Protocol of the Session on November 1, 2020

[Lachen von Dirk Stettner (CDU)]

und die Maßnahmen haben gewirkt. Dann kam der Sommer. Wir alle haben aufgeatmet, waren draußen, haben uns endlich wieder getroffen, sind sogar wieder verreist, wenn viele auch lieber innerhalb Deutschlands.

(Sebastian Czaja)

[Zuruf von Mario Czaja (CDU)]

Wirtschaft und Arbeitsmarkt haben begonnen, sich zu erholen, wenn auch unter mehr als herausfordernden Bedingungen. Kurze Zeit fühlte es sich fast so an, als hätten wir die Pandemie bereits hinter uns. Dann kam der Herbst, und mit ihm kam das Virus zurück. Die Schutzmaßnahmen wurden verstärkt, der jetzt beschlossene Lockdown zwingt viele Branchen, den mühsam wieder angekurbelten Betrieb erneut herunterzufahren. Die Fassungslosigkeit und Wut darüber sind groß, allen voran in der Kultur, in der Gastronomie, beim Tourismus und in der Veranstaltungsbranche.

[Marc Vallendar (AfD): Zu Recht!]

Das ist verständlich, weil viele investiert und innovative Konzepte dafür entwickelt haben, wie Kultur und Veranstaltungen unter Pandemiebedingungen möglich wären. Sie fühlen sich zu Sündenböcken gemacht, und vielen Betrieben steht das Wasser bis zum Hals. Ich bin froh, dass wir diese Debatte heute im Parlament führen, denn die Gastronomen und Veranstalter, die Kreativen und Kulturschaffenden sowie all die anderen Betroffenen erwarten genauso wie die Berlinerinnen und Berliner insgesamt zu Recht, dass wir unsere Entscheidungen bewusst treffen, sie begründen können und dann auch zu ihnen stehen,

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

vor allem, wenn es um Entscheidungen wie einen Lockdown geht, die das Leben der Menschen massiv beeinflussen. Wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen und so tun, als hätten wir mit den Beschlüssen der MPK nichts zu tun. Es gibt keinen Coronaautomatismus. Der Senat berät und beschließt Verordnungen, und auch das Parlament hat bereits heute die Möglichkeit, über Verordnungen zu beraten und Änderungen zu verlangen. Das haben wir in der Vergangenheit auch schon getan und damit zu Recht die Versammlungs- und Religionsfreiheit als Grundrechte aufrechterhalten.

Die Infektionszahlen steigen aber dramatisch und nahezu ungebremst an. Sie liegen mehr als doppelt so hoch wie im Höchststand der ersten Welle im April. Mittlerweile steigt auch die Zahl der mit Covid-19-Patientinnen und patienten belegten Intensivbetten, und zwar schneller als erwartet. Aktuell gibt es insgesamt nur noch 176 freie Betten in Berlin; 118 sind mit Covid-19-Patientinnen und -patienten belegt. Gleichzeitig sind die Gesundheitsämter nicht mehr in der Lage, Kontakte nachzuverfolgen.

[Oliver Friederici (CDU): Wieso beschreiben Sie das eigentlich alles?]

Mittlerweile wissen wir in weit über 80 Prozent der Fälle nicht, woher die Infektionen kommen. Die Eindämmungsstrategie funktioniert damit nicht mehr. Deshalb geht es nicht so sehr darum, welche Orte konkret Infekti

onsherde sind, sondern schlicht darum, die Zahl an Kontakten möglichst herunterzufahren.

[Beifall von Silke Gebel (GRÜNE) und Stefanie Remlinger (GRÜNE)]

Jedem und jeder muss klar sein: Wenn wir nicht handeln, stößt das Gesundheitssystem an seine Grenzen. Die gesundheitliche Versorgung der Berlinerinnen und Berliner wäre dann nicht mehr gewährleistet, und zwar nicht nur bei Corona, sondern auch bei anderen Krankheiten.

[Andreas Wild (fraktionslos): Demokratie ist nicht verhandelbar!]

Bereits heute wird geschultes Personal von anderen Stationen abgezogen, damit sie sich um Covid-19

Patientinnen und -patienten kümmern. Wenn wir nicht handeln, werden im schlimmsten Fall Ärztinnen und Ärzte gezwungen, sich zu entscheiden, welche Patientinnen und Patienten behandelt, welche aufgegeben werden. Das wollen wir unter allen Umständen verhindern.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

In einer humanen Gesellschaft ist jedes Menschenleben gleich viel wert. Davon rücken wir nicht ab.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Ich komme zu einem weiteren Punkt, der mir zentral wichtig ist. Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, die Grund- und Bürgerrechte auch bei der Bekämpfung der Pandemie zu sichern. In einer freiheitlichen Demokratie verbietet sich ein flächendeckender und erst recht ein verdachtsunabhängiger Zugriff des Staates auf die Privatsphäre. Ein liberaler Staat kann und darf das Privatleben seiner Bürgerinnen und Bürger nicht ausspähen, auch nicht, um eine Pandemie zu bekämpfen.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Andreas Wild (fraktionslos) und Thorsten Weiß (AfD) – Marc Vallendar (AfD): Toll! Macht er aber gerade!]

