Kommen wir zum dritten und schwerwiegendsten Vorwurf, der in dieser Debatte nachzulesen und anzuhören war: Es geht um den Vorwurf, dass Berlin gegen das Grundgesetz verstoße. Bernhard Schlink, Professor für öffentliches Recht an der Humboldt-Universität, formuliert es in der „FAZ“ vom 15. Januar so:
Ein zentrales Argument, zunächst der Kampagne und jetzt der Kirchen, gilt dem Grundgesetz. In den Briefen, die Bischof Huber den Mitgliedern der Kirche und Pfarrer den Mitgliedern der Gemeinden schicken, ist es der Kern- und Hauptpunkt. „In Berlin ist“, so steht da, „Religion – anders als es im Grundgesetz vorgesehen ist und anders als in fast allen Bundesländern – kein ordentliches Lehrfach.“ Dass es in Berlin nicht zugeht wie im Grundgesetz vorgesehen, heißt, dass es in Berlin verfassungswidrig zugeht.
Wenn eine Regelung verfassungswidrig ist, interessiert nicht mehr, ob sie konsensfähig, zweckmäßig, ökonomisch sinnvoll oder moralisch akzeptabel ist. Sie ist erledigt. Die Behauptung, das Berliner Modell sei verfassungswidrig, soll es in den Augen der Empfänger der Briefe erledigen. Wer für das Volksbegehren unterschreibt, tritt nicht nur für ein pädagogisches, schul- und integrationspolitisches Modell ein und auch nicht nur für die Kirche, sondern für die Verfassung. Wer wollte sich dem verweigern!
Das schreibt Bernhard Schlink. Und ich füge hinzu: Wie kann man eine solche Informationspolitik machen? Wie kann man verschweigen, dass es ein grundgesetzlich verbrieftes Recht von Berlin und Bremen gibt, die sogenannte Bremer Klausel, die Berlin nicht verpflichtet, Religion als ordentliches Unterrichtsfach einzuführen?
Das ist übrigens kein Privileg dieser beiden Länder. Der Gesetzgeber hat es auch den neuen Bundesländern freigestellt.
Wie kann man so mit Ängsten und Vorurteilen, die es in dieser Stadt immer noch gibt, umgehen? Wie kann man sich so antiaufklärerisch in einer Kampagne verhalten?
Jetzt die Debatte zum Abstimmungstermin zum Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung zu machen, halte ich nicht für redlich. Ich plädiere auch hier dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. Der Oberedle Volker Ratzmann überzeugt mich nicht, wenn er wahlweise die Argumente variiert – entweder „Demokratie muss auch etwas kosten dürfen“ oder „Direkte Demokratie nur zum Nulltarif oder gar nicht.“ In der Tat ist es so, dass in diesem Halbjahr eine Abstimmung ansteht, die für das Berliner Landesrecht bedeutsam ist. Es geht hier nämlich um die Frage, ob die Bremer Klausel Bestand hat. Das ist eine Regelung, die über 60 Jahre in Berlin gegolten hat und – Michael Müller hat darauf verwiesen – die keine Regierung, gleich welcher politischen Ausrichtung, in dieser Zeit geändert hat. Um diese relevante Frage geht es.
Aber Europa auf die Frage „Wie hältst du’s mit der Religion?“ zu reduzieren, halte ich ebenso für nicht richtig.
Das sind aber nicht die Hauptpunkte meiner Argumentation. Ich finde, in die Abwägung ist einzubeziehen, dass wir die Debatte, die wir vor zwei Jahren bei der Einführung des gemeinsamen Unterrichtsfachs Ethik geführt haben, hier wiederholen werden. Es hat hier – ich habe es ausführlich geschildert – Falschaussagen, Verzerrungen und falsches Zeugnis gegeben. Eltern und Kindern wurden instrumentalisiert und die Behauptungen aufgestellt, die Religion sei in Berlin abgeschafft worden, Berlin würde gegen das Grundgesetz verstoßen und die Teilnehmerzahlen am freiwilligen Religionsunterricht zeigten, dass es der Kirche schon geschadet habe, dass ein gemeinsames wertevermittelndes Unterrichtsfach eingeführt worden ist.
