Protocol of the Session on November 26, 2015

(Antje Kapek)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir in den nächsten Wochen miteinander darüber sprechen,

[Steffen Zillich (LINKE): In den nächsten Wochen!]

ob und welche Notwendigkeit es gibt, Teilflächen im Geltungsbereich des Gesetzes zum Erhalt des Tempelhofer Feldes für eine vorübergehende Unterbringung von Flüchtlingen nutzbar zu machen, dann tun wir das in Anbetracht einer Lage, die von niemandem vorhersehbar war.

[Zurufe von den GRÜNEN und der LINKEN: Oh! – Anja Kofbinger (GRÜNE): Schon wieder!]

Und wenn heute schon so viel vom Volkswillen die Rede war, dann frage sich doch ernsthaft jemand, ob dieser Volkswille von einer Lage, wie wir sie heute haben, ausgehen konnte. Ich sage, wer das behauptet, der lügt.

[Beifall bei der CDU]

Seit September sind allein um die 40 000 Menschen als Flüchtlinge nach Berlin gekommen. Bis zum Ende dieses Jahres rechnet der Senat derzeit mit 26 000 weiteren Flüchtlingen, in kaum mehr als einem Monat. Diese Prognosen überholen sich immer wieder selbst, und ein Ende der Entwicklung ist im Moment nicht absehbar, das heißt, dass wir allein bis zum Ende der kalten Jahreszeit Unterbringungsmöglichkeiten für bis zu 100 000 Menschen benötigen, und von dieser Zahl war bisher noch gar nicht die Rede – zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten für 100 000 Menschen allein in diesen wenigen Monaten.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Breitenbach?

Nein! –

[Elke Breitenbach (LINKE): Macht er nie! Zu feige!]

Vor dem Hintergrund eines solchen Notstandes und weil wir uns alle nicht wünschen, täglich weitere Sporthallen für diesen Zweck zu beschlagnahmen, müssen nach meiner festen Überzeugung berlinweit alle dafür geeigneten Flächen zumindest vorübergehend für die Errichtung von mobilen Unterkünften – also Traglufthallen, Leichtbauhallen, Zelten – genutzt werden können. Ausschließlich und auf Dauer das Tempelhofer Feld hiervon auszunehmen, erscheint mir selbst in Anbetracht des Volksentscheids schwer vermittelbar, denn wir stellen bei vielen Gesetzen, Verordnungen, Regularien in diesen Tagen fest, die relative Normalität, auf der sie aufbauen und für die sie geschaffen waren, existiert im Moment nicht mehr.

[Beifall von Nikolaus Karsten (SPD)]

Eine undenkbare Situation ist eingetreten, und darum müssen wir über Dinge sprechen, die wir bis vor Kurzem alle miteinander ebenso für undenkbar gehalten haben.

Deswegen ist es richtig, dass wir darüber diskutieren, ob und wie wir das Gesetz über das Tempelhofer Feld einer aktuellen Notlage anpassen müssen oder nicht. Es muss – und das ist mir wichtig – aber vor allen Dingen ebenso klar sein, dass das Tempelhofer Feld nicht die erste Wahl bei der Unterbringung von Flüchtlingen sein darf, sondern das letzte Mittel in einer Notsituation.

[Zurufe von den GRÜNEN und der LINKEN]

Das ist es, was der Respekt vor dem Volksentscheid gebietet. Und das gebietet auch der Umstand – und da gebe ich Ihnen recht, Frau Kapek –, dass wir, solange es irgendwie möglich ist, die in meinen Augen problematische Konzentration Zehntausender Flüchtlinge auf so engem Raum vermeiden sollten.

Wir können aber bei der aktuellen Entwicklung nicht ausschließen, diese Kapazitäten trotzdem zu brauchen, und darum können und sollten wir die Voraussetzung dafür auch heute und hier in diesem Haus und in den nächsten Wochen miteinander diskutieren und dann politisch entscheiden. Die Diskussion ist da, wir werden ihr nicht aus dem Weg gehen. Wir werden uns ihr stellen.

[Elke Breitenbach (LINKE): Ej!]

Ein Volksgesetz so kurz nach seiner Entstehung zu verändern, das erfordert vom Parlament, von uns allen eine besondere Sensibilität. Und diese Sensibilität habe ich in den vergangenen Wochen bei einigen Beteiligten vermisst.

[Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Und ich hoffe, dass mit der extrem unglücklichen Kommunikation in den letzten Wochen nicht zu viel Porzellan zerschlagen wurde, denn besser hätte man mitunter kein Misstrauen schüren können bei denjenigen, die hinter dieser Debatte nichts anderes vermuten als einen Racheakt am Volksentscheid, aber ich sage Ihnen ausdrücklich: Darum geht es uns nicht!

