Mit Fug und Recht kann sich Berlin als Hauptstadt der Gründerinnen und Gründer bezeichnen, insbesondere im Start-up-Bereich, aber auch in den verschiedenen anderen Branchen. Hier bekleidet Berlin die Spitzenposition in
Deutschland. Wie eine Studie gerade erst wieder belegte, fließt Jahr für Jahr deutlich mehr als 1 Milliarde Euro Wagniskapital in unsere Stadt – ein Wert, der in Europa nur noch von London übertroffen wird. Und im ersten Halbjahr 2015 liegen wir sogar vor London. Namen wie Rocket Internet, Zalando oder Lieferheld stehen für junge Unternehmen, die aus Berlin heraus mit einem exorbitanten Wachstum an Geschäftsvolumen und an Arbeitsplätzen international agieren.
Aber nicht nur in den neuen Branchen wird kräftig investiert, sondern auch bei Traditionsunternehmen wie dem Daimlerwerk in Marienfelde, dem Motorradwerk von BMW in Spandau, wo jeweils dreistellige Millionenbeträge nach Berlin fließen. All diese Investitionen zeigen ebenso wie die Ansiedlung bedeutender internationaler Konzerne, beispielsweise TISCO, wie der Standort Berlin mittlerweile international gesehen wird, als ein Ort mit kreativem Potenzial, attraktiven kulturellen und materiellen Lebensbedingungen und einer funktionierenden Verwaltung.
Hierfür setzt allerdings die Berliner Politik die richtigen Rahmenbedingungen. In Berlin ist Wirtschaftspolitik Chefsache.
Eine der ersten Amtshandlungen des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller in diesem Jahr war der vielbeachtete Besuch, wo alle Siemens-Werksleiter zusammenkamen. Der Dialog mit diesem größten Berliner Industrieunternehmen, mit der Arbeitgeberseite bis hin zu Vorstandschef Kaeser, aber auch mit dem Betriebsrat vor Ort, hat beim Regierenden Bürgermeister höchste Priorität, und zwar nicht nur, wenn es Erfolge zu vermelden gibt, sondern auch, wenn es brennt.
So hat Michael Müller in der vorletzten Woche das Gasturbinenwerk von Siemens in Moabit besucht, wo 800 Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, und hat dort Tacheles gesprochen. Wir haben hierzu heute fraktionsübergreifend eine Resolution verabschiedet. Wenn das kurzfristige, rein margenorientierte Denken an der Konzernspitze sich durchsetzt, gehen im Gasturbinenwerk und im Schaltwerk von Siemens bis zu 1 500 Arbeitsplätze verloren, die eigentlich hoch rentabel sind, die ein Know-how darstellen, das unwiederbringlich verlorenzugehen droht. Es kann nicht im Interesse einer längerfristigen Wachstumsstrategie liegen, diese Kapazitäten, die einen technologischen Vorsprung auf dem Weltmarkt bedeuten, zu zerstückeln, Wertschöpfungsketten irreversibel zu zerschlagen und damit Zuverlässigkeit und Qualität der Produktion zu gefährden. Hiermit würde Siemens dem Technologiestandort Deutschland und damit letztlich
Nein, danke, jetzt nicht. – Berlin entwickelt sich aber nicht nur in den Großunternehmen zu einem Hochtechnologiestandort, sondern es gibt zahlreiche Hidden Champions, gerade in den Feldern Gesundheit, Optik, Sicherheitstechnik und im gesamten Bereich der Green Economy. Von Berlin aus kann die Digitalisierung der deutschen Industrie vorangetrieben werden, wie es ein Experte gerade erst diese Woche in einer großen Anhörung im Wirtschaftsausschuss formuliert hat. Oder, wie der Verwaltungschef von Google, Eric Schmidt, in einem Artikel vor wenigen Tagen schrieb: Berlin könnte das europäische Silicon Valley werden. Er zieht den Vergleich zwischen dem Aufstieg Berlins zur Elektropolis Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, als Unternehmen wie die AEG, Siemens, Loewe oder Telefunken Berlin zum unumstrittenen Zentrum der Elektroindustrie machten, und konstatiert die gleiche Aufbruchsstimmung und Kreativität im heutigen Berlin beim Aufbruch in das digitale Zeitalter.
