Protocol of the Session on June 11, 2009

Ich gestatte gern eine Zwischenfrage, auch wenn ich gerade so leidenschaftlich war, Herr Mutlu. Das wäre auch Ihnen gut bekommen!

Lieber Prof. Zöllner! Weil ich so leidenschaftlich bin, habe ich mich auch gerade gemeldet.

[Och! von der Linksfraktion – Mieke Senftleben (FDP): Das hört sich aber gerade nicht so an!]

Sie haben ja völlig recht: Was in diesem Antrag formuliert ist, können wir in der Tat bis auf diesen einen Unterpunkt, den ich vorhin zitiert habe, ohne Wenn und Aber unterzeichnen. Herr Prof. Zöllner! Das haben Sie auch in den vergangenen Monaten im Gegensatz zu Ihrer Koalition gemerkt, dass wir diese Reform wollen.

Würden Sie bitte zu einer Frage kommen, Herr Kollege Mutlu!

Ist Ihnen denn nicht klar, dass mit diesem unscheinbaren Punkt Probejahr, weil sie den Gymnasien ein Instrument in die Hand gibt, um den Rest kaputtzumachen, die gesamte Reform in die Sackgasse läuft?

Bitte schön, Herr Senator!

Wenn es in einem mehrseitigen Antrag um einen einzigen Unterpunkt geht, dann warten Sie, bis ich zu Ende geredet habe, und beweisen auch Sie, dass Sie lernfähig sind!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Das heißt, über die großen Ziele besteht Einigkeit in diesem Plenum. Die akuten Herausforderungen sind unstrittig. Dann gibt es ein Gesamtkonzept und einen Antrag mit Eckpunkten. Zum ersten Mal gibt es im Sekundarschulbereich I ein Ganztagsangebot, zum ersten Mal ein Schulangebot neben dem Gymnasium, in dem alle Abschlüsse erreichbar sind, zum ersten Mal – übrigens auch in der Republik – ein Angebot, in dem die Lehrerinnen- und Lehrerzuweisung auch in Abhängigkeit von der Betreuungsnotwendigkeit von jungen Menschen erfolgt, damit die große Aufgabe der Integration – nicht nur die Integration von Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache – bewältigt werden kann.

Zum ersten Mal gibt es mit dieser alternativen Schulart neben dem Gymnasium eine Schulform, bei der die

Schule selbst entscheiden kann, wann wo und in welcher Form sie ausdifferenzierte Angebote macht. Zum ersten Mal gibt es ein Angebot, von dem die Betroffenen offensichtlich selbst sagen, dass die Ausstattung verantwortbar und gut ist. Über alles das, wird nicht diskutiert und nicht gestritten. Das heißt, dies ist ein Qualitätssprung für die Weiterentwicklung des Berliner Schulsystems.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Ich will das jetzt nicht im Einzelnen wiederholen, weil es von den Rednern der Koalitionsfraktion bereits ausgeführt und auch in seiner Notwendigkeit und seinem Durchbruchcharakter durch die Zwischenintervention des Fraktionsvorsitzenden der SPD noch einmal unterstrichen worden ist.