Ich fand es deshalb auch sehr unglücklich – das sage ich offen und ehrlich –, die Diskussion ausgerechnet daran aufzuhängen, dass vor allem eine Aufstellungsmöglichkeit für die berühmte IGA-Blumenhalle für Unterbringungszwecke benötigt würde. Daraus abzuleiten, dass dieses Parlament innerhalb von zwei Wochen über eine Änderung des Tempelhofer Feld-Gesetzes zu entscheiden hätte, das erschließt sich mir nicht zwingend. Ich bin deshalb sehr froh zu lesen, dass intensiv nach anderen Flächen dafür gesucht und hoffentlich auch eine gefunden wird. Ich habe Herrn Geisel gehört, aber ich sage ausdrücklich: Wer daran festhält zu sagen, wir brauchen das Gesetz so schnell, wir brauchen eine Entscheidung in

zwei Wochen, weil wir für diese Halle, für die es definitiv andere Aufstellungsmöglichkeiten gibt, eine Änderung des Gesetzes brauchen, der schadet der Diskussion, die wir vor uns haben.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Denn wenn wir eine Änderung des Tempelhofer FeldGesetzes anstreben, dann brauchen wir einen offenen Austausch, eine stadtgesellschaftliche Debatte. Das muss und wird nicht ewig dauern, aber wir müssen uns die Zeit nehmen, die es dafür braucht. Und ich habe deshalb gestern den Tempelhof-Koordinator und BUND-Geschäftsführer, Tilmann Heuser, den Sie in der Frage als starke Stimme alle kennen, gebeten, mit uns gemeinsam ein dafür geeignetes Verfahren auf den Weg zu bringen, damit wir das kurzfristig und konzentriert leisten können. Das Ziel muss sein, alle wichtigen Beteiligten aus dem Kreis der Initiativen rund um das Tempelhofer Feld, Vertreter des Senats, Vertreter der Fraktionen des Abgeordnetenhauses an einem Tisch zu versammeln und zeitnah unsere Entscheidung vorzubereiten.

[Uwe Doering (LINKE): Warum denn dann nicht heute?]

Ich stelle mich nicht einer zeitnahen Entscheidung entgegen, aber ich sage, sie muss gut und über dieses Haus hinaus vorbereitet sein.

Dafür – das ist mein letzter Punkt – ist eine wichtige Grundlage ein belastbares Konzept für die geplante Erschließung und Inanspruchnahme der Flächen am Rand des Tempelhofer Feldes. Da gibt es noch nicht viel Substanz. Bevor wir diese Substanz nicht miteinander besprochen haben, bevor wir sie nicht kennen, sollten und werden wir das Gesetz nicht verabschieden.

[Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN – Uwe Doering (LINKE): Aha!]

Wir schließen eine Änderung des Tempelhofer-FeldGesetzes also nicht grundsätzlich aus. Wir stellen uns ihr nicht entgegen, wie das hier teilweise, vermutlich aus Motiven parteipolitischer Profilierung, stattgefunden hat. Aber ich sage, wenn wir uns der Diskussion nicht stellen, wenn wir nicht jetzt die Entscheidungen treffen, auf die wir möglicherweise in wenigen Wochen angewiesen sein werden –

[Elke Breitenbach (LINKE): Was jetzt? Diskutieren oder entscheiden?]

nicht für diese Blumenhalle, sondern für das was uns bevorsteht und was ich in drastischen Zahlen beschrieben habe –, dann würden wir verantwortungslos handeln. Und das weiß auch jeder in dieser Stadt, und daran bitte ich in den kommenden Wochen zu denken. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU – Dr. Klaus Lederer (LINKE): Ich verstehe immer weniger, was Sie sagen!]

Vielen Dank, Herr Evers! – Für die Piratenfraktion hat jetzt das Wort der Herr Abgeordnete Reinhardt. – Bitte!

[Unruhe bei den GRÜNEN und der LINKEN – Anja Kofbinger (GRÜNE): Ich finde es ja bedenklich, dass die CDU schon solche Reden hält!]

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich denke, den Schluck Wasser konnten Sie gut brauchen, um die Rede von Herrn Evers ein bisschen sacken zu lassen, die hat uns doch einiges zum Nachdenken mitgegeben.

Seit Monaten ist die Debatte um die Unterbringung von Geflüchteten in Berlin nicht mehr nur ein Nischenthema, das hier mit einigen Plattitüden und Halbsätzen abgetan wird, sondern es wird zumindest vordergründig als zentrale Aufgabe der Stadt angesehen. Dazu hatten wir in der letzten Sitzung eine wirklich beachtliche Regierungserklärung des Regierenden Bürgermeisters, der offensichtlich das Ende der Debatte jetzt doch nicht mehr mitkriegen wollte. Die zentralen Punkte: Wir müssen miteinander reden und gemeinsam handeln.