Der Übergang zur vielzitierten Industrie 4.0 wird hier in Fraunhofer-Instituten und anderen Forschungseinrichtungen bereits erdacht und findet Umsetzung in zahllosen kleinen und größeren Unternehmen, die hoch innovativ sind und Arbeitsplätze in großem Umfang schaffen. Und diese Forschung, Entwicklung und Produktion findet übrigens oftmals an Orten und in Gebäuden statt, die aus Berlins früherer Industrieentwicklung stammen, beispielsweise wenn das Fraunhofer-Institut IZM in Gebäuden der ehemaligen AEG am Gesundbrunnen arbeitet und auf dem gleichen Gelände eine Vielzahl junger Technologieunternehmen ihren Standort gefunden hat. Hier kann das Silicon Valley durchaus als Beispiel dienen. Ursprünglich als ein Ort der Halbleiterentwicklung und -produktion entstanden und daher ja auch nach dem Element Silizium bzw. englisch silicon benannt, findet dort längst keine Halbleiterproduktion mehr statt. Die ist nach Asien abgewandert. Der Ort aber hat sich neu erfunden und stellt heute das weltweit führende Zentrum der Digitalwirtschaft dar.
Berlin ist reich an Liegenschaften und baulichen Schätzen der Industriekultur, die es zu nutzen gilt – sowohl für eine
moderne Produktion wie auch für andere kreative, kulturelle und touristische Zwecke. Wie die Statistiken zeigen, ist das Wachstum Berlins derzeit stark getrieben durch Dienstleistungen, Handel und Tourismus. Es sind heute nicht mehr nur die viel zitierten Dienstleistungen wie Taxi fahren oder Haare schneiden, auf denen das Wachstum beruht, sondern es sind zu einem ganz erheblichen Anteil unternehmensnahe Dienstleistungen, die zum Teil in den Produktionsbetrieben selbst oder gerade auch durch externe Dienstleister erbracht werden. Genau hier, in Bereichen wie Softwareentwicklung, Finanz- und Beratungsdienstleistungen, Medien liegen auch die meisten der über 40 000 Unternehmensgründungen in Berlin pro Jahr.
Im Bereich Tourismus ist Berlin unter den deutschen Städten mit 27 Millionen Übernachtungen im Jahr die unumstrittene Nummer eins – europaweit, immerhin bereits Platz drei hinter London und Paris. Auch dieser Prozess ist noch längst nicht beendet. Die 30 MillionenMarke ist schon in Sichtweite. Hierfür war gewiss auch das Tourismuskonzept, das die SPD-Fraktion bereits vor 10 Jahren initiiert hat, ein wichtiger Ausgangspunkt.
Die Kultur trägt nicht nur entscheidend zum geistigen und mentalen Klima bei, das Fachkräfte und Kreative aus aller Welt anzieht, sondern stellt darüber hinaus auch selbst einen veritablen Wirtschaftsfaktor dar. Einer Studie zufolge liegen fünf von sieben Gründen, aus denen Touristen nach Berlin kommen, im kulturellen Bereich. Dies bringt Kaufkraft in unsere Stadt, die Wachstum für Handel, Hotellerie und Gastronomie bedeutet. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch Messen und Kongresse erwähnen! Kongressbesucherinnen und -besucher stellen in der Regel ein besonders anspruchsvolles und zahlungskräftiges Publikum dar. Es ist alarmierend, wenn mangels Kongresskapazitäten nach Schließung des Internationalen Congress Centrums bereits einzelne Kongresse an Berlin vorbeigehen, wie jüngst eine Studie belegte.