Lassen Sie mich etwas zu dem Thema sagen, das in der letzten Zeit in der Öffentlichkeit vehement und leidenschaftlich diskutiert wurde: den neuen Zugangsregelungen. Als Erstes möchte ich betonen – das haben auch alle Wissenschaftler auf der Fachtagung am 13. Mai nochmals bestätigt: Es gibt keine einfache Lösung. Der Senator hat nie so getan, als gäbe es sie. Das bedeutet faktisch, dass eine lupenreine Lösung für eine Interessensituation die Berücksichtigung anderer legitimer Interessen verhindert. Das müssen wir uns eingestehen. Verehrte Damen und Herren von der Opposition, das müssen auch Sie offen zugeben. Im Klartext bedeutet das, Herr Mutlu: Eine bindende Grundschulempfehlung lässt sich mit einem freien Elternwillen nicht vereinbaren. Und die Aufnahmeprüfung, die Sie, Herr Steuer, de facto wollen, verhindert auch, dass der freie Elternwille, den die Koalition und ich wollen, letztlich unmöglich gemacht wird und nicht zum Tragen kommt. Es ist notwendig, diese Wahrheiten auszusprechen, wenn wir konstruktive Lösungen für diese Stadt finden wollen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Wenn das Zeit beansprucht, Gespräche nötig macht und erfordert, Betroffene zu Beteiligten zu machen, dann ist das keine Hinterzimmerpolitik, sondern das Ernstnehmen der Betroffenen und das Berücksichtigen ihrer Erfahrungen.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Mit der jetzt vorgeschlagenen Zugangsregelung ist aus meiner Sicht eine gute Lösung gefunden worden, die die unterschiedlichen Interessen berücksichtigt, obwohl sie zum Teil widersprüchlich sind. Wenn wir jetzt – dazu stehe ich nachdrücklich – keine frühzeitige Entscheidung gegen den Elternwillen wollen, z. B. durch Zensurendurchschnitt oder Prüfungen, dann ist ein vollständiger Verzicht auf eine „Korrektur“ – die Wahl eines Gymnasiums oder einer speziellen integrierten Gesamtschule – nur durch eine Probezeit in irgendeiner Form nicht nur vernünftig, sondern notwendig, weil das der einzige Punkt ist, in dem wir letztlich erreichen werden, dass die Empfehlungen der Grundschule von den Eltern ernst genommen und nicht auf Kosten der Kinder ignoriert werden.

[Beifall bei der SPD – Beifall von Dr. Peter-Rudolf Zotl (Linksfraktion)]

Es kann nicht im Interesse von Kindern sein, wenn sie an der Schule überfordert sind, aber die Schule – auch das müssen wir aussprechen – keine Möglichkeit zu dieser optimalen individuellen Förderung hat, die in der integrierten Sekundarschule vorhanden ist.

Ich stehe nachdrücklich dazu, dass ein Probejahr im Vergleich zu der bisherigen Lösung die bessere Lösung ist, in erster Linie für die Schülerinnen und Schüler, weil der Druck nicht so immens ist, für die Lehrerinnen und Lehrer, weil sie nicht bereits nach einem halben Jahr – und in Wirklichkeit nach drei Monaten – eine Entscheidung treffen müssen, und auch für die Schulen und Schulträger, weil es nicht mitten im Schuljahr zu Schulwechseln kommt. Es ist in jedem Fall besser als die Alternative, über die man reden kann, Herr Steuer, indem man eine Prüfung einführt. Eine Prüfung wird nie eine so faire Chance zur Beurteilung von jungen Menschen ermöglichen wie die Beobachtung über ein Jahr.

Durch das verbindliche Beratungsgespräch in der Grundschule auf Basis einer Förderprognose, die die Leistungsentwicklung des Kindes, aber auch die unterschiedlichen Fördermöglichkeiten der Sekundarschule und des Gymnasiums berücksichtigt, wird das Elternwahlrecht fundiert unterstützt. Die neue Zugangsregelung stellt hinsichtlich der Elternrechte keine grundsätzliche Änderung gegenüber der bisherigen Regel dar. Alle Kinder werden wie bisher die Schulart ihrer Wahl besuchen können, Sekundarschule oder Gymnasium, und sämtliche Berichte in Zeitungen oder wie noch im RBB vor einigen wenigen Tagen, dass letzten Endes das Los darüber entscheidet, ob man in ein Gymnasium kommt, sind schlicht und einfach falsch.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Ich will es nicht bewerten, dass so etwas überhaupt vorkommt.

