Wohnungslose Menschen sind Teil unserer Stadtgesellschaft, und wir dürfen sie nicht zurücklassen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen, Senioreneinrichtungen und Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe, aber auch Geflüchtete, Wohnungslose und andere in Gemeinschaftseinrichtungen untergebrachte Menschen müssen einerseits vor unkontrollierten Ausbrüchen geschützt werden, zum Beispiel durch Schnelltests, dürfen aber nicht diskriminiert und keinesfalls vollständig sozial isoliert werden.

Ich bekam gerade von den Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern der Menschen mit Behinderung seit Frühjahr immer wieder ihren verständlichen Frust und ihre verständliche Wut darüber zu hören, dass gerade sie als ohnehin schon an den Rand gedrängte Bevölkerungsgruppe noch weiter ausgeschlossen wurden. Das heißt auch, dass die Anordnung von vollständiger Quarantäne für Unterkünfte, wo immer möglich, durch andere Maßnahmen verhindert werden muss.

[Beifall bei der LINKEN]

Im Frühjahr hatte die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales dankenswerterweise Quarantäneeinrichtungen für Wohnungslose und Geflüchtete errichtet. Ich finde, dass sich dieses Vorgehen im Frühjahr bewährt hat, und wir sollten dieses Vorgehen auch jetzt wieder anwenden und auch entsprechend finanzieren.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Frühjahr spreche ich jetzt besonders unsere Gesundheitssenatorin an: Stellen Sie endlich ein stadtweit einheitliches Vorgehen der Amtsärzte und Gesundheitsämter im Hinblick auf Quarantänemaßnahmen für Wohnungslose und Geflüchtete her! Es kann einfach nicht sein, dass ein Amtsarzt, einfach weil es möglich ist, die Quarantäne über eine ganze Unterkunft verhängt und damit im Zweifel Hunderte Menschen auf einmal sozial isoliert, obwohl es die

Quarantäneangebote der Sozialverwaltung gibt – auch wenn diese in anderen Bezirken sind.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Fadime Topaç (GRÜNE)]

Berlin ist eine Stadt, und wir kommen nur als eine Stadt gemeinsam durch diese Krise. Wenn ich schon einmal dabei bin: Berlin muss mit Blick auf die mittel- und langfristige Entwicklung des Infektionsgeschehens seine Pandemieplanung dahin gehend qualifizieren, dass auf künftige Infektionswellen koordinierter und vorausschauender als bisher reagiert werden kann. Die zweite Welle wird vermutlich nicht die letzte sein. Dazu zählen insbesondere ein stadtweiter Ausbaupfad für den öffentlichen Gesundheitsdienst und ein transparenter Stufenplan für die Reaktion auf künftige Verschärfung des Infektionsgeschehens. Und dazu gehört eine eigene Teststrategie für Berlin. Es muss endlich möglich sein, dass Einrichtungen wissen, wann sie wie viele Schnelltests erreichen. Da reicht es nicht, sich auf die nationale Teststrategie zu verlassen.

Zu all dem muss der Senat jetzt schnellstmöglich Beschlüsse fassen, die gegebenenfalls auch einen weiteren Nachtragshaushalt und eine höhere Kreditaufnahme durch das Land erfordern. Diesen Preis wiederum müssen wir zahlen. Wir dürfen der Krise nicht hinterhersparen.

[Beifall bei der LINKEN]

Wir haben in den nächsten vier Wochen viel zu tun. Lassen Sie uns gemeinsam diese Arbeit für die Berlinerinnen und Berliner ernst nehmen! – Vielen Dank!

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Nächste Rednerin der Linksfraktion ist Frau Abgeordnete Kittler. – Sie haben das Wort. Bitte!

Vielen Dank! – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Ausnahmezustand erreicht uns wieder mit voller Wucht, wir haben heute viele Beispiele gehört. So wie den Beschäftigten in der Pflege, in den Krankenhäusern, bei der Müllabfuhr, der Versorgung mit Strom, Gas, Wasser und anderswo gilt auch allen, die in Kita, Schule und Jugendhilfe alles geben, damit Kindern und Jugendlichen die Kitas und Schulen als sozialer Raum, als Raum des Für-sie-da-Seins und des Lernens erhalten bleibt, großer Dank.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Paul Fresdorf (FDP)]

Das Kümmern um Kinder und Jugendliche und ihre Bildung hat gesellschaftliche Priorität. Dass Kitas und Schulen geschlossen werden, muss deshalb – da sind wir uns,

(Stefanie Fuchs)

glaube ich, alle einig – so weit wie möglich vermieden werden. Das geht aber nur, wenn alles dafür getan wird, dass Pädagoginnen und Pädagogen und Kinder und Jugendliche gesund bleiben. Die Bedingungen dafür sind nicht überall vorhanden, auch wenn es im Vergleich zum Frühjahr Verbesserungen gibt und das natürlich vom Umfeld abhängig ist. Ich meine aber, es braucht die Vermeidung von Gruppenmischungen an Schulen, es braucht grundlegende und schnellere Fortschritte in der Digitalisierung, es braucht sofort ein Fensterreparaturprogramm, und es braucht ein einheitliches Vorgehen in allen Bezirken, um hier nur einiges zu nennen.

