Protocol of the Session on April 24, 2008

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Scholz! – Für die Linksfraktion hat jetzt Frau Abgeordnete Hiller das Wort. – Bitte sehr!

[Uwe Doering (Linksfraktion): Aber du sprichst jetzt zum Antrag!]

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Trotz Tempelhofs sprechen wir zum Thema Europa, und nicht zu Lissabon – was auch ganz gut ist. Zu der EU und der Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen auf Europa stehen wir alle, natürlich auch die Linksfraktion.

Herr Dragowski! Ihr Antrag ist für uns interessant und diskussionswert, und ich freue mich, dass Sie das Thema aufgerufen haben. Selbst die Maßnahmen, die in dem Antrag genannt werden, also Fremdsprachenförderung im Kita- und Grundschulbereich, Vernetzung der Schulen, Europaerziehung und gezielte Lehrerausbildung, das alles ist von Ihnen löblich zusammengetragen und gut gemeint. Fleißig, Herr Dragowski – danke schön!

Es ist richtig, dass das Wissen und die Anwendungsbereitschaft der Kinder zu europäischem Gedankengut sehr kritisch zu sehen sind. Das habe ich auch nachgelesen. Die Erfahrungen zeigen, dass es ein sehr komplexes und

unübersichtliches Thema – jedenfalls in der Wahrnehmung der Kinder – ist und dass man etwas tun muss, um dichter heranzukommen.

Jetzt folgt jedoch mein großes Aber, es folgen Fragen und Probleme, die wir als Linke mit dem von Ihnen gewählten Ansatz haben, der sicher diskutiert werden muss. Ich hoffe, dass Sie hierzu bereit sind. Ich beginne mit meinem ersten Aber – Frau Tesch wies bereits darauf hin: Der Antrag vernachlässigt so vieles, was in Berliner Schulen hinsichtlich einer europäischen Erziehung bereits passiert, und zwar in vielen Fächern – auch im Grundschulbereich.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Sie dürfen, wenn Sie, Herr Scholz, in das Internet schauen, nicht nur die EU aufrufen, sondern Sie müssen Europa insgesamt aufrufen. Sie müssen auch Fragen der Kompetenzentwicklung aufrufen. Wenn Sprachen gelernt werden, wenn historisches Wissen zum Beispiel zum Römischen Reich vermittelt wird, ist das natürlich auch europäisches Wissen und sollte auch in eine Richtung vermittelt werden, die heute anwendbar ist und eine Vielfalt ermöglicht, die wir wollen, die bezüglich der Didaktik aber nicht sehr einfach ist.

Gleichzeitig verschweigt ihr Antrag, dass vieles gemacht werden kann, auch wenn es noch nicht in gewünschter Weise erfolgt. Die Rahmenlehrpläne der Berliner Schule sind so weit, dass Europa als Thema immer angenommen wird, selbst im Literaturunterricht, im Englischunterricht, im Sprachunterricht, in Geschichte und Erdkunde ohnehin. Das findet auch statt, und ein guter Lehrer macht das auch. Projekttage, Klassenfahrten, Wandertage geben darüber hinaus ein weites Feld der Beschäftigung mit diesem Thema, und wir wünschen uns alle, dass das mehr genutzt wird. Also: dazu wäre Ihr Antrag nicht erforderlich.

Damit komme ich zu meinem zweiten Aber: Alles, was Sie hier an Vorschlägen machen, wendet sich an diejenigen, die die Förderung ihrer Kinder als selbstverständlich erachten, auch selbstverständlich im Sinne einer europäischen Entwicklung, also im Sinne einer Sprachentwicklung. Das sind meistens auch Eltern, die das Geld für die Umsetzung der Maßnahmen haben. Für Kinder dieser Eltern ist es möglich, eine Klassenfahrt nach Italien zu machen. Es ist kein Problem, ein Schuljahr in Frankreich, in Großbritannien zu verbringen. Bildungsbewusste und gut verdienende Eltern haben so etwas für ihre Kinder eingeplant, auch bilinguale Kitas gibt es. Hier liegt meine Kritik: Nicht alle Kinder haben diese Möglichkeit.

