Herr Mutlu! Sie haben die Frage beantwortet. Es könnte damit zusammenhängen, aber wir wissen es nicht genau. Deshalb sollten wir der Frage nachgehen, was diese Früheinschulung mit fünfeinhalb Jahren bedeutet. Sie haben es in Ihrer Kleinen Anfrage versucht. Ich glaube, es ist sehr deutlich, dass wir keine direkten Zusammenhänge herstellen können. Wir wissen aus der Presse, dass es seitens der Kinderärzte, seitens der Grundschullehrer, selbst von solchen, die JÜL praktizieren, und von Eltern kritische Stimmen gibt. Aus Gesprächen mit Eltern und aus Erfahrung in meiner eigenen Familie weiß ich auch, dass es zwischen gleichaltrigen Kindern, selbst zwischen Geschwistern ganz unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten und -stände geben kann. Ein Stichtag ist und bleibt damit für viele Kinder ein willkürliches Datum.
Deshalb halte ich drei Punkte für wichtig, von denen zwei auch schon von Frau Senatorin Scheeres und der Senatsverwaltung hervorgehoben wurden. Erstens: Eltern kennen ihre Kinder am besten und leiden sehr darunter, wenn ihr Kind in der Schule nicht zurechtkommt. Deshalb sollten meiner Meinung nach letztlich auch sie diejenigen sein, begleitet durch fachlichen Rat, die die Hoheit über die Entscheidung haben, ob ihr Kind um ein Jahr zurückgestellt wird oder nicht.
Zweitens: Die Senatsverwaltung betont, dass es eine große Flexibilisierung der Einschulungsregelung gebe. Hier gilt es nachzufragen und zu prüfen. Ist die Möglichkeit der Rückstellung allen Eltern, auch den bildungsfernen, ausreichend bekannt? Ist der bürokratische Aufwand, der für eine Rückstellung erforderlich ist, vertretbar, auch für nicht verwaltungserfahrene und eventuell nur wenig Deutsch sprechende Eltern?
Schließlich drittens: Es muss sichergestellt sein, dass die zurückgestellten Kinder sich nicht einfach wieder in der Kita einreihen, sondern dass sie eine Förderung erfahren, die hilft, die noch bestehenden Entwicklungsdefizite, die einen Schulbesuch mit fünfeinhalb Jahren noch nicht möglich gemacht haben, abzubauen. Ich kann nicht umhin, auch hier im Plenum nochmals anzuführen, dass aus Sicht meiner Fraktion die unter Rot-Rot abgeschafften Vorklassen, die diese Übergangssituation zwischen Kita und Schule sehr gut gemanagt haben, ein sehr probates Mittel für diese Situation waren.
So viel erst einmal meinerseits zur ersten Lesung des Antrags. Wir werden die Diskussion über die Frage des richtigen Zeitpunkts der Einschulung noch im Ausschuss weiterführen und vertiefen.
Vielen Dank, Frau Kollegin! – Für die Piratenfraktion hat jetzt der Kollege Delius das Wort. – Bitte sehr!
Danke schön, Herr Präsident! – Frau Bentele hat es erwähnt, der Antrag ist kurz. Worum geht es? – Im Prinzip sollen zwei Daten geändert werden, der 31. Dezember soll zum 30. September und der 1. Januar zum 1. Oktober werden. Damit will man die Änderungen, die 2005 im Schulgesetz vorgenommen wurden, zum großen Teil wieder rückgängig machen. Die Frage, Herr Mutlu, die man sich auf jeden Fall stellt, ist: Warum muss man diese Änderungen jetzt wieder rückgängig machen? Sind sie schädlich? Haben sie sich als schädlich herausgestellt? Sie behaupten, ja. Wir haben jetzt von allen anderen Rednern gehört, dass man sich da nicht so sicher sein kann. Ich bin mir da auch nicht so sicher. Ich sehe eigentlich keinen direkten Hinweis darauf.
An der Stelle sollte man vielleicht noch mal auf den Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation eingehen, Herr Mutlu. Sie haben ganz richtig in Ihrer Zwischenfrage angemerkt, dass es aus den schlechten Ergebnissen der Studien möglicherweise einen Hinweis darauf geben könnte, dass die Einschulung ein Problem darstellt. Das kann so sein; es gibt Erkenntnisse darüber, dass Kinder leistungsfähiger sind, wenn sie später eingeschult werden. Das sagt die Wissenschaft, das haben Sie sicherlich gelesen – Bellenberg, Heinbokel, Hagemeister, das sind Namen, die man da lesen und zitieren kann. Es gibt aber keine Erkenntnisse darüber, dass später eingeschulte Kinder leistungsfähiger sind, weil sie später eingeschult wurden. Das ist dann der Hinweis auf die Kausalität.
