Protocol of the Session on March 3, 2016

Sie vergleichen Berlin heute mal nicht mit Kopenhagen, aber mit Paris und London. Dann sagen Sie doch, wie hoch der Anteil des Radverkehrs dort ist! Der liegt bei 2 bis 3 Prozent. Also wenn Sie in Berlin Zustände haben wollen wie in Paris, dann müssen Sie tatsächlich nichts tun. Aber wir machen Politik und deswegen auch eine erfolgreiche Verkehrsstrategie.

[Beifall bei der SPD – Heidi Kosche (GRÜNE): Das interessiert Sie doch nicht!]

Lassen Sie mich vielleicht grundsätzlich auch etwas zur Volksgesetzgebung im Allgemeinen und zu diesem Volksbegehren im Besonderen sagen! Der Souverän entscheidet nicht nur alle fünf Jahre und entsendet Vertreterinnen und Vertreter in dieses Haus und in die Bezirksverordnetenversammlungen. Nach meinem Verständnis endet Demokratie nicht mit dem Wahlakt, und deswegen haben die Wählerinnen und Wähler in Einzelfragen auch die Möglichkeit, mit einem Volksbegehren ihren Willen kundzutun und dieses dann in Gesetzesform zu gießen. Das hat der rot-rote Senat eingeführt. Ich will das hier noch mal betonen, weil diese Errungenschaft auch aus der Feder von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten kommt und wir deswegen an diesen Errungenschaften nichts kritisieren werden. Es geht in der Volksgesetzgebung in der Tat nicht um Ersatzparlamentarismus,

[Heidi Kosche (GRÜNE): Der Chef bestimmt selber!]

weil wir oder Sie oder das Haus insgesamt scheitert, sondern um eine wichtige und richtige Ergänzung der Demokratie, und das möchte ich auch so verstanden wissen. Uns Parlamentariern bleibt aber dauerhaft, auch über die Einzelfragen hinaus, das Gemeinwohl mit den und entgegen der Einzelinteressen abzuwägen. Diese Abwägung betrifft auch unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Und als linke Volkspartei wissen wir,

[Lachen bei den GRÜNEN]

dass es auch die vermeintlich unausgesprochenen, vermeintlich kleinen – – Ja, Sie lachen über die angeblich unbedeutsamen Interessen! Aber auch diese müssen Artikulation finden und sich auch in unserer Gesetzgebung wiederfinden. Die müssen auch in diesem Hause Gehör finden und nicht nur die Gruppen, die sich lautstark mit großen Medienkampagnen in dieser Stadt durchsetzen.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ich sage Ihnen das insbesondere, weil es für mich in der Frage der Volksgesetzgebung eine Rolle spielt, wie wir Einzelinteressen, Gemeininteressen und das Gesamtwohl miteinander verbinden. Das ist eine entscheidende Frage.

Ich habe mich in den letzten Wochen auch intensiv mit den Initiatoren, mit der Initiative beschäftigt und mich vor zwei Wochen das erste Mal mit ihnen getroffen. Der Gesetzentwurf ist ungefähr zehn Tage veröffentlicht. Man kann also die ungefähr 100 Kommentare von den Bürgerinnen und Bürgern zu diesem Gesetzentwurf auch lesen,

und man wird feststellen: Einige finden das gut; einige wollen da noch deutlich weiter gehende Punkte diskutieren. Am Mittwoch sind wir Abgeordnete – das ist sozusagen eine Fußnote – als Verkehrssprecher eingeladen, nach dem nächsten Verkehrsausschuss mit den Initiatoren an ihrem Gesetzeswerk zu basteln. Aber ich sage Ihnen gleich: Nur das Einbinden von fünf verkehrspolitischen Sprechern dieses Hauses ist noch lange nicht der Diskurs mit der Stadtgesellschaft, und der ist dringend notwendig. Und wenn man Demokratie ernst meint, muss man es eben auch glaubhaft in Parteien und Verbänden diskutieren und für seine Positionen werben – das haben die Initiatoren des Begehrens eher nicht gemacht.

Ich hoffe, dass es auch im Sinne unserer Demokratie ist, dass die Initiatoren nicht morgen mit den Unterschriftenlisten in die Welt stürmen, sondern das mit dem ADFC und den anderen Mobilitätsverbänden diskutieren, auch mit den Fußgängerinnen und Fußgängern, mit der BVG und ihren Fahrgästen sowie den Autofahrerinnen und Autofahrern dieser Stadt. Denn das ist vonnöten. Denn wenn wir gemeinsam mit den Initiatoren zu einer anderen Verkehrspolitik kommen wollen, dann muss die Stadtgesellschaft mitgenommen werden, und die im Entwurf vorhandenen Einschränkungen für die Fußverkehre, für die Busspuren, für den motorisierten Individualverkehr müssen ehrlich benannt und auch abgewogen werden.