Ich habe hier keine Distanzierung gehört. Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Henkel nicht so selbstgerecht über dieser Debatte steht und sich nicht so wenig von der Realität angesprochen fühlt, sich auch von diesen Praktiken distanziert, um zu sagen: Ein Cut – der nächste Punkt des Volksbegehrens wird sachlicher geführt. – Wir sind an diese Sachlichkeit der Debattenführung gebunden. Das gilt dann aber auch für die anderen. Ich habe jedoch nicht
An dieser Stelle erinnere ich noch einmal an die Zuspitzung der Debatte im Jahr 2006. Im Jahr 2006 waren die Zuspitzung aus meiner Sicht die Anzeigen in den Zeitungen und die Plakate an den Bus- und Bahnhaltestellen. Sie lauteten: „Werte brauchen Gott“ – was wohl heißt: kein werteorientiertes Handeln mit humanistischer Weltanschauung. Diese Zuspitzung hat viele Menschen verärgert, irritiert und verletzt. Ich möchte diese Zuspitzung nicht noch einmal erleben.
Sie spaltet darüber hinaus die Stadt. Aber sie zeigt eines ganz deutlich: In der Zuspitzung ist die Toleranz und die Akzeptanz der anderen Meinung und Anschauung, der anderen Sozialisation verschwunden. Dieser eine Satz: Werte gibt es nur mit Gott – drückt aus, dass nur diese eine Meinung gilt. Mit dieser breit plakatierten intoleranten Äußerung hat die Kirche sogar einen Anhaltspunkt dafür geliefert, dass es richtig ist, in Berlin ein gemeinsames wertevermittelndes Unterrichtsfach zu realisieren, dass es auf die Gemeinsamkeit ankommt, dass es auf Toleranz und Akzeptanz ankommt, dass es darauf ankommt, gemeinsam im Gespräch zu sein, um die andere Meinung zu kennen, um sie zu akzeptieren oder nicht. Wir brauchen das gemeinsame Gespräch auch, um festzustellen, wo eine Meinung fundamentalistisch wird. Nur im gemeinsamen Gespräch – und das findet nur in einem gemeinsamen Unterrichtsfach statt – kann ich eine fundamentalistische Meinung kritisieren, destruieren und zurückweisen. Deshalb brauchen wir den gemeinsamen wertevermittelnden Unterricht und den freiwilligen Religions- und Weltanschauungsunterricht.
Das tue ich. – Wenn es gelingt – worüber in den letzten Tagen oft zu lesen war –, dass der Neuköllner 13-Jährige, der Schulleiter, der aus Bayern stammt, und die gläubige Ethiklehrerin dieses Unterrichtsfach gemeinsam gut finden und nutzen wollen und das integrative Potenzial, das in diesem Unterrichtsfach steckt, tatsächlich für die Stadt nutzbar machen wollen, dann passt das zu Berlin. Dann ist das eine Regelung, die wir richtig gut hinbekommen haben und die es zu verteidigen gilt.
Ich bin froh, dass Sie mich nicht als „edlen Ratzmann“ angekündigt haben. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines ist jetzt schon klar: Egal, wie diese Entscheidung ausgeht, egal, wie Berlin über Ethik- und Religionsunterricht entscheiden wird – es gibt schon eine Gewinnerin in dieser Frage, und das ist die direkte Demokratie. Wir erleben gerade, dass es richtig war, die Hürden zu senken, dass es sich gelohnt hat, die langwierigen Diskussionen zur Veränderung der Verfassung zu führen. Seit Jahrzehnten tobt diese Diskussion über den Religionsunterricht in dieser Stadt. Jetzt entscheidet Berlin. Das ist Demokratie, und wir Bündnisgrünen finden das richtig –
wobei – und das muss man in Richtung der Initiatoren von „Pro Reli“ sagen – die Frage erlaubt sein muss, ob die Kirchen gut beraten waren, diese sehr emotionale Frage in dieser Art und Weise und in dieser Form in die Stadt hineinzutragen und die Diskussion so anzuheizen.