Gesellschaftlich relevant ist für unsere Stadt auch die Kultur; von allen Fraktionen heute auch benannt. Die pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen haben im Frühjahr vielen Künstlerinnen und Künstlern sowie Kulturschaffenden von einem Tag auf den anderen ihre Arbeitsgrundlage entzogen. Die Schließung aller Veranstaltungsorte machte es ihnen unmöglich, ihre Arbeit auszuüben oder sie zu präsentieren. Viele sind innerhalb weniger Wochen so in eine existenzielle Notlage geraten. Die Soforthilfe II aus Landesmitteln hat zwar schnell und unbürokratisch sehr vielen Kulturschaffenden einen Zuschuss gewährt, konnte aber trotz sehr hoher ausgereichter Mittel nicht allen in Not Geratenen helfen. Zudem war dieser Zuschuss auf drei bzw. sechs Monate ausgelegt und kann die noch lange anhaltenden Arbeitseinschränkungen nicht überbrücken.

Die 2 000 Stipendien, die der Kultursenat für Künstlerinnen und Künstler ausgeschrieben hat und die jetzt ausgezahlt werden, werden vielen, aber auch nicht allen weiterhelfen. Über die Soforthilfe IV wird Kultur- und Kreativbetrieben vom Land geholfen, aber: Das Konjunkturprogramm des Bundes wie auch der erleichterte Zugang zur Grundsicherung gehen an den Lebens- und Arbeitsrealitäten der Kultur- und Kreativschaffenden völlig vorbei, schließlich bekommen die meisten von ihnen weder Kurzarbeitergeld noch Arbeitslosengeld I, und selbst die Grundsicherung bleibt vielen trotz des vereinfachten Zugangs verwehrt. Die Soforthilfe des Bundes berechtigt sie auch nicht, bei bestehenden Liquiditätsengpässen auch Lebenshaltungskosten anzurechnen. Das Gleiche droht jetzt wieder und weiter zu passieren.

Wie reagiert die Bundesregierung? – Da twittert Peter Altmaier am 29.10:

Meine Gedanken & Mitgefühl sind bei den Unternehmen & Selbständigen, die für 1 Monat schließen müssen, damit die Ausbreitung des CoronaVirus gestoppt wird. Ihr seid wertvoller Teil unserer Kultur & Identität.

Da kann ich nur sagen: Handeln statt nur Mitgefühl!

Carsten Schatz wies bereits darauf hin: Olaf Scholz musste erst durch einen Brief von Helge Schneider darauf aufmerksam gemacht werden, dass 75 Prozent des Ein

kommens aus November 19 auch null Euro sein können und ein Zwölftel des Jahreseinkommens wohl eine solidere Grundlage für Überbrückungshilfe wäre, damit sein Staatssekretär Schmidt auf Twitter antworten konnte – also, offiziell ist da noch gar nichts –:

… so machen wir es! Soloselbstständige können wählen …

Er schiebt aber gleich noch eins nach: „für die fixen Kosten!“ – Also für Betriebsausgaben. Die allermeisten Kulturschaffenden und die in der Kreativbranche Arbeitenden haben aber keine Betriebskosten. Kann die Bundesregierung das bitte endlich begreifen wollen!

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Die Linksfraktion fordert deshalb die Bundesregierung und den Bundestag dringlich auf, entsprechend der am 05. 06. 2020 auf Initiative der Länder Berlin und Bremen beschlossenen Entschließung des Bundesrates die Kriterien der sogenannten Überbrückungshilfen des Bundes an die spezifischen Bedarfe der Kultur- und Kreativbranche anzupassen und einen Pauschbetrag als Einkommen zu ermöglichen. Es ist Alarmstufe Rot, und ich habe jedes Verständnis für die Verzweiflung, für die Wut und die Forderungen, die am Freitag auf die Straßen von Berlin getragen wurden. Nachdem die Theater, Konzerthäuser, Museen, Galerien und fast alle Kulturbetriebe unserer Stadt alles dafür getan haben, um den Menschen ein sicheres Kulturerlebnis zu ermöglichen – und sie damit ein konstruktiver Teil der Lösung und nicht des Problems sind –, wird nun alles wieder dichtgemacht.

[Zurufe von Frank-Christian Hansel (AfD) und Marc Vallendar (AfD)]

Campino, Frontmann der Toten Hosen, hat recht, wenn er Richtungen Bundesregierung sagt: Wenn der Staat nicht handelt, könne

all das, auf das sich die Leute freuen, wenn die Pandemie vorbei ist, dann weg sein.

Er hat auch recht, wenn er feststellt:

Eine Lockdownstrategie in Schwarz-Weiß, das ist einfach zu wenig. Nach acht Monaten im Umgang mit der Pandemie können wir erwarten, dass die Verantwortlichen des Krisenmanagements differenzierter auf die Probleme schauen, als es im März, April möglich war.

[Zuruf von Frank-Christian Hansel (AfD)]

In den letzten Monaten gaben Sie uns

er meint die Bundesregierung –

das Gefühl, weniger wert zu sein als Autos, Flugzeuge und Fußballspieler.

Im Schlusswort des offenen Briefes von Alarmstufe Rot an die Bundesregierung heißt es:

Helfen Sie uns! Jetzt! Sonst werden wir in ein paar Monaten kulturell ein ärmeres Land sein.