Ich kann mir für Berlin eigentlich nicht vorstellen, dass wir mit einem Volksbegehren zum Radverkehr scheitern. Ich will es mir aber auch nicht vorstellen, dass wir Folgebegehren für Einzelinteressen haben: die Auflösung von Tempo-30-Zonen, gegen Parkraumbewirtschaftung oder für freie Taxisspuren, gesondert von Bus- und Radspuren. Wenn es künftig Politik wird, mit Einzelinteressen gegen die Gesamtheit, die Mehrheit dieser Stadt zu agieren, dann müssen wir auch intensiv in den Diskurs gehen und uns um das Gemeinwohl kümmern.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ich möchte aber auch positive Dinge zu diesem Begehren sagen: Die zügige Beseitigung der Mängel an den Radwegen dauert in vielen Bezirken, insbesondere im Nebenstraßennetz, zu lange. Man sieht das an den 1 500 Kilometern straßenbegleitenden Radverkehrsanlagen deutlich. Ich habe das Gefühl, in einzelnen Bezirken gilt das Vogel-Strauß-Prinzip: Kopf in den Sand – dann muss man auch die Fehler nicht sehen und braucht es auch nicht wiederherzustellen. Viel zu lange und viel zu häufig lagen die Schwerpunkte bei den Baumaßnahmen im Straßenland, zu selten bei Geh- und Radwegen, und zu häufig waren es lange, teure Baumaßnahmen. Wenn man sich heute die Asphaltdecken und die Straßenbeläge anschaut, sind die Flicken schlecht gemacht und halten auch nicht dauerhaft.

Wir haben uns im Verkehrsausschuss deswegen in einer Haushaltsberatung dafür eingesetzt, dass die Tiefbauabteilungen in den Bezirken aufgestockt werden mit

Verkehrsplanern und Verkehrsingenieuren. Im Haushaltsbeschluss hingegen fand das jedoch keine Würdigung. Ich denke, als Verkehrspolitiker unserer Fraktion sind wir da deutlich dabei, das auch weiterhin zu vorzutragen.

[Benedikt Lux (GRÜNE): Warum sind Sie denn dann rausgegangen?]

Das wäre der Flaschenhals gewesen, denn bei der Bauplanung und der Bauverwendung der Mittel müssen wir noch an der Umsetzung arbeiten. Wir haben – ich habe es vorhin schon gesagt – die Mittel für die Sanierung und den Neubau der Radwege kontinuierlich erhöht, und auch deswegen muss dieser Flaschenhals gelöst werden.

Ein weiterer guter Vorschlag ist die Frage der Fahrradstaffel: Sie führt nicht nur zu mehr Sicherheit auf Radwegen, weil falsch parkende PKWs schnell erkannt werden, sondern auch zu mehr Sicherheit für Radfahrerinnen und Fußgänger, weil das Thema verkehrssichere Räder und rücksichtsvolles Verhalten auch noch mal thematisiert wird. Auch teile ich die Ansicht des Begehrens, dass es sich bei Fahrraddiebstahl nicht um den kleinen Kiezklau handelt, sondern um professionell organisierte Kriminalität. Massenhafter Fahrraddiebstahl ist keine Bagatelle, und die Aufklärungsquote liegt gefühlt oder zumindest für die Öffentlichkeit gefühlt bei nahezu 0 Prozent.

An anderer Stelle bin ich wiederum skeptisch: 100 000 neue Fahrradstellplätze an den U- und S-Bahnstationen bedeuten auch, dass wir viel Platz finden müssen. Oder die 12 km langen Radschnellwege durch die Stadt, die ausschließlich für den Radverkehr vorgehalten werden sollen, die bevorrechtigte Kreuzungssituation haben sollen und die auch nicht von Ampeln unterbrochen werden sollen: 12 km in der Länge der Stadt, und davon 8 bis 10 Routen – ich halte das tatsächlich für sehr ambitioniert, solche Regionen, solche Strecken zu finden. Aber das ist in der medialen Resonanz, und deswegen ist es eines der Themen.