Der Zugriff des Staates muss im Wesentlichen auf den öffentlichen Raum beschränkt bleiben. Zugleich hat der Staat aber die Verantwortung, die Gesellschaft insgesamt und insbesondere vulnerable Gruppen in der Pandemie bestmöglich zu schützen. In dieser Abwägung ist es richtig, dass die MPK und auch der Berliner Senat sich dafür entschieden haben, das öffentliche Leben in den kommenden vier Wochen herunterzufahren. Das sage ich hier in aller Deutlichkeit.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Nicht, weil Restaurants oder Clubs, Konzertsäle oder Kinos, Sporthallen oder Yogastudios schuld an der Ausbreitung des Virus wären, erst recht nicht, weil sie für unser Leben zweitrangig und unverzichtbar wären, im

Gegenteil! Wir alle merken gerade jetzt, wie zentral solche Orte der Begegnung für uns sind. Es sind aber Orte der Begegnung, und damit geht einher, dass wir mehr Menschen treffen, mehr Kontakte haben und sich unsere Wege mehr kreuzen, je mehr wir in der Stadt unterwegs sind. Auch für Begegnungen im privaten Raum gibt es Beschränkungen. Damit sie eingehalten werden, sind wir im Wesentlichen auf die Eigenverantwortung der Menschen angewiesen. Weder Moralpredigten, noch die Suche nach Sündenböcken helfen uns weiter, erst recht nicht der öffentliche Aufruf aus Bayern, dass Nachbarn sich gegenseitig ausspähen sollen.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Weder Neuköllner Familienfeiern noch die tanzfreudige Jugend in Mitte sind schuld daran, dass auch in Hellersdorf und Spandau die Infektionszahlen steigen.

[Torsten Schneider (SPD): Das war ja mal ein geiler Satz! Heiko Melzer (CDU): Den schreiben wir uns mal auf! – Zuruf von Mario Czaja (CDU) – Stefanie Remlinger (GRÜNE): Ja, das war ein schöner Satz!]

Das Virus hat sich im Sommer in der Breite ausgedehnt, und es streut, wo immer sich ihm die Möglichkeit bietet. Je dichter die Menschen beieinander leben, desto früher –

So, ich darf jetzt wieder um etwas Ruhe bitten!

Danke, Herr Präsident! – wird das Virus schließlich überall ankommen, sofern wir nicht die Notbremse ziehen. Wir können aber mit der Situation umgehen, wenn wir aus den Erfahrungen lernen, die es mittlerweile mit dem Virus gibt. Das gilt gerade auch für uns Politikerinnen und Politiker.

[Heiko Melzer (CDU): Wie ist es mit der Bundeswehr in Kreuzberg?]

Ja, wir müssen uns fragen lassen, ob die beschlossenen Maßnahmen verhältnismäßig und zielgenau sind, ob wir die richtigen Prioritäten setzen und ob wir die Zeit genutzt haben, damit uns die zweite Welle nicht so unvorbereitet trifft wie die erste. Wir müssen lernen, eigene Fehler einzugestehen, und wenn nötig, zu korrigieren, denn nur so bleiben wir glaubwürdig.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Paul Fresdorf (FDP): Wie ist es mit dem Fehler, die Bundeswehr nicht einzusetzen?]

Wir müssen Daten sammeln, das Virus und seine Verbreitung verfolgen, und zwar kriminalistisch und präzise, damit wir verstehen und zu evidenzbasierten Maßnahmen kommen. Wir wissen noch immer viel zu wenig über

Infektionsorte und Ansteckungswege. Alles andere ist Spekulation in der jetzigen Situation, und solange das so bleibt, bleibt politisches Handeln mit Unsicherheiten verbunden. Unsere stärkste Waffe könnte das Wissen sein, und wir müssen regelmäßig, erstmals in zwei Wochen, überprüfen, ob die Maßnahmen wirken und ob sie gelockert werden können.

[Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Dr. Wolfgang Albers (LINKE)]

Dabei muss uns klar sein, dass die Gesellschaft insgesamt erschöpfter und gereizter ist als zu Beginn der ersten Welle im März. Die Begrenzung sozialer Kontakte, Arbeitszeitreduzierungen und Arbeitslosigkeit haben zu einem Anstieg häuslicher Gewalt geführt. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder dem wirtschaftlichen Ruin sowie die Angst vor Einsamkeit und Isolation sind neben die Angst vor der Ansteckung getreten.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Unsere Worte!]

Die sozialen Folgen und die Folgen für die Gesundheit der Menschen sind noch nicht abzusehen, jedoch ist anzunehmen, dass wir damit noch lange zu tun haben.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Richtig!]

Wir müssen daher alles dafür tun, um Unternehmen und Arbeitsplätze zu sichern. Wir müssen aber auch die Gewaltprävention hochfahren,

[Zuruf von Mario Czaja (CDU)]

Plätze in Frauenhäusern ausbauen und Beratungsangebote auf Onlineservices umstellen. Psychiatrische Tageskliniken dürfen nicht wieder geschlossen werden, denn mehr Menschen als zuvor brauchen jetzt psychologische Beratung und Unterstützung.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Wirtschaftspolitisch haben wir als Land in der ersten Phase schnell und unbürokratisch Soforthilfe angeboten. In Berlin haben wir die Hilfen so gestrickt, dass sie auch Soloselbstständigen zugutekamen. Auf diese Weise haben wir 350 000 Arbeitsplätze gesichert, und mehr als 270 000 Unternehmen und Selbstständige haben von diesen Hilfen profitiert.

[Zuruf von Mario Czaja (CDU)]

Unbürokratisch schnell und für möglichst viele Selbstständige, das muss jetzt auch für die finanzielle Unterstützung gelten, die der Bund den betroffenen Branchen zugesichert hat. Der Unternehmerlohn muss kommen, den unsere Wirtschaftssenatorin Ramona Pop schon lange eingefordert hat.

[Beifall bei den GRÜNEN – Mario Czaja (CDU): Gut, dass Sie den Namen noch mal erwähnen!]