Als Beispiele lassen sich der Weltkulturerbe-Kongress nennen, der Ende des Monats in Bonn eröffnet wird, oder der Verdi-Bundeskongress, der nun in Leipzig stattfindet. Beide hätten bei geöffnetem ICC in Berlin stattgefunden.
[Andreas Otto (GRÜNE): Chefsache! – Martin Delius (PIRATEN): Chefsache! – Zuruf von Oliver Höfinghoff (PIRATEN)]
Nein! – International, wo wir mit dem ICC auf Platz drei hinter Wien und Paris standen, sind wir bereits auf
Platz fünf abgefallen, wie die Studie zeigt. Es ist richtig, dass der Regierende Bürgermeister auch hier die Richtung vorgegeben hat, keine abwegigen ShoppingcenterPläne zu erörtern, sondern – womit wir über 30 Jahre weltweit Erfolg hatten – das ICC als ein Internationales Congress Centrum zu ertüchtigen.
[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Oliver Höfinghoff (PIRATEN): Erst einmal alles so lassen, wie es ist! – Zuruf von den PIRATEN: Warum haben Sie es denn gestern im Hauptausschuss vertagt?]
Das Thema der wirtschaftlichen Entwicklung dieser wachsenden Metropole in einem sozialen und ökologischen Umfeld begegnet uns in den verschiedenen Politikfeldern, die alle ihren Beitrag leisten. Es ist aber auch gut, dass Wirtschaftspolitik in Berlin ressortübergreifend Chefsache ist. – Ich danke für die Aufmerksamkeit!
Vielen Dank! – Für die Fraktion Die Linke nun Frau Kollegin Matuschek. – Bitte schön, Frau Kollegin!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute reden wir also über den Kapitalismus, denn so heißt das Wirtschaftssystem, in dem wir hier leben, immer noch.
Im Kapitalismus sind konjunkturelle Auf- und Abschwünge völlig normal und haben im Übrigen wenig damit zu tun, wer gerade regiert. Der gegenwärtige konjunkturelle Aufschwung in Berlin hat definitiv nichts mit der Berliner CDU zu tun.
Reden wir heute also mal über Wachstum in Berlin und über Konjunkturprognosen! Den Wert derselben beschreibt der Düsseldorfer Kabarettist Volker Pispers sinngemäß: Da reden Kaffeesatzleser mit Glaskugelanbetern und bestätigen sich gegenseitig in dem Glauben an das, was sie da sehen. – Na dann, Herr Dietmann!
Reden wir auf Wunsch der CDU über Wachstum; ich schlage vor, auf Grundlage der amtlichen Statistiken! Die Berliner Bevölkerung wuchs von 1990 bis 2013 um gerade einmal 1 600 Personen – also gar nicht. Allerdings hat sich die Anzahl derjenigen, die von Sozialhilfe bzw. von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt leben müssen, um 40 Prozent im Vergleich zum Jahr 2009 erhöht. Das ist
eindeutig Wachstum, leider an der falschen Stelle. Wachstum gab es auch bei der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden, die sich auf durchschnittlich 39,2 Wochenstunden erhöhte. Die Berliner arbeiten deutlich länger für weniger Geld als Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Bundesdurchschnitt. Ich gebe zu, es gab auch Wachstum bei Einkünften. Das Nettoeinkommen pro Haushalt stieg in Berlin auf 2 421 Euro im Monat. Blöd nur, dass in allen anderen Bundesländern das Einkommen deutlich schneller wächst als in Berlin. So verfügen der Berliner und die Berlinerin heute nur über 86 Prozent des verfügbaren Einkommens im Bundesdurchschnitt, während es im Jahr 2000 immerhin noch 94 Prozent waren. Die Kluft wird also größer, Berlin ärmer. Ist das Wachstum?
