Protocol of the Session on January 18, 2007

Tausende von Hauptschülern, die in diesem Jahr die Schule verlassen werden, und zwar ohne jede Chance auf einen Ausbildungsplatz, wollen nicht die Ergebnisse Ihres Einheitsschulexperiments abwarten, Frau Dr. Tesch!

[Beifall bei der CDU]

Es ist ein ernstzunehmender Zustand, dass nur etwa 10 % der Hauptschüler einen Ausbildungsplatz finden. Wir ver

sündigen uns an den Kindern dieser Stadt, wenn wir ihnen keine Chance geben, etwas aus ihrem Leben zu machen.

[Beifall bei der CDU]

Die CDU-Fraktion lehnt Ihr Gemeinschafts- oder Einheitsschulexperiment ab, aber nicht, weil wir glauben, dass das gegliederte Schulsystem per se allein seligmachend sei, denn Defizite gibt es auch in Ländern mit gegliedertem Schulsystem.

[Dr. Felicitas Tesch (SPD): Tolle Erkenntnis!]

Wir sind dieser Auffassung, weil es nicht vom System abhängt, ob eine Schule gut ist oder nicht. Die finnische Dorfschule mit 50 Schülern – die Mehrzahl der finnischen Schulen sieht so aus – mit zwei Pädagogen pro Klasse – keinem Schüler mit Migrationshintergrund, frisch ausgebildeten Lehrkräften – sieht völlig anders aus. Wenn Sie das in Berlin einführen wollen, liebe Mitglieder der SPD- und der PDS-Fraktion, wären wir vielleicht dabei, aber Ihnen geht es gar nicht um den Inhalt, sondern nur um die Überschrift.

[Beifall bei der CDU]

Der CDU geht es hingegen darum, die Debatte um die beste Schule in Berlin nicht ideologisch zu führen. Das ist der entscheidende Grund, warum wir anstelle einer erneuten Diskussion über die Schulstruktur und die Einführung von Gemeinschaftsschulen, Einheitsschulen – oder wie auch immer sie heißen mögen – in Berlin lieber über eine Verbesserung der Unterrichtsqualität, eine Unterrichtsgarantie, eine bessere Ausbildung und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer und eine ausreichende Ausstattung der Schulen mit Lehr- und Lernmaterial reden wollen.

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden Ihr Ablenkungsmanöver von den wirklichen Problemen der Berliner Schulen nicht mitmachen, und wir hoffen dabei auf die Durchsetzungsfähigkeit des neuen Bildungssenators, dass er Ihr Experiment ebenfalls nicht mitmachen wird, sondern sich mit ganzer Kraft der Lösung der drängendsten Probleme widmen wird. Herr Senator! Ich rufe Sie auf: Machen Sie keine Bildungsexperimente, wie Frau Bluhm es nannte, auf dem Rücken der Kinder dieser Stadt mit!

[Beifall bei der CDU]

Es ist nichts einzuwenden gegen die freie Entscheidung einer Schule, sich selbst zu einer Gemeinschaftsschule zu entwickeln. Dies ist im Übrigen nicht neu. Verbundene Haupt- und Realschulen gibt es bereits. Wir wehren uns aber gegen eine forcierte Einführung der Einheitsschule in allen Bezirken und vor allem gegen die Bereitstellung von 22 Millionen € für diesen Zweck. Diese 22 Millionen € wären besser eingesetzt zur Bekämpfung des Unterrichtsausfalls, der in Berlin immer noch 600 000 ersatzlos ausfallende Unterrichtsstunden ausmacht.

[Beifall von Dr. Friedbert Pflüger (CDU)]

Nun hat sich die FDP dazu verstiegen, den Rechnungshof die Kosten für die Einheitsschule prüfen zu lassen. Immerhin hat die FDP eine Idee, wie man dem Inhalt Ihres

Begriffswirrwarrs zwischen Einheitsschule, Gemeinschaftsschule, Schule für alle und Gesamtschule auf den Pelz rücken könnte, denn Ihre 22 Millionen € entbehren jeder Grundlage. Niemand weiß, wie Sie diese Summe berechnet haben und wofür das Geld zur Verfügung gestellt werden soll. Sie wissen nicht wie, nicht wann, nicht wo und nicht wofür dieses Experiment eigentlich kommen soll. Sie wissen nichts, aber dafür glauben Sie an Ihre Einheitsschule.

[Zurufe von der Linksfraktion: Gemeinschaftsschule! – Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion): Sie meinen wohl die Klippschule!]