In der Realität bedeutet das, dass wir uns wahrscheinlich darüber auseinandersetzen müssen, den Verkehrsraum neu aufzuteilen. Das bedeutet eben auch Beschränkungen für Fußgängerinnen und Fußgänger. Das bedeutet auch Vorfahrtsänderungen zulasten von Bus und Straßenbahn. Das bedeutet aber auch Wegfall von Parkplätzen für Anwohnerinnen und Anwohner. Das alles bitte ich dann auch mit der Stadtgesellschaft zu diskutieren – das gehört zur Demokratie dazu.

In einem möchte ich Ihnen die Zahlen noch mal vor Augen führen: 13 Prozent Anteil am Modal Split der zurückgelegten Wege für den Radverkehr. Das schwankt zwischen Innenstadt bei 20 Prozent und Stadtrand bei 10 Prozent. Wir machen aber Politik nicht nur für 20 Prozent dieser Stadt, sondern auch für die anderen 80 Prozent, und deswegen – nicht, weil es gegeneinander steht – muss man es eben miteinander aushandeln, und

wenn wir Radverkehr fördern wollen und die Akzeptanz für die Radverkehrsstrategie erlangen wollen, dann geht das nur miteinander, dann geht es auch nur um ausgewogene Dinge. Denn wenn sich eine Gruppe zulasten der anderen Gruppen dauerhaft durchsetzt, wird das nicht gehen. Da bin ich an Ihrem Punkt, dass wir den Verkehrsraum neu diskutieren.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen: Berlin wird Fahrradstadt. Das ist ein Prozess, der sich entwickeln wird. Berlin bleibt Fußgängerstadt, und Berlin ist ÖPNV-Stadt. Diesen Umweltverbund gilt es zu stärken. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Danke schön! – Für die Fraktion Die Linke jetzt der Kollege Wolf.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Kreins! Zu erklären, dass unter diesem Senat die Verkehrswende vorangebracht wurde, scheint mir eine neue Form der Realitätsverweigerung zu sein.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Zu sagen, wir geben Milliarden für neue S-Bahnzüge aus, aber dabei zu unterschlagen, dass aufgrund der Politik der Koalition und des Senats diese S-Bahnzüge erst vollständig im Jahr 2023 zur Verfügung stehen, ignoriert die Wirklichkeit. Zu sagen, wir haben die Verkehrswende vorangebracht, und zu ignorieren, dass seit fünf Jahren Busse und Bahnen immer langsamer werden und damit mehr Fahrzeuge benötigt werden, die Umlaufzeiten sich erhöhen, dass es mehr kostet etc., ist eine Form von Realitätsverweigerung.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Und zu einer Radverkehrsstrategie zu sagen, wir haben jetzt acht Modellprojekte, die wir bis 2017 auf den Weg bringen wollen, und davon sind gerade mal vier begonnen – das ist die Realität dieses Senats, und das ist der Grund, weshalb es ein Volksbegehren zur Radverkehrsentwicklung und zur Radverkehrsstrategie gibt. Dieser Volksentscheid ist Ergebnis Ihrer Politik und des Nichthandelns in den letzten Jahren!

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Und wenn dann als Reaktion vonseiten des Senats gesagt wird, wir machen doch keine Verkehrspolitik per Gesetz – dazu hat der Kollege Gelbhaar schon einiges gesagt –, dann sage ich: Wenn Sie das nicht wollen, dass jetzt über Volksentscheid ein Gesetz vorangebracht wird, dann

(Ole Kreins)

müssen Sie mal eine Schippe drauflegen! Dann müssen Sie zulegen; dann muss auch wirklich etwas umgesetzt werden und nicht nur Papier bedruckt werden, auf dem gute Ziele stehen, aber das Handeln findet nicht statt! Und das Handeln wird eingeklagt mit diesem Volksentscheid und diesem Volksbegehren.

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Und wenn gesagt wird, wenn das Gesetz kritisiert wird – na gut, das ist ja nun die einzige Möglichkeit, wie man verbindliche Regelungen über einen Volksentscheid durchsetzen kann. Es reicht ja nicht aus, wenn man – wie der Senat das immer gern macht – Bemühenszusagen per Volksentscheid abstimmen lässt. Nein, das ist die einzige Möglichkeit, da die Verbindlichkeit herzustellen! Und wenn Sie das Gesetz nicht wollen, dann begeben Sie sich in die Verhandlungen und machen Sie deutlich, was Sie in der nächsten Zeit umsetzen wollen. Aber so viel Zeit bleibt Ihnen ja nicht mehr – insofern, glaube ich, werden wir diesen Volksentscheid bekommen, und es wird die Möglichkeit geben über diesen Volksentscheid, dass sich die Menschen artikulieren, die die Realität auf den Berliner Straßen und Plätzen tagtäglich erleben.