Wir Grünen haben uns in dieser Frage entschieden – nach durchaus schwierigen Diskussionen, aber demokratisch als Partei: Wir wollen, dass es an Berliner Schulen einen gemeinsamen Ethikunterricht für alle gibt und daneben – freiwillig – ein Religionsangebot. Es ist uns wichtig, nein, wir halten es sogar für zwingend notwendig, dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam über ethische Grundsatzfragen diskutieren und nachdenken. Hier wird die Grundlage für die Stadtgesellschaft gelegt, die auf Vielfalt, Miteinander, Toleranz und Respekt aufbaut. Genau das ist die Stadtgesellschaft, die wir wollen, und hier steckt auch das große Potenzial Berlins.
Natürlich wollen wir so viel wie möglich Wahlfreiheit. Aber Wahlfreiheit heißt gerade nicht, sich zwischen einer gemeinsamen Auseinandersetzung über ethische Grundsatzfragen und einer bekenntnisorientierten Auseinandersetzung über diese Fragen zu entscheiden.
Wollen wir wirklich, meine Damen und Herren von der CDU und der FDP, dass in dieser Stadt ein muslimischer Schüler bzw. eine muslimische Schülerin sich nur in ihrem bekenntnisorientierten Religionsunterricht mit grundlegenden ethischen Auseinandersetzungen befasst? – Ich glaube, das sollten wir nicht zulassen. Wir wollen und wir sollten alle dafür streiten, dass Kinder sich – unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit – die grundlegenden Werte unseres Grundgesetzes gemeinsam erarbeiten und lernen, wie sie es im alltäglichen Leben in dieser Stadt
Ich sage auch – das scheint mir in dieser Diskussion immer ein bisschen unterzugehen –: Es gibt nicht nur die großen christlichen Kirchen. Sie haben ihre Rolle, keine Frage, aber das multireligiöse Berlin ist mittlerweile mehr. Wir haben die jüdische Glaubensrichtung. Wir haben Muslime. Wir haben Buddhisten. Und wir haben auch Ungläubige und Atheisten in dieser Stadt, die diese Werte genauso lernen müssen und sollen, wie sie diejenigen lernen, die sich einem Bekenntnis zugehörig fühlen.
Wahlfreiheit heißt für uns, dass neben der übergreifenden Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Lebens und Zusammenlebens auch genau diese bekenntnisorientierte religiöse Auseinandersetzung möglich sein muss. Für viele ist beides notwendig, und viele wollen auch beides. Wir nehmen ihnen aber diese Möglichkeit weg, wenn wir sagen: Wir schaffen ein Wahlpflichtfach, in dem sie sich entscheiden müssen. Das sollten wir nicht tun, sondern wir sollten eine Vielfalt an Möglichkeiten bieten. Deshalb treten wir dafür ein, dass das gemeinsame Angebot Ethikunterricht weitergeführt wird und daneben das freiwillige Angebot bestehen bleibt.
Ich glaube, wir stellen uns da keiner leichten Aufgabe. Das stellt hohe Anforderungen an so einen Ethikunterricht, weil dieser Ethikunterricht nicht dazu verkommen darf, dass ein anti- oder unreligiöser Unterricht die unreligiöse Alternative zum freiwilligen Religionsunterricht ist. Das tut er auch nicht in dieser Stadt; alle, die ihn gestalten, sind bemüht, ihm eine andere Konnotation zu geben. Ich sage hier ganz klar: Würde der Ethikunterricht zu einem Rekrutierungsfeld der Weltanschauungsverbände verkommen, würden plötzlich ganze Ethikklassen zur Jugendweihe gehen, dann liefe in dieser Stadt tatsächlich etwas schief. Auch darauf müssten wir reagieren.
Diese Stadt ist multireligiös, sie lebt von ihrer kulturellen Vielfalt, und das erfordert eine Plattform in der Schule, damit alle lernen, mit dieser Vielfalt umzugehen, sich damit auseinanderzusetzen und sie zu akzeptieren.