Sie argumentieren, dass alle Gewinnerländer der beiden PISA-Studien Einheitsschulen hätten, während die Länder mit einem gegliederten Schulsystem hinten stünden. Dies ist nicht der Fall. Würde man die deutschen Bundesländer in das internationale PISA-Ranking einreihen, kämen die unionsgeführten Bundesländer, die übrigens ein stark gegliedertes Schulsystem haben – Bayern, Sachsen, BadenWürttemberg –, bei der Problemlösungskompetenz auf die Plätze 4, 8 und 10. Das Gemeinschaftsschulland Mexiko befindet sich hingegen auf Platz 46. Wie Sie sehen, führt die Gemeinschaftsschule allein zu nichts. Es kommt auf den Inhalt an. Lassen Sie deshalb von Experimenten auf dem Rücken der Berlin Kinder ab, und lösen Sie stattdessen mit uns gemeinsam die täglichen Probleme der Berliner Schule! – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Steuer!

Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, bitte ich Sie kurz um Ihre Aufmerksamkeit für Folgendes: Wegen der zu erwartenden widrigen Wetterumstände sind wir bemüht, heute die Tagesordnung so zu verkürzen, dass die Sitzung gegen 18.00 Uhr enden kann.

[Monika Thamm (CDU): Dann darf man gehen? – Heiterkeit]

Der Sturm wird gegen 20.00 Uhr erwartet. Es ist auch noch nicht ganz sicher, ob die BVG dann noch fährt. Deswegen machen Sie sich bitte Gedanken darüber, wie Sie es untereinander organisieren können, dass Sie gut nach Hause kommen! Nähere Informationen erhalten Sie über Ihre Geschäftsführer, wenn wir weitere Informationen haben.

Nun fahren wir fort in der Tagesordnung. Das Wort hat Frau Bluhm für die Linksfraktion. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag ist ein obskures Objekt der Verwirrung. Der Rechungshof soll prüfen, welcher Mitteleinsatz „für die Implementierung eines Gemeinschaftsschulsystems notwendig wäre“.

Dann wird die Koalitionsvereinbarung zitiert, und der Antrag ist zu Ende. Welches System soll geprüft werden? Wir starten Modellprojekte, um viele Wege zu probieren.

In der Begründung wird es noch einmal anders verwirrend: Der FDP dränge sich die Frage auf, ob bei einem vergleichbaren Mitteleinsatz in das existierende Bildungsangebot nicht deutlich bessere und effektivere Ergebnisse erzielt werden könnten. Soll der Rechnungshof also auch prüfen, ob das Geld anders auf das gegliederte Schulsystem aufgeteilt werden sollte? Da geht wirklich alles durcheinander. Mir scheint ein eklatantes Missverständnis vom dem politischen Meinungsbildungsprozess in der Koalition und der konzeptionellen Umsetzung in der Koalitionsvereinbarung und der Aufgabe des Rechungshofs, den Mitteleinsatz und die Effektivität zu kontrollieren, vorzuliegen.

Wir starten Modellprojekte. Dazu haben wir grundlegende Vorgaben über die unterschiedlichen Wege, die zu einer Gemeinschaftsschule führen können – die FDP zitiert das –, und grundlegende Ausstattungsvorgaben gemacht: 1. Ganztagsbetreuung, 2. Professionalisierung der Arbeitsteilung – die Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern mit Sozialabeitern, Sozialpädagogen und anderem nichtpädagogischem Fachpersonal –, 3. Weiterbildung der Lehrkräfte zu einer höheren Befähigung zum individuellen Lehren und Lernen, 4. bauliche Veränderungen, die sächliche und räumliche Ausstattungen berühren können. Der Rahmen ist weit gefasst. Viele Wege, Ideen und Konzepte sollen probiert werden. Ein erheblicher Zuwachs an Eigenständigkeit der Schulen, wie die pädagogischen Kernbereiche realisiert werden können, ist damit möglich. Die wissenschaftliche Begleitung ist vorgesehen und zielführend.

Die FDP ist ein Fan des gegliederten Schulsystems. Trotzdem kritisiert sie zum Teil die Ergebnisse sehr stark, beispielsweise die der Hauptschulen.

[Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

Wenn es, Frau Senftleben, bei Ihnen etwas unideologischer zugehen würde, dann wäre bildungspolitisch der erste Schritt, das bestehende gegliederte Schulsystem einmal nach seinen Leistungen, seiner Effektivität und seiner sozialen Kompetenz zu befragen.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Genau das haben wir zum Ausgangspunkt genommen, um zu fragen, wie die Ausstattung einer künftigen Gemeinschaftsschule aussehen soll. Wir haben zunächst ein Finanzierungskonzept erarbeiten lassen, das Sie auf unserer Seite www.Gemeinschaftsschule-Berlin.de nachlesen können. Dort haben wir uns genau diese Frage gestellt. Die vorliegende Studie belegt, dass das gegliederte Schulsystem in erheblichem Maß Kosten verursacht, die nicht mit Erfolg, Qualität und Leistung verbunden sind, sondern mit Misserfolg und dem Scheitern von Schülerinnen und Schülern. Neben der Sonderschule ist die Hauptschule mit 9 800 € pro Jahr und Schüler – im Vergleich zu Realschule und Gymnasium mit 6 000 € – die teuerste

Schulform. Trotzdem verlassen 30 % der Schülerinnen und Schüler diese Schulform ohne Abschluss. Das sollte man an den Anfang der Debatte stellen. Das haben Sie nicht getan.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Die Erfahrung zeigt auch, dass mehr Personal und Geld für diese Schuleform zwar partielle Verbesserungen bringen kann, aber es führt nicht zwingend zu mehr Schulerfolg und erst recht nicht zu besseren Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.

Das bestehende Schulsystem – das ist ein wesentliches Element unserer Finanzierungsstudie – erzeugt in hohem Maß Kosten für das Wiederholen von Schuljahren und das spätere Nachholen verfehlter Schulabschlüsse in einem zweiten und dritten Bildungsweg. Wir haben versucht darzustellen, dass jährlich 62 Millionen € für das Sitzenbleiben, das Wiederholen von Klassen und das Nachholen von Abschlüssen auf unterschiedlichen und steinigen Wegen ausgegeben werden. Deshalb haben wir die integrierten Gesamtschulen als grundlegendes Ausstattungsmodell gewählt. Hier werden 7 600 € pro Jahr und Schüler ausgegeben. Da hier die Ganztagsbetreuung der Regelfall ist, haben wir sie mit den weiteren Indikatoren des Erfolgs – wie die Kooperation mit nichtpädagogischem Personal und die Intensivierung der Weiterbildung von Lehrkräften – verbunden. Das ist der Weg, den Sie nicht wahrhaben wollen. Sehr viele Schulen wollen ihn aber sehr gerne gehen und damit experimentieren.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Das ist ein Weg des Fortschritts. Er geht an FDP und CDU vorbei, aber so kann er nur an Beschleunigung gewinnen. Er wird sicher erfolgreich sein.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank Frau Abgeordnete Bluhm! – Für die Fraktion der Grünen hat jetzt der Abgeordnete Mutlu das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist das Recht jeder Fraktion, Anträge ins Plenum einzubringen. Es ist auch das Recht jeder Fraktion, sich über den Sinn eines Antrags Gedanken zu machen und darüber zu befinden.

[Beifall von Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion)]

Dabei ist es egal, ob es um Sach- oder um sogenannte Schaufensteranträge geht. Der Antrag der FDP ist ein Schaufensterantrag.

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der Linksfraktion]

Aber das ist nicht so schlimm, weil er uns die Gelegenheit bietet, über das Thema Gemeinschaftsschule noch einmal im Plenum zu diskutieren.

Zunächst zum Antrag: Der Rechnungshof prüft die Rechnungen sowie die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der gesamten Haushalts- und Wirtschaftsführung Berlins. Gemäß Artikel 95 Abs. 4 der Verfassung von Berlin können das Abgeordnetenhaus wie auch der Senat den Rechnungshof ersuchen, Angelegenheiten von besonderer Bedeutung zu untersuchen und darüber zu berichten. Da der Rechnungshof im vorliegenden Fall auf die Angaben und Zahlen der Schulverwaltung angewiesen ist – wie wir alle –, macht der Antrag zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn. Vielmehr ist die Senatsverwaltung gefordert, eine solche Darstellung und Berechnung schnellstmöglich, spätestens zu den Haushaltsberatungen vorzulegen. Wenn wir Zweifel an der Seriosität dieser Vorlage hätten, könnte der Rechnungshof eingeschaltet werden, um die Rechnungen zu überprüfen. Daher, liebe Frau Senftleben, ist zunächst der Senat gefordert und nicht der Rechnungshof. Wir sollten auf der zügigen Vorlage des Senats bestehen. Da unterstütze ich Sie.

Zum Thema Gemeinschaftsschule: Da es immer wieder anderslautende Gerüchte gibt, möchte ich betonen, dass meine Partei und Fraktion an der Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild festhalten.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Schülerinnen und Schüler sollen bis zur 10. Klasse gemeinsam in leistungsheterogenen Gruppen lernen und individuell gefördert werden. Dazu bedarf es aber zahlreicher Maßnahmen, beispielsweise der Abschaffung bestehender Selektions- und Auslesemechanismen, der individuellen Förderung, einer gezielten Lehrerfort- und -weiterbildung und einer anderen Lern- und Unterrichtskultur.