Monokausal kann man hier sowieso nicht argumentieren, das haben wir auch schon von vielen Rednern und Rednerinnen gehört. Es gibt viele Gründe, warum ein Kind weniger leistungsfähiger ist, warum es sich vielleicht schlechter in den Schulbetrieb einordnen kann oder dafür länger braucht. Heinbokel etwa schreibt, dass über 80 Prozent – das ist noch aus dem vorigen Jahrhundert; das klingt nach „lange her“, ist es aber nicht – der früh eingeschulten Kinder überhaupt gar keine Probleme haben, sich an die Leistungsbemessungen oder den Schulbetrieb anzupassen. Insofern gibt es da eventuell eine Korrelation, aber eine Kausalität kann man da nicht erkennen. Im Übrigen sind Sie da nicht alleine, auch den Kolleginnen bzw. Kollegen anderer Fraktionen oder Parteien passiert das gerne mal. So wird z. B. behauptet, dass Computerspiele zu Amokläufen führen, bloß weil Amokläufer in Schulen auch mal Computerspiele gespielt haben. Das ist ein ähnlich falscher Ansatz.
Sie begründen weiter, der IQB-Ländervergleich habe den Missstand aufgezeigt. Da muss ich Ihnen widersprechen. Der IQB-Ländervergleich hat Aussagen darüber getroffen, was in der vierten Jahrgangsstufe bzw. am Ende der vierten Jahrgangsstufe den Kindern in den Fächern Deutsch und Mathematik angeboten wird. Der IQBLändervergleich hat überhaupt keine Aussage darüber getroffen, was für ein Zusammenhang zu der Einschulung der Kinder besteht. In Ihrer Begründung sagen Sie, der IQB-Ländervergleich zeige das auf. Das tut er nicht, das ist faktisch falsch.
Gleichzeitig kann ich einen Pragmatiker bzw. jemanden, der sich damit auskennt, zitieren. Ulf Preuss-Lausitz von der TU Berlin hat auf die Frage, ob Rückstellungen sinnvoll seien, im „Tagesspiegel“ gesagt:
Dieselben Kinder haben später dieselben Probleme. … Es ist ein Irrtum, den Apfel ein Jahr lang liegen zu lassen und zu glauben, danach sei er reif.
Das finde ich sehr anschaulich. Da würde ich sogar mit Frau Bentele mitgehen. Wenn man nämlich einfach davon ausgeht, dass es länger braucht in der Kita und ein Stichtag später angesetzt werden sollte, dann klappt das alles, funktioniert das auch nicht.
Problematische Schulkarrieren hängen von vielen Faktoren ab, das habe ich schon gesagt: Schulische Faktoren, Schulklima, Lernbedingungen, die Ausstattung mit Lehrkräften, Platz- und Raumangebot, das Schulessen – das haben wir hier auch schon diskutiert, das ist auch ein wichtiges Thema, gerade für die Schulanfangsphase – soziale Faktoren, Förderung durch Nachhilfe, Unterstützung der Eltern, der Bildungshintergrund in der Familie, kognitive Faktoren, das brauche ich Ihnen alles nicht zu erzählen. Der Antrag beschäftigt sich jedenfalls damit nicht.
Wenn Sie sich einmal angucken, dass die Heterogenität gerade in der Anfangsphase bei Kindern in der Entwicklung in der Schuleingangsphase ja eher steigt als abnimmt, dann müssen Sie doch auch einmal darüber nachgedacht haben, wie wir den Zugang zur Schule, die Einschulungsphase weiter flexibilisieren können. Kinder sind zwischen vier und acht Jahren heutzutage individuell fähig, in die Schule übernommen, schulpflichtig zu werden. Das beachtet Ihr Antrag überhaupt nicht. Wir von den Piraten beschäftigen uns damit, wie man vor allen Dingen das Ungleichgewicht – vor allem das soziale Ungleichgewicht zwischen Rückstellung und früher Einschulung –
Ich komme zum Ende. – auf Wunsch der Eltern beheben kann, warum man auf Wunsch nach früherer Einschulung nur auf die Sprachproblematik achtet, bei Rückstellungen aber auf sehr viel mehr Problematiken und warum es gerade für Eltern sehr viel schwerer ist, ihre Kinder zurückstellen zu lassen, weil sie viele Gutachten brauchen. Das muss man eher angehen und nicht die Frage des Stichtags. – Danke schön!
[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der LINKEN – Özcan Mutlu (GRÜNE): Versuch’s doch mal!]
Danke schön, Herr Kollege Delius! – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Es wird die Überweisung des Gesetzesantrags an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie empfohlen. – Widerspruch höre ich nicht, dann verfahren wir so.
