Protocol of the Session on June 29, 2006

Befürchtungen, die Aufarbeitung des DDR-Alltags würde die SED-Diktatur verharmlosen, sind insbesondere von konservativer Seite geäußert worden. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Es geht nicht um nostalgische Geschichtsverklärung, es geht darum, zu zeigen, wie die Erziehung in einer Diktatur schon im Kindergarten begann, wie es weiterging in der Schule, beim Fahnenappell, bei den Pionieren, und wie sich das Leben am Arbeitsplatz und in der Familie gestaltete. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, wie man in einem System lebte, in dem Gewaltenteilung und demokratische Rechte und Freiheiten nichts wert waren. Die zweite deutsche Diktatur lässt sich nicht allein durch Repressionsinstrumente erklären, erst durch die Aufklärung über den Alltag in der DDR werden Herrschaftsmechanismen sichtbar.

Ein Beispiel macht dies vielleicht deutlich: Im Februar 1989 versuchte Chris Gueffroy, gemeinsam mit einem Freund nachts von Ost- nach Westberlin zu fliehen. Chris Gueffroy war der letzte Flüchtling, der erschossen wurde. Die Grenzsoldaten wurden ausgezeichnet und bekamen eine Prämie. Das war auch ein Teil des Alltags in der DDR und macht klar, wie grauenvoll dieser Alltag sein konnte. Darum gehört zur Aufarbeitung auch der Blick auf die Täter, auf die politisch Verantwortlichen, auf die Grenztruppen und die Mauerschützen,

Ich rufe auf

lfd. Nr. 3:

Aktuelle Stunde

Erinnerung wach halten – Gedenkkonzept Berliner Mauer zügig umsetzen

Antrag der SPD und der Linkspartei.PDS

in Verbindung mit

lfd. Nr. 55:

Antrag

Arbeit der Gedenkstätte Bernauer Straße sichern

Antrag der CDU Drs 15/5295

Jeder Fraktion steht eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redner aufgeteilt werden kann. In der ersten Runde folgt eine Wortmeldung von Frau Lange von der SPD. – Bitte schön, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Noch nie zuvor hat ein Senat so viel auf den Weg gebracht, um an das SED-Unrecht zu erinnern. Allein in diesem Jahr fließen mehr als 10 Millionen € für die Mauer, deren Erhaltung und für Aufklärungsarbeit – das ist mehr als in den letzten 15 Jahren insgesamt. Jetzt hat der Senat ein Mauergedenkkonzept beschlossen, das sogar bundesweit große Zustimmung findet.

Vor fast 17 Jahren wurde die Berliner Mauer durch friedlichen, aber entschlossenen Protest der Menschen in der DDR zu Fall gebracht. Sie teilte nicht nur auf brutale Art und Weise die Stadt, sondern auch Familien, Lebensläufe, Freundschaften und war das sichtbarste Symbol der menschenverachtenden Politik der SED-Diktatur. Leider ist nicht mehr viel an authentischen Zeugnissen vorhanden. Aber erinnern wir uns: Wer von uns wollte dieses grauenhafte Bauwerk Anfang der 90er Jahre noch im Stadtbild sehen? – Deshalb ist es umso wichtiger, dass das, was jetzt noch vorhanden ist, gesichert wird und authentische Orte bewahrt werden.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der Linkspartei.PDS und den Grünen]

auf die Verantwortlichen der SED, die Rolle der Stasi und deren ehrenamtlichen Zuträgern. Vor allem der Missbrauch durch diese Zuträger hat das System ermöglicht.

Wie wichtig die Aufarbeitung ist, zeigen die Vorkommnisse der letzten Wochen, als sich die Stasi-Kader – gut organisiert und ohne Unrechtsbewusstsein – selbstgerecht und ideologisch verblendet in die Öffentlichkeit trauten, im Übrigen auch sehr gut alimentiert vom ehemals bekämpften Klassenfeind, während die Opfer immer noch um eine Rente kämpfen müssen.

[Krug (SPD): Ganz genau!]

Die Bernauer Straße ist mit ihren authentischen Zeugnissen deshalb der ideale Lernort. Dort können die Spuren der Grausamkeit der Teilung dargestellt werden. Das Konzept sieht auch eine touristische Erschließung vor. Vom Pariser Platz werden die Besucherinnen und Besucher