Und wenn dann vonseiten des Verkehrssenators argumentiert wird, wir müssen alle Verkehrsmittel gleich behandeln, und der Kollege Kreins eben noch mal mehrfach in seinem Beitrag von Partikular- und von Einzelinteressen spricht, dann will ich mal darüber reden, wie die Realität aussieht und welche Interessen bevorzugt werden und welche Einzelinteressen sich in der Verkehrspolitik und in der verkehrlichen Realität auf den Straßen und Plätzen durchsetzen.

Wir haben gegenwärtig nur an 3 Prozent der Straßen Wege, auf denen der Fahrradverkehr sicher und abgetrennt vom Autoverkehr stattfinden kann. Wir haben – das ist bereits gesagt worden – einen Radverkehrsanteil von 13 Prozent an den Wegen, im Innenstadtbereich liegt er deutlich höher, bei 20 Prozent oder mehr. Gleichzeitig werden 58 Prozent der Verkehrsfläche durch den motorisierten Individualverkehr beansprucht – bei nur 30 Prozent an den Wegen. Er hat 19 Mal mehr Fläche im Stadtraum zur Verfügung als der Radverkehr. Das ist eine Ungleichbehandlung. Wir müssen an die Neuverteilung der Verkehrsräume in der Stadt herangehen – das haben Sie gesagt –,

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Stefan Gelbhaar (GRÜNE) und Andreas Baum (PIRATEN)]

wobei es nicht um Gleichbehandlung, sondern um die Frage Priorität für den Umweltverbund aus Fußgänger-, Rad- und öffentlichem Personennahverkehr geht.

Wenn ich lese, dass im Berliner Energie- und Klimaschutzprogramm vorgesehen ist, dass bis zum Jahr 2050 1 400 Kilometer Fahrradverkehrsanlagen hergestellt wer

den sollen und der motorisierte Individualverkehr auf 17 Prozent abgesenkt werden soll, was ist das anderes als das Verlangen nach einer klaren Prioritätensetzung, nach einem Vorrang des Umweltverbundes und damit auch dem Zurückdrängen des motorisierten Individualverkehrs in der Stadt, im Stadtraum? Ich finde, wir müssen uns endlich dazu verständigen, dass wir diese klare Prioritätensetzung nicht nur in unverbindliche Programme schreiben, sondern dass sie sich auch in der Realität durchsetzt.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Andreas Baum (PIRATEN)]

Wir wissen, dass wir einen Engpass in der Verwaltung haben. Die Mittel für den Radverkehr, die in der Vergangenheit bescheiden waren, jetzt etwas erhöht worden sind, müssen jetzt endlich verausgabt werden. Wenn ich mir ansehe, dass einerseits gesagt wird: Wir wollen in jedem Bezirk eine Ingenieurstelle für den Radverkehr.

[Ole Kreins (SPD) hält zwei Finger hoch]

Ja, ja, Kollege Kreins, das ist die Zukunftsperspektive, ich rede erst einmal nur von einer Stelle. Gerade einmal im Bezirk Tempelhof-Schöneberg gibt es das. In den anderen Bezirken gibt es das in dieser Form nicht. Das macht deutlich, dass wir hier einen Engpass haben. Hier muss schleunigst etwas geschehen. Hier ist die Möglichkeit, durch Handeln des Senats, durch die Verbesserung der Personalausstattung dafür zu sorgen, dass das, was im Haushalt bescheiden genug für dieses Thema steht, auch wirklich umgesetzt werden kann.

[Beifall bei der LINKEN]

Wir brauchen ein dichtes, zusammenhängendes Radwegenetz, das auch auf Zuwachs ausgebaut sein muss, denn der Radverkehr wird auch in der Zukunft weiter zunehmen. Wenn man das BEK ernst nimmt, das in Ihrem Haus bearbeitet wird, werden wir eine deutliche Zunahme des Fahrradverkehrs innerhalb der Stadt haben. Die Fahrradwege und Fahrradstreifen müssen breit genug sein, damit auch überholt werden kann, sie müssen breit genug sein, damit auch in der Zukunft Lastenfahrräder aufgenommen werden können, sie müssen breit genug sein, damit auch dem Zuwachs an Elektromobilität im Fahrradverkehr Rechnung getragen werden kann, und an den Kreuzungen muss eine verkehrssichere Lösung geschaffen werden, damit die Zahl der Unfälle reduziert wird. Konzeptionen dafür gibt es. Sie müssen, verdammt noch mal, endlich umgesetzt werden.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Stefan Gelbhaar (GRÜNE)]