Wahl des Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
Wird der Dringlichkeit widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Nach § 2 Abs. 1 des Berliner Landes-StasiUnterlagengesetz wird der Landesbeauftragte auf Vorschlag des Senats vom Abgeordnetenhaus mit den Stimmen seiner Mitglieder gewählt. Der Senat hat erneut Herrn Martin Gutzeit zur Wahl vorgeschlagen. Ohne weitere Aussprache erfolgt die Wahl gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 unserer Geschäftsordnung in einfacher Abstimmung durch Handaufheben. Wer Herrn Martin Gutzeit zu wählen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind mehr als 75 Stimmen. Damit stelle ich fest, dass das Quorum erreicht worden ist. Herr Dr. Gutzeit! Sie sind erneut gewählt worden. Ich beglückwünsche Sie im Namen des Hauses zu Ihrer Wiederwahl und wünsche Ihnen für Ihre Arbeit alles Gute und Gottes Segen.
Zur Begründung der Großen Anfrage erteile ich einem Mitglied der anfragenden Fraktionen das Wort mit einer Redezeit von bis zu fünf Minuten. Herr Kollege Oberg von der SPD steht bereit. – Sie haben das Wort, bitte sehr!
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Seit es Schulen und die Schulpflicht gibt, kennen Schülerinnen und Schüler die Situation und das Gefühl, dass man nicht jeden Morgen mit der gleichen Begeisterung für die Schule aufwacht. Seit es Schulen gibt, kommt es auch immer wieder dazu, dass Schülerinnen und Schüler ihrer Unlust nachgeben und den Weg in die Schule mal nicht finden. Das ist nicht gut, das ist aber als Einzelfall auch noch lange kein Weltuntergang oder eine Katastrophe. Schlimm wird es aber, wenn Kinder dauerhaft oder wiederholt die Schule schwänzen. Schulschwänzen oder Schuldistanz, wie man ja auch gerne sagt, kann zu Brüchen in der Bildungsbiografie führen, die nur schwer
wieder zu heilen sind. Wir wissen, dass es in Berlin viele Kinder gibt, die den Bezug zur Schule verloren haben. Schuldistanz ist in Berlin ein Problem, das nicht bagatellisiert werden darf, wie uns auch jüngste Zahlen wieder gezeigt haben.
Darum möchten wir heute Abend hier über die Ursachen der Schuldistanz sprechen. Klar ist, dass es viele Ursachen gibt und dass sie von Einzelfall zu Einzelfall sehr unterschiedlich sein können. Wenn wir über die Ursachen reden, dann müssen wir in die Elternhäuser gucken. Es kann Konflikte und Problemlagen in Elternhäusern geben, die dazu führen, dass Kinder schuldistanziert werden. Konflikte und Probleme kann es aber auch in den Schulen geben wie z. B. Mobbing oder Konflikte in Klassen, die dann dazu führen, dass Kinder nicht mehr gerne in die Schule gehen und es irgendwann einmal auch einstellen.
Wir wollen mit dieser Anfrage wissen, welche Maßnahen es in Berlin gibt, um der Schuldistanz vorzubeugen. Wir wollen aber auch wissen, wie auf Schuldistanz reagiert wird. Welche Unterstützung gibt es für Schüler und für Eltern? Was wird unternommen, wenn sich Eltern und Schüler einer Lösung des Problems verweigern? Wichtig ist uns auch, wie sichergestellt wird, dass in ganz Berlin ein einheitliches Präventions- und Reaktionssystem etabliert ist. Es darf nicht dem Zufall des Wohnbezirks überlassen sein, ob auf das Problem der Schuldistanz schnell, konsequent, richtig und auch feinfühlig reagiert wird.
Wir wollen, dass in Berlin im Interesse der Kinder die Schulpflicht durchgesetzt wird. Schulschwänzen und Schuldistanz sind immer ein Hinweis dafür, dass es Probleme und Handlungsbedarf gibt. Im Interesse der Kinder können wir uns eine Ignoranz oder ein Desinteresse für das Problem nicht leisten.
Lieber Herr Kollege Oberg! Ich muss mal kurz unterbrechen. – Es ist wieder ein hoher Geräuschpegel im Saal. Bitte doch die Gespräche zu unterlassen und dem Redner zu folgen! – Bitte!
Vielleicht gibt es ja auch so etwas wie eine Plenardistanz? – Ziel unserer Anfrage ist es, einen Überblick zu bekommen, welche Handlungs- und Reaktionsmuster es in Berlin gibt, wie der Schuldistanz vorgebeugt wird. Wir wollen den Status quo aber auch hinterfragen, möglichen Handlungsbedarf identifizieren, und dort, wo es noch nicht optimale Abläufe, noch nicht optimale Reaktionsmuster, noch nicht optimale Prävention gibt, wollen wir dann auch handeln. – Vielen Dank!
Vielen Dank, Herr Kollege Oberg! – Zur Beantwortung durch den Senat erteile ich jetzt Frau Senatorin Scheeres das Wort. – Bitte sehr!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schulpflicht ist eine sehr bedeutende historische Errungenschaft. Das hört sich vielleicht jetzt ein wenig widersprüchlich an, aber in erster Linie wurde über die Schulpflicht ein Recht garantiert, nämlich das Recht aller Kinder auf Bildung.