Und was passiert nun? – Als Nächstes wird nun die Tempelhof-Debatte wieder aufgemacht und eine Änderung des Tempelhof-Gesetzes angestrebt. Das ist absurd! Nicht nur, dass das Gesetz zur Nichtbebauung gerade 1,5 Jahre alt ist und es sich nicht gehört, ein Volksgesetz nach so kurzer Zeit zu ändern und nach dieser katastrophalen Bilanz dieser Koalition bezüglich der direkten Demokratie – beispielsweise das Negieren des Wunsches des Souveräns nach Wasserrekommunalisierung über viele Jahre – und nach der Torpedierung des Stadtwerks durch die Termintricksereien, nein, der Appell Müllers, mehr miteinander zu sprechen – und es haben bezüglich Tempelhof eigentlich alle Fraktionen und alle Initiativen Gesprächsbereitschaft angekündigt; ich weiß gar nicht, wie viele PMs die Grünen mittlerweile verschickt haben, in denen stand „Wir sprechen gerne mit euch“ –, wurde komplett ignoriert. Es gab keinerlei Gespräche mit der Initiative „100 Prozent“. Und nun wird stattdessen einfach ein Gesetzesänderungsantrag mit Dringlichkeit ins Parlament geschickt ohne irgendeine Debatte dazu, die Sie offensichtlich fürchten.

[Beifall bei den PIRATEN und den GRÜNEN – Benedikt Lux (GRÜNE): So ist es!]

Aber noch viel problematischer ist dabei, dass auch das Handeln jetzt infrage steht. Denn statt uns jetzt auf die Frage zu konzentrieren, wie man mehr Unterkünfte für Geflüchtete schafft, haben wir nun keine Unterbringungsdebatte, sondern eine Tempelhof-Debatte.

Diese Debatte wird von der SPD geführt, wird von der Koalition geführt, wird hier im AGH geführt und wird

(Stefan Evers)

von der Stadtgesellschaft geführt. Sie bindet Ressourcen und lenkt uns von den eigentlichen Problemen ab, die wir zu bewältigen haben, und sie wird zulasten der Geflüchteten geführt. Das muss sich ändern!

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN]

Worum geht es denn hier eigentlich? – Es geht um einen Vorschlag für einen Gesetzentwurf, dass hier wieder Massenunterkünfte errichtet werden. Wir lehnen das ab! Egal ob das Areal nun Tempelhofer Flugfeld heißt, Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne, ICC oder ob irgendwo mitten im Nirgendwo auf der platten Wiese eine Unterkunft in der gleichen Größenordnung entstehen soll, es ist schlichtweg nicht akzeptabel.

Große Sammelunterkünfte sind nach innen und außen stigmatisierend. Es sind ja schon 2 500 Menschen vor Ort, bald sollen es auf diesem Areal 5 000 sein. Die gegenwärtige Situation in den Hangars zeigt jetzt schon: Berlin hat solche großen Lagen nicht im Griff. Die hygienischen Bedingungen sind völlig inakzeptabel, es stehen viel zu wenige Toiletten und Duschen für die Menschen zur Verfügung – von denen ja auch 800 Minderjährige sind. Über die Hälfte ist nicht registriert, sie haben keinen Krankenschein. Der Betreiber hat auf eigene Faust, auf eigene Initiative eine Krankenstation eingerichtet. – Und nun planen Sie, noch mehr Menschen dort unterzubringen.

Vor allem die Bildungssituation ist und wird noch katastrophaler. Die Ansprüche von Senatorin Scheeres, dass Kinder eine Regelbeschulung erhalten, und vom Fraktionsvorsitzenden Herrn Saleh, dass alle Kinder in die Kitas gehen, werden komplett konterkariert. Diese Maßnahme, so wie sie hier geplant ist, ist vor allem eine Torpedierung Ihrer eigenen Politik. Das kann ich nicht oft genug sagen.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN – Beifall von Thomas Birk (GRÜNE)]

Für uns ist die Debatte – das sage ich jetzt auch in Richtung von Herrn Geisel – um dezentrale Unterbringung nicht passé, wir werden die hier auch weiter führen.

Was liegt jetzt konkret vor, worum geht es? – Es geht hier darum, eine Änderung dieses kürzlich verabschiedeten Volksgesetzes als Ultima Ratio einzubringen. – Da habe ich genau zugehört, Herr Kollege Evers! Der Begriff „Ultima Ratio“ ist hier tatsächlich angebracht. – Denn bevor wir über diesen Änderungsvorschlag diskutieren, müssen alle anderen Optionen geprüft worden sein, und zwar alle anderen Optionen.