Protocol of the Session on November 1, 2020

Damals wie heute ist klar, dass es kategorische Regeln gibt, an die wir uns alle richtigerweise zu halten haben: Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmasken aufsetzen und in geschlossenen Räumen regelmäßig lüften. Vergangenen Februar haben wir das ganze Land heruntergefahren und seine Menschen reflexartig in systemrelevant und nicht systemrelevant eingeteilt. Es wurden demokratische Grundsätze verschoben in dem Glauben der kurzfristigen Notwendigkeit. Millionen Menschen wurden in die Isolation geschickt, weil wir uns so vor allen Dingen für unser Gesundheitssystem eine kurze Atempause verschaffen konnten. Ja, all das haben wir als Freie Demokraten mitgetragen, weil es der konkreten Situation angemessen und unserem Verständnis nach zeitlich begrenzt notwendig war.

Die Aufgabe der Opposition ist es aber natürlich, das Handeln der Regierung kritisch zu überprüfen. Nicht alleine der Kritik wegen; sinnhaft ist Kritik immer dann, wenn sie konstruktiv und im Wettbewerb der Ideen zur besten Lösung beiträgt und wenn sie dem demokratischen Pluralismus unseres Landes dient.

[Beifall bei der FDP]

Natürlich braucht das Zeit; das stellt niemand in Abrede. Wir hatten Zeit, unser Handeln selbstkritisch zu hinterfragen und zur Erkenntnis zu gelangen, dass verständlicherweise Fehler gemacht wurden. Wir hatten Zeit, zur Erkenntnis zu gelangen, was uns erwartet und dass wir einen konkreten Plan brauchen werden. Und wir hatten Zeit, zurück zur Erkenntnis zu gelangen, dass jeder Mensch in unserem Land systemrelevant ist – jeder einzelne in diesem Land ist systemrelevant.

[Beifall bei der FDP]

Es ist nicht nur bedauerlich, es ist schlicht auch gefährlich, dass dieser Senat diese Zeit offensichtlich nicht hinreichend dafür genutzt hat, um sich auch nur eine dieser Erkenntnisse zu eigen zu machen.

Bundeskanzlerin Merkel sprach in ihrer Regierungserklärung von der Notwendigkeit einer nationalen Kraftanstrengung. – Ich finde, damit hat sie recht. Die letzten Monate verlangten von jedem einzelnen in unserem Land enorme Anstrengungen. Es gab und gibt die vielen Vorbildlichen, die unter erheblichem Aufwand ihre Kontakte minimieren und dennoch versuchten, sich und anderen einen angemessenen Alltag zu organisieren. Es gab und gibt aber auch die Unvernünftigen in diesen Tagen, in dieser Zeit, ja, die Unbelehrbaren, die zum Beispiel durch Coronaraves oder offensive Verweigerungshaltung aufgefallen sind. All das strengt eine Gesellschaft, strengt uns alle extrem an. All das ist ein dauerhafter Ausnahmezustand, der unser friedliches Miteinander auf eine harte Probe stellt. Die letzten Monate waren eine nationale Kraftanstrengung für viele einzelne, deren Alltag von allem durch individuellen Verzicht und vorgeschriebene Einschränkungen geprägt war.

Eine vergleichbare Kraftanstrengung ließ diese Regierung aber in diesem Kontext leider schmerzlich vermissen. Dieser Senat, der den Menschen in unserer Stadt mit einer Verordnung nach der anderen alles abverlangt, unterlässt aber selbst jegliche Kraftanstrengung, die eine Pandemiebekämpfung ohne solch harte Einschnitte ermöglichen würde.

Eine notwendige Kraftanstrengung wäre es gewesen, die Behörden in unserer Stadt innerhalb kürzester Zeit für konsequente Kontrollen und die Durchsetzung der bisherigen Regeln zu befähigen und zu fokussieren, um unser wirtschaftliches Leben in dieser Stadt am Laufen zu halten.