Fast 40 Prozent der Berliner Kinder sind von Armut bedroht. Dementsprechend setzt Rot-Rot andere Prioritäten bei der Bildung. Das müssen Sie akzeptieren, denn dies kostet auch alles Geld. Was nützen Fremdsprachenangebote in Kitas, wenn die Kinder nicht Deutsch können. Und es ist von den untersuchten Kindern, die eingeschult werden, ein Viertel, das einen Nachholbedarf in der deutschen Sprache hat. Davon wiederum sind 30 Prozent Kinder deutscher Herkunft.

[Özcan Mutlu (Grüne): Das ist widersprüchlich!]

Diesen Themen widmen wir uns in erster Linie. Die von Ihnen genannten Themen sind wichtig, aber nicht prioritär.

[Beifall bei der SPD]

Was nützen uns Austauschprogramme nach Griechenland und Portugal, wenn die Eltern diese Reisen nicht bezahlen können, wenn sie nicht das Fahrgeld für den Wandertag in Berlin haben. Ein Thema, das wir diskutieren müssen: Wem nutzen diese Konzepte, die Sie einfordern.

Mein Einwand, Ihr Antrag hat einen entscheidenden Mangel: Hier soll wieder etwas mit Kindern und Jugendlichen gemacht werden, sie selbst sollen jedoch nicht gefragt werden. Ich denke, wenn man den europäischen Prozess gestalten will, muss man Kinder mit einbeziehen, muss man ihre Vorstellungen erfragen, sie aktiv gestalten lassen. Kinder und Jugendliche müssen Akteure in diesem Prozess sein.

Die EU hat viele Papiere und Programme entwickelt, die aber nicht umgesetzt werden können, wenn das Thema nicht erlebbar gemacht wird.

Frau Hiller! Ihre Redezeit ist längst zu Ende!

Ich komme sofort zum Ende! – Europa muss auch gelebt werden. In diesem Sinne wünsche ich mir eine aktive Rolle, die Kinder und Jugendliche in diesem Prozess einnehmen. Wir haben also noch vieles zu besprechen. Der Schulausschuss und der Europaausschuss sind befragt. Wir werden uns mit den Vorschlägen auseinandersetzen und vielleicht auch Teilaspekte umsetzen können. – Danke schön!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank, Frau Dr. Hiller! – Das Wort für eine Kurzintervention hat jetzt Frau Abgeordnete Senftleben. – Bitte sehr!

[Uwe Doering (Linksfraktion): Was ist denn heute hier los? Ist die Sitzung zu kurz?]

Frau Hiller! Was verstehen Sie unter reichen, was unter gut verdienenden Leuten? Warum gibt es immer wieder und verstärkt eine Verbindung zwischen gut verdienend und bildungsbewusst? Ich finde das langsam unerträglich, denn es gibt in der Tat auch Menschen, die nicht das Geld auf der Straße finden, die nicht zu den Superreichen gehören und dennoch ein hohes Maß an Bildungsbewusstsein haben.

[Beifall bei der FDP – Uwe Doering (Linksfraktion): Das stimmt! – Dr. Margrit Barth (Linksfraktion): Wo ist der Widerspruch?]

Vielen Dank, Frau Senftleben! – Frau Dr. Hiller möchte antworten und hat dazu jetzt die Gelegenheit. – Bitte sehr!

Frau Senftleben! Diesen Eindruck habe ich nicht erwecken wollen.

[Mieke Senftleben (FDP): Natürlich! Sie haben es gesagt!]

Es gibt statistische Erhebungen, dass Kinder aus bildungsfernen Familien auch zu den weniger gut bemittelten in dieser Stadt gehören. Wenn fast 40 Prozent der Kinder in Armut leben, sind das auch Kinder, denen der Bildungszugang deutlich schwerer gemacht wird.

[Mieke Senftleben (FDP): Es geht um das Bildungsbewusstsein!]

Ich habe zu Ihrem Antrag gesprochen! In diesem Antrag geht es um viele Dinge, die Geld kosten – Geld, das wir prioritär nicht für diese Konzepte ausgeben, sondern in einem anderen Bereich anlegen wollen. – Danke schön!

[Beifall bei der Linksfraktion]

Vielen Dank, Frau Abgeordnet Dr. Hiller! – Für die Fraktion der Grünen hat Frau Abgeordnete Herrmann jetzt das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bonan tagon: Das ist Esperanto, und diese Sprache kann man wohl an den Berliner Schulen und Kitas nicht lernen.