Na klar! –, rufen da die Kaffeesatzleser und die Kaiser in neuen Kleidern. Die Anzahl der Erwerbstätigen steigt doch! Auch dazu das Amt für Statistik – ich zitiere, mit Erlaubnis des Präsidenten:
Der Anstieg der Erwerbstätigkeit wurde in Berlin … fast ausschließlich durch einen Beschäftigungsanstieg in den Dienstleistungsbereichen erbracht. … Demgegenüber trat im Verarbeitenden Gewerbe im zweiten Jahr in Folge ein weiterer Abbau an Beschäftigung ein.
Zum Rückgang der Industrieproduktion in Berlin haben wir Ihnen von der Koalition schon öfter die tatsächlichen Zahlen vorgehalten; hier noch einmal zum Mitschreiben: Osram – minus 300 Arbeitsplätze. Rexam – minus 165 Arbeitsplätze. Siemens – bis zu 1 400 Arbeitsplätze Verlust. Da ist eine politische Erklärung des Abgeordnetenhauses heute das eine, wirksame Wirtschaftspolitik wäre aber besser!
Die Attraktivität Berlins als Industriestandort sinkt – BMW und Mercedes sind wichtig, aber Mercedes zeigt auch, dass zum Beispiel mit Investitionen von 500 Millionen Euro ganze 15 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden –, da die Entwicklung hin zur Industrie 4.0 längst stattfindet, während der Senat noch über ein Anwenderzentrum nachdenkt.
Die Digitalisierung der Wirtschaft erfordert bei Politik und Wirtschaft ein Umdenken im Bereich der Arbeitspolitik. Qualifizierung in den Unternehmen, Fachkräfteentwicklung aus den Unternehmen heraus werden immer wichtiger. Die Ausbildungsbereitschaft Berliner Unternehmen sinkt leider. Viel lieber wird dann auf die „fertige Humanressource“ von außen zurückgegriffen. Deutschland – und Berlin im Besonderen – profitieren von der Abwanderung von Fachkräften aus den Eurokrisenregionen. Berlin ist ein Krisengewinnler!
Das Sich-Dranhängen der Koalition an bereits laufende dynamische Entwicklungen, wie wir sie derzeitig im IKT-Bereich erleben, ist im Grunde das Übertünchen eigener Einfallslosigkeit der Koalition. Die Dauerschleife der Wortbeiträge lautet dann: Start-up, Gründerakzeleratoren, Inkubatoren, Labs, Venture-Capital, Business Angels, Smart City, Urban Tech und so weiter. Aber wann haben wir zum letzten Mal ernsthaft etwas über Gewerbeliegenschaften bzw. eine Idee dazu gehört, wie diese für die Wirtschaft verfügbar gemacht und gesichert werden können? Wo bleiben die Initiativen für den Technologietransfer, die tatsächlich in die Breite der Berliner Wirtschaftslandschaft wirken? Warum verschweigt die Koalition, dass die Industrie in Berlin sich eben nicht zum Wachstumsträger entwickelt, dort kein nennenswerter Arbeitsplatzaufbau erfolgt und der Anteil der Industrie an der Berliner Wertschöpfung real sogar sinkt? Wo setzt Berlin selbst Impulse als Wirtschaftsakteur? Keine ITStrategie, kein E-Government-Gesetz, nichts, worauf sich ein strategischer Ansatz für eine Smart City sinnvoll aufsetzen ließe. Die Berliner Investitionsquote ist trotz steigender Haushaltsspielräume unterirdisch.
Die großen Berliner Landesunternehmen – Berliner Wasserbetriebe, BVG, die Wohnungsgesellschaften – werden von der Koalition in den Schwitzkasten der Neuverschuldung genommen. Was macht eigentlich der Eigentümer Berlin in seinen eigenen Unternehmen in Sachen vierte industrielle Revolution? Wollen Sie die Smart City von außen mit Drohnen einfliegen lassen oder die intelligente Ertüchtigung der Infrastruktur Privaten überlassen? Das flächendeckende, viel diskutierte, von der CDU im Wahlkampf übrigens versprochene WLAN für Berlin wird bestenfalls ein Insel-Atoll, aber kein Wirtschaftsfaktor.