Im laufenden Schuljahr haben rund 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler in der Klasse 7 des Gymnasiums nicht über eine Gymnasialempfehlung verfügt. Hierunter ist nur ein verschwindend geringer Anteil, 0,1 Prozent, Hauptschulempfohlener. Auch diese Zahl bitte ich zu beachten, für alle diejenigen, Herr Steuer, die eine Prüfung haben wollen und, Herr Mutlu, die unbedingt zu 100 Prozent nur die Grundschulempfehlung in Rechnung stellen: Von den Realschulempfohlenen schafften 75 Prozent das Probehalbjahr. Das heißt, sie waren offensichtlich doch fürs Gymnasium geeignet. Wie bisher haben Kinder, die nach den neuen Regelungen zum Beispiel an ein bestimmtes Gymnasium nicht aufgenommen werden können, Anspruch auf einen Gymnasialplatz. – So weit die allgemeinen Regelungen.

Nun zur neuen Zugangsregelung in übernachgefragten Schulen. Das gilt für Sekundarschulen gleichermaßen wie für Gymnasien, denn beide werden in Berlin übernach

gefragt: 10 Prozent Härtefälle durch Bezirk und Schulleiter, 60 Prozent durch Schulleiter und 30 Prozent durch Los. Das wird Sie jetzt überraschen: Aus meiner Sicht, aus jedem Blickwinkel, den man darauf haben kann, stellt dies eine entscheidende Verbesserung gegenüber der bisherigen Situation dar. Erstens wird der Einfluss der Schulleitung in diesem Zusammenhang – die Schülerschaft ihrer Schule quantitativ und qualitativ zu beeinflussen – gegenüber der bisherigen Situation entweder erst ermöglich oder entscheidend verbessert.

Zweitens – auch das wird Sie überraschen –: Die Anzahl der in der Schulart möglicherweise nicht optimal förderbaren Kinder – vereinfacht: möglicherweise falsch zugeordneten, zum Beispiel für das Gymnasium nicht geeignet – wird, wenn überhaupt, eher geringer sein als bisher und nicht höher. Sämtliches Gerede darüber, dass eine solche Gefahr besteht, entbehrt jeder sachlichen Grundlage.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Drittens: Wir werden endlich beim Zugang zu übernachgefragten Schulen Chancengleichheit haben – ich betone: beider Schularten. Ich darf dieses plausibel oder nachvollziehbar machen: Bisher hatten nur Spezialschulen oder Schulen besonderer Prägung oder Schulversuche de facto die Möglichkeit, sich bestimmte Schülerinnen oder Schüler auszuwählen. Das ist völlig neu und eine völlig neue Dimension und Qualität: In Zukunft werden alle Schulen die Möglichkeit haben, sich nach selbst definierten Kriterien, die allerdings genehmigt werden müssen, damit sie gerichtsfest sind, Schülerinnen und Schüler auszuwählen, wenn eine Übernachfrage da ist. Dies ist eine völlig neue, und zwar positive Dimension aus dem Blickwinkel der Schulleitungen.

Jetzt zum zweiten Punkt. Ich will – nur als Beispiel – ein Gymnasium mit der Kapazität von 100 Aufnahmeplätzen und der Nachfrage von 200 oder 300 Anmeldungen wählen. Wie war die Situation in einem solchen Fall bisher? – Früher war es bzw. jetzt noch ist es so: Das Bestehen des Probehalbjahrs nehme ich als Kriterium, ob geeignete Schülerinnen oder Schüler in der Schulen waren oder nicht. Eine Auswahl war nur dahin gehend möglich, dass man nur gymnasial Empfohlene nehmen konnte. Da aber eine Größenordnung von 3 Prozent auch der Gymnasialempfohlenen das Probehalbjahr nicht schaffte, bedeutete das, dass im Durchschnitt bisher in einem Gymnasium in Berlin ca. drei nicht Geeignete in der Schule waren, also durchschnittlich eine Schülerin oder ein Schüler pro Klasse. Wie wird es in Zukunft sein? – In Zukunft wird der Schulleiter 60 plus 10 Prozent entweder allein oder entscheidend mitbestimmend aussuchen können. Ich gehe davon aus: Er wird solche Schülerinnen und Schüler aussuchen, die geeignet sind. Es bleibt also das berühmte Losverfahren nur noch in Bezug auf die verbliebenen 30 Prozent der Plätze. Selbst wenn ich unterstelle, dass bei den 30 eine Mischung aus Gymnasialempfohlenen und Realschulempfohlenen – nach dem alten System – sich anmelden würden, bedeutet das, dass wir hier mit ca. 7 Prozent der Schülerinnen und Schüler zu rechnen haben, die nach der Definition „Bestehen des Probehalb

jahrs“ nicht geeignet sind: 3 x 7 sind 21, und wenn man die Zehnerpotenzen richtig setzt, bedeutet das im Klartext:

Es werden in der neuen Regelung im Durchschnitt ca. zwei sein. Zwei ist nach Adam Riese auf jeden Fall weniger als drei wie bisher. Das heißt, es werden aller Wahrscheinlichkeit nach – wenn sich in der Anmeldesituation nichts groß verändert – in dem neuen System, das man als Lotterie verspottet hat, weil man offensichtlich nicht bereit ist, die Fakten zu akzeptieren, nicht einmal ein Schüler oder eine Schülerin pro Klasse sein.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Dieses Bild verändert sich nicht. Ich bin gern bereit, es jedem vorzurechnen, wenn sich letzten Endes eine größere Anzahl von Schülerinnen und Schülern, die nach dem alten System Realschulempfehlungen gehabt hätten, anmelden.

Wenn man vor diesem Hintergrund eine Diskussion so führt – auch in diesem Haus –, dann ist für mich nicht mehr nachvollziehbar, wie man in einer wichtigen Sache ernsthaft zu einer Meinungsbildung kommen will! Wer vor diesem Hintergrund eine Gefährdung des Gymnasiums sieht, ignoriert die Fakten. Das halte ich für eine sehr vorsichtige, zurückhaltende Formulierung. In diesem Zusammenhang von einem Verbrechen an Schülerinnen und Schülern zu sprechen, wie Sie es getan haben, das will ich hier nicht kommentieren, Herr Steuer!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Dazu kommt bei dieser neuen Regelung noch der nachweisliche Zuwachs an Chancengleichheit. Der BVGFahrplan wird keine Rolle mehr spielen. In einer Stadt wie Berlin, mit Schulen, die ein besonderes Angebot entwickeln – das bezieht sich auf Sekundarschulen und Gymnasien –, muss es sein, dass die Schülerinnen und Schüler aus Steglitz die gleichen Chancen haben, ein attraktives, von seinem Profil her gewünschtes Gymnasium in Mitte besuchen zu können, wie jemand vom Prenzlauer Berg.

Vor diesem Hintergrund lassen Sie uns bitte zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren, zu einer Diskussion um das Machbare und um die wahren und wichtigen Inhalte, die offensichtlich – da sie nicht strittig sind – im Konsens in dieser Stadt und – so hoffe ich – auch irgendwann in diesem Haus einen Qualitätssprung für die Weiterentwicklung des Berliner Schulsystems bedeuten. Wir reden nicht nur darüber, sondern wir tun es! – Ich bedanke mich!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Vielen Dank! – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Die Aktuelle Stunde hat damit ihre Erledigung gefunden.

Zur Änderung des Schulgesetzes auf Antrag der Fraktion der CDU empfiehlt der Ältestenrat die Überweisung an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie sowie an den Hauptausschuss. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.

Zum Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Überweisung an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie sowie an den Hauptausschuss empfohlen. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.

Wir kommen zum nächsten Punkt, der gemeinsamen Priorität der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke unter der

lfd. Nr. 4 a:

Große Anfrage sowie schriftliche Antwort des Senats

Literatur in Berlin

Große Anfrage der SPD und der Linksfraktion Drs 16/2041 Antwort des Senats Drs 16/2297

Das ist der Tagesordnungspunkt 11. – Für eine kurze zusätzliche mündliche Stellungnahme vonseiten des Senats hat der Regierende Bürgermeister das Wort. – Bitte sehr, Herr Wowereit!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie haben sehr ausführlich und schriftlich die Antworten zu Ihren Fragen erhalten. Da es um eine Debatte hier im Haus geht, lassen Sie mich dennoch einige Punkte hervorheben.