Internationalität, kulturelle Vielfalt in den Grenzen und über die Grenzen Europas hinweg erleben Berliner Kinder und Jugendliche alltäglich, und zwar nicht nur in der Schule, sondern auch auf der Straße und in der U-Bahn. Grundsätzlich kann man feststellen – da sind wir wohl einer Meinung –, dass Europa für den Großteil der Berlinerinnen und Berliner zu weit weg ist. Deshalb ist die Intention des FDP-Antrags, Kinder und Jugendliche besser auf Europa vorzubereiten, richtig.

Aber, lieber Herr Dragowski, wie soll das konkret aussehen, und warum betreffen alle Ihre Punkte und das, was in der Debatte bisher aufgetaucht ist, lediglich Vorschläge für die Kita und den Schulbereich? Europa ist für Kinder und Jugendliche nicht nur in der Schule oder in der Kita. Das ist eine gewisse Form von Schaufensterpolitik und Schaumschlägerei, nicht mehr und nicht weniger.

[Beifall bei den Grünen]

Es gibt auch außerschulischen Angebote. Zum Beispiel in der Jugendarbeit gibt es Austauschprogramme oder andere Formen der Auseinandersetzung mit Europa. Es gibt Gedenkstättenfahrten, europäische Freiwilligendienste, Besuche in Straßburg oder Brüssel, Jugendaustausche, europäische Kulturfeste der Soziokultur, zu denen unsere Jugendprojekte immer wieder eingeladen sind, und vieles mehr. Gerade in den außerschulischen Angeboten wird das Thema viel lebbarer und anschaulicher für Kinder und Jugendliche. Das findet aber leider in diesem Antrag keinen Platz.

[Beifall bei den Grünen]

Ich komme zu den einzelnen Punkten Ihres Antrags. Erstens zur Fremdsprachenförderung in der Kita: Entscheidend ist, dass interkulturelles Lernen im Berliner Bildungsprogramm sowieso verankert ist.

[Beifall von Dr. Felicitas Tesch (SPD)]

Allein die Ausgestaltung in Form von entsprechend qualifiziertem Personal, das ausreichend Zeit findet, sowohl für die Kinder als auch für die Eltern, ist das Berliner Problem. Wenn Sie in unseren interkulturellen Kitas im Wedding, in Kreuzberg-Friedrichshain oder in Schöneberg sind, erfahren Sie das hautnah. Hier enden die Grenzen nicht nur innerhalb Europas, sondern sie gehen darüber hinaus.

Europäische Austausche bereits in Grundschulen: Ich halte es für sinnvoll, früh anzusetzen, aber ob es der richtige Weg ist, staatlich geförderte Austauschprogramme bereits so früh zu veranstalten, halte ich für fraglich. Dazu gibt es auch noch nicht viele wissenschaftliche Forschungen bzw. Evaluationen.

Europäisches Engagement von Schulen zu unterstützen bzw. weiterzuentwickeln, wie soll das aussehen, und warum geht es hier wieder nur um die Schulen und nicht auch um die Träger der Jugendhilfe?

Die Erweiterung des freiwilligen Fremdsprachenangebots in Schulen unterstützen wir, auch wenn bereits Polnisch in Berliner Schulen unterrichtet wird. Auch das Angebot bilingualer Abschlüsse auszubauen, halten wir für richtig. Das muss allerdings ausformuliert werden.

Zur Lehrerbildung: Ihre Vorschläge sind alle sehr schön. Aber was meinen Sie konkret? Es wäre sinnvoll, Berliner Lehrerinnen und Lehrer zur Fortbildung ins Ausland zu schicken, beispielsweise zum Thema gemeinsames Lernen und individuelle Förderung nach Skandinavien. Hier gibt es in Berlin viel zu tun.

Wenn wir aber wollen, dass Kindern und Jugendlichen der europäische Geist nähergebracht und in ihnen Leidenschaft für ein friedliches, solidarisches und nachhaltiges Europa geweckt wird, dann ist die gestrige rot-rote Posse im Ausschuss um die Zustimmung zum EU-Reformvertrag ein Trauerspiel.

[Beifall bei den Grünen]

Es ist genau das Gegenteil dessen, was heute hier alle Fraktionen bekundet und beschworen haben.