[Beifall bei der FDP]

Eine notwendige Kraftanstrengung wäre es gewesen, die Schulen in unserer Stadt in kürzester Zeit mit geeigneten Luftfiltersystemen auszustatten – ein entsprechender Antrag von uns liegt heute nun vor –, um den Unterricht unserer Kinder in dieser Stadt langfristig zu sichern. Eine notwendige Kraftanstrengung wäre es gewesen, die Verwaltung in unserer Stadt innerhalb kürzester Zeit zumindest so weit zu digitalisieren, dass die behördlichen Kontaktnachverfolgungen und grundlegenden Verwaltungsakte garantiert werden. Das wäre eine notwendige Kraftanstrengung gewesen.

[Beifall bei der FDP]

Sie, wir verlangen von den Menschen in dieser Stadt ein Höchstmaß an Kraftanstrengung, aber selbst legen Sie oft nur Mittelmaß an den Tag. Während ein Freiheitsrecht nach dem anderen über schnelle Verordnungen eingeschränkt wird, schaffen Sie es nicht, in einem angemessenen Zeitraum Gelder für die Erleichterungen bereitzustellen. Noch immer diskutieren wir über die Fragen von Nachtragshaushalt und haben keinen Punkt gesetzt, Herr Schneider.

Was noch immer fehlt, ist eine erkennbare erklärte und gut begründete Strategie – und ich habe dem Regierenden Bürgermeister heute Morgen sehr gut zugehört –, eine erkennbare und gut begründete langfristige Strategie. Unsere Stadt weiß noch immer nicht, wie sie die kommenden Monate bestreiten soll, was sie konkret erwartet. Viele Menschen in unserer Stadt haben sich auf diesen harten Winter vorbereitet. Sie leiden jetzt darunter, dass der Staat offenkundig nicht im gleichen Maße das Gleiche getan hat. Das sorgt für Unsicherheit, und das gefährdet unbestreitbar auch den sozialen Frieden in der Stadt. Damit meine ich nicht nur die lautstarken Coronaleugner. Wir erleben eben auch immer mehr Menschen, bei denen aus ehrlichen Sorgen eine zunehmende Unsicherheit wird. Diese Unsicherheit wird mitunter zu Angst, und wo diese Angst hinführt, wissen wir alle. Daran kann – bis auf eine niederträchtige Ausnahme in diesem Parlament – doch niemand ein Interesse haben.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der CDU, der LINKEN und den GRÜNEN – Uiuiui! von der AfD]

Die stärksten Waffen in dieser Pandemie sind eben Eigenverantwortung und gelebte Solidarität. Genau deshalb brauchen wir eine konkrete Strategie zur Pandemiebekämpfung bei zeitgleicher und größtmöglicher Aufrechterhaltung der grundlegenden Freiheitsrechte eines jeden Einzelnen. Ab sofort darf die Pandemiebekämpfung nur noch einem Grundsatz folgen: Freiheit und Verantwortung!

[Beifall bei der FDP – Beifall von Andreas Wild (fraktionslos)]

Der Drang nach Freiheit muss doch in dieser Stadt nicht erklärt werden. Der Drang nach Freiheit muss nicht begründet werden, schon gar nicht in Berlin. Wir sind die Stadt der Freiheit. Eine freie liberale Großstadt, das sind wir hier in Berlin. Deshalb ist doch unser gemeinsames Glück und ein Weg durch all das Ungewisse, das die Zukunft für uns bereithält, am ehesten zu finden in unserer Vernunft und in unserer Fähigkeit, zu denken – eine Fähigkeit, die jedem einzelnen Menschen so eigen ist, so natürlich im Übrigen auch, wie das Atmen. Beides, das Atmen und das eigenständige Denken, müssen wir in diesen Zeiten mit absoluter Priorität schützen, denn sie bilden die Grundlage unseres Zusammenlebens.

Politik muss sich erklären. Sie, meine Damen und Herren auf den Senatsbänken, müssen anfangen, zu erklären, auf welcher Grundlage Sie Maßnahmen für sinnvoll erachten und umsetzen. Sie müssen sich rechtfertigen, genau weil dies auch die Stadt der Freiheit ist.