Diese Aufgabe können die Kirchen nicht mehr allein lösen. Es ist staatliche Aufgabe, und wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass es diese Klammer des Ethikunterrichts gibt. Wir wissen alle, dass es schön wäre, wenn wir ihn nicht mehr bräuchten. Es wäre schöner, wenn die Schule als Institution ohne diesen Unterricht in all ihren Ausprägungen das vermitteln würde, im Sportunterricht, wenn wir nicht mehr mit dem schönen Spiel Völkerball das Gegeneinander von Nationen assoziieren würden, oder wenn im Biologieunterricht die Frage der Ethik von Gentechnologie zur Sprache käme, wenn das alles überflüssig würde, aber wir brauchen es. Wir haben es vorhin wieder gehört. Herr Momper hat hier klargemacht, was
wir für Auswüchse in dieser Stadt haben. Wir brauchen diesen gemeinsamen Werteunterricht – und wir Grüne wollen dafür streiten.
Ich glaube, dass es dennoch notwendig ist, auch die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu benennen und wertzuschätzen. Dazu muss man gar nicht einer Kirche angehören. Jeder von uns hat diese Auseinandersetzung in seiner Entwicklung, in seiner Jugend um Gott, den Glauben, die Rolle der Kirche und ethische Grundsätze geführt. Meine Mutter hat ihre Jugend in einem Pastorenhaushalt verbracht, hat dort gelebt und gearbeitet. Der Pastor ist für seinen Glauben und seinen aufrechten Gang in das KZ gegangen. Das war bei uns zu Hause immer Thema. Das hat etwas bei uns ausgelöst. Ich hätte nie den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst gemacht, wenn ich meinen Pastor nicht gehabt hätte. Linke, SPD und wir Grüne gehen gern zum Flüchtlingsrat. Der tagt in der Georgenkirchstraße, im Haus der Evangelischen Synode. Gerade in diesem Jahr sollten wir uns der Rolle der Kirchen, der Evangelischen insbesondere, und ihrer Bedeutung für die friedliche Revolution in der DDR erinnern. Sie war es, die vielen Gruppen in der DDR Zuflucht geboten und es ihnen ermöglicht hat, dass sie ihre politischen Aktivitäten entfalten. Dafür gebührt ihnen Anerkennung und Achtung.
Wir haben aber leider den Eindruck, dass der Senat im Umgang mit diesem Volksbegehren genau diesen Respekt und diese Achtung vermissen lässt, sowohl gegenüber den Kirchen als auch gegenüber denjenigen, die sich nicht in das konservative Lager und nicht in das explizit organisierte Kirchenlager einordnen, die modern und fortschrittlich denken und dennoch eine große Affinität zur religiösen Ausrichtung haben und wollen, dass es an den Schulen Religionsunterricht gibt. Ich glaube, dass es gerade in dieser Frage darauf ankommt, sehr sensibel damit umzugehen und dieses Gefühl, die Ausprägung, die Zerrissenheit der Stadt auch im politischen Umgang widerzuspiegeln.
Herr Wowereit! Diesen Respekt lassen Sie unserer Ansicht nach im Umgang mit den Kirchen vermissen und auch im Umgang mit der direkten Demokratie. Wir wissen alle um die Sensibilität dieses Themas, um seine Emotionalität und dass es die Menschen wirklich an ihren Grundfesten packt. Das sehen wir doch in dieser Diskussion. Es ziemt sich nicht, in dieser Frage so zu verfahren, wie wir es bei jeder anderen politischen Frage gewohnt sind. So sind Sie mit den Gewerkschaften umgegangen, so gehen Sie auf Bundesebene mit den anderen Ländern um. Ich glaube, dass von einem Landesvater
Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag die rot-rote Koalition damit legitimiert, dass Sie die Stadt einen wollen. Ich glaube, Sie tun im Moment genau das Gegenteil. Sie heizen den Konflikt an, statt ihn zu moderieren.