[Beifall bei der FDP]

Es ist für niemanden nachvollziehbar, wenn das RobertKoch-Institut sehr eindeutig sagt, dass zum Beispiel gastronomische Betriebe mit einem umgesetzten Hygienekonzept nicht die Pandemietreiber sind, und genau diese

dann doch diejenigen sind, die geschlossen werden. Da fragt man sich doch schon: Haben Sie andere Erkenntnisse? Auf welcher politischen Grundlage und aufgrund welcher Abwägung entscheiden Sie das?

[Marc Vallendar (AfD): Bauchgefühl!]

Was sind die Grundlagen, die genau zu diesen Entscheidungen führen, wenn selbst das Robert-Koch-Institut zu der Auffassung kommt, dass an dieser Stelle kein Handlungsbedarf besteht?

[Beifall bei der FDP]

Allein der Umstand, dass wir uns diese Fragen stellen müssen, sorgt im Übrigen bei allen für Unsicherheit in diesen Tagen. Dem können Sie – wir hier im Parlament – besonders entgegenwirken. Deshalb: Bringen Sie die Diskussion rund um die möglichen Maßnahmen genau hierhin zurück, in das Parlament! Verstehen Sie diese Sitzung heute als Anfang vom Ende der Verordnungspolitik!

Herr Regierender Bürgermeister! Wenn man Ihren Appell von heute Morgen – Machen Sie als Parlamentarier mit! – ernst nimmt, dann muss heute der Tag sein, ab dem das Parlament unregelmäßig öfter in dieser Krise zusammenkommt, weil es notwendig ist, dass wir über die Dinge streiten, ringen und die Lösungen für diese Stadt anbieten. Nur dann können wir den Menschen auch die Nachvollziehbarkeit erklären, wenn eine umfassende öffentliche politische, demokratische Abwägung zu all diesen Maßnahmen stattgefunden hat. Wenn das der Appell Ihrer Regierungserklärung ist, dann hoffe ich, dass jetzt auch das politische Handeln in diesem Haus so erfolgt und wir als Parlament genau diesen Schritt zusammen gehen.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Stephan Standfuß (CDU)]

Um das ein Stück weit zu unterstreichen, haben wir als Freie Demokraten ein Grundrechtsgesetz in diesem Hause eingebracht, auf dessen Grundlage wir genau diese Dinge regeln können. Überwinden wir also gemeinsam im Sinne der Aufklärung die ganz üblichen Fronten hier im Haus! Es ist Zeit dafür, diese Fronten zu überwinden. Für das übliche Kleinklein ist in dieser Zeit eben keine Zeit.

[Torsten Schneider (SPD): Aber Sie reden doch über nichts anderes!]

Ganze Branchen – Herr Schneider! – drohen, zu ersticken. Wir müssen der menschgemachten Wirtschaft vor allem eine effektive Selbsthilfe ermöglichen. Unter strengen Hygieneauflagen sollten Restaurants öffnen dürfen. Auch Kinos, Theater oder Museen müssen öffnen dürfen, wenn sie das Infektionsrisiko in ihren Einrichtungen nachweisbar gering halten. Um das zu ermöglichen, muss der Senat gleichzeitig seinen Kernaufgaben nachkommen, und sie vor allen Dingen erfüllen, was ja in unserer

Stadt leider so nicht immer der Fall ist. Es kann aber gelingen.

Alle Behörden müssen prioritär für die Kontrolle bestehender Maßnahmen eingesetzt werden. Es ist angebracht, – und ich bin Ihnen dankbar, Herr Regierender Bürgermeister, dass Sie das heute Morgen so klar gesagt haben – , dass nunmehr auch die Ordnungsämter statt zum Knöllchenverteilen in der Stadt stärker unterwegs sind, um Coronakontrollen durchzuführen.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Kurt Wansner (CDU)]

Außerdem ist es eine Selbstverständlichkeit – und auch das haben viele Vorredner heute angesprochen –, dass Hilfe von den Bundesbehörden, auch von der Bundeswehr, von allen staatlichen Stellen in unserer Stadt angenommen wird.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Von allen staatlichen Stellen, Frau Jarasch! Sie reden nach mir. Ich erwarte ein klares Ja von Ihnen dazu. Ich habe vorhin Ihren Applaus vermisst, als der Regierende Bürgermeister dazu gesprochen hat. Ich erwarte heute von Ihnen, stellvertretend für Friedrichhain-Kreuzberg, ein Bekenntnis an dieser Stelle.

[Beifall bei der FDP und der CDU – Beifall von Frank-Christian Hansel (AfD) – Zuruf von Antje Kapek (GRÜNE)]

Als selbstverständlich garantieren müssen wir außerdem in dieser Stadt das Bildungsangebot. Schulen und Kitas müssen geöffnet bleiben. Es muss ein grundständiges Angebot zur Betreuung unserer Kleinsten geben. Sie müssen, wir müssen zusammen den Familien unserer Stadt eine unumstößliche Bildungs- und Betreuungsgarantie gewährleisten. Das ist unsere Aufgabe.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Kurt Wansner (CDU)]

Unumstößlich – dafür muss eine wirkliche politische Kraftanstrengung her. Es darf uns nichts zu teuer oder zu aufwendig sein, um dieses Bildungsversprechen zu erfüllen. Bauen Sie jetzt sofort an allen Schulen die geeigneten modernen Lüftungssysteme und Filter ein! Stellen Sie altbewährte Pläne um, wenn es der Betreuung unserer Kinder, Schülerinnen und Schüler in unserer Stadt dient! Die Zukunftschancen unserer Kinder dürfen nicht von den starren bürokratischen Regeln hier im Haus und in der Verwaltung abhängig sein.

Es wird einen Weg geben müssen, Ausschreibungen für diese Vorhaben schnell und rechtskonform zu gestalten. Wir haben ja in den letzten Monaten gesehen, wie schnell es Ihnen möglich war, die elementaren Grund- und Freiheitsrechte von uns allen einzuschränken. Ich bin mir sicher, Sie werden einen Weg finden, verkrustete und

lebende bürokratische Hürden so abzubauen, dass genau das am Ende auch möglich wird.

[Beifall bei der FDP]

Millionen Menschen erwarten von Ihnen, dass Sie in den nächsten Tagen die gleichen Anstrengungen an den Tag legen wie sie selbst. Der Mitarbeiter eines Hotels, der sich seit einem halben Jahr in Kurzarbeit befindet, die Sozialarbeiterin in einem Kinderhaus, die sich und ihre Kollegen seit einem halben Jahr vor der Angst vor einem Infektionsausbruch in ihrer Einrichtung über Wasser hält, die Restaurantbesitzerin, die nicht weiß, wie sie aufgrund der Verdienstausfälle des letzten halben Jahres in Zukunft Miete und Gehälter zahlen soll – es gibt viele Menschen, die unter größter Kraftanstrengung ihr Bestes tun und doch unter dieser Situation leiden. Diese Menschen erwarten von uns, der Politik, zu Recht größte politische Kraftanstrengung. Sie wollen nicht erzogen oder bevormundet werden. Sie wollen befähigt werden, diese schwierige Situation zusammen mit ihren Mitmenschen zu erleben und zu meistern. Sie wollen das Leben, das ihnen auch in einer Pandemie zusteht, ein Leben in Freiheit und mit Verantwortung, und es ist unsere Aufgabe, ihnen genau das zu ermöglichen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nunmehr Frau Jarasch das Wort. – Bitte schön, Frau Kollegin!

[Kurt Wansner (CDU): Jetzt kriegen wir die Antwort zur Bundeswehr! – Zuruf von Roman Simon (CDU)]

Sehr geehrter Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! „In der Politik heißt Freiheit Verantwortung.“ – Gerade die Coronapandemie zeigt, wie sehr dieser Satz des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck Gültigkeit hat, denn die Coronakrise stellt nicht nur in ganz neuer und radikaler Form die Frage an jede und jeden von uns, wo unsere persönliche Freiheit endet und unsere jeweilige Verantwortung für unsere Mitmenschen beginnt, vielmehr zeigt der Satz auch auf, was ein Parlament und was politische Parteien in dieser Krise leisten müssen.

Wir sind in Berlin insgesamt gut durch die erste Welle der Pandemie im Frühjahr gekommen. Wir haben rasch reagiert, in Berlin sogar rascher als anderswo,

[Lachen von Dirk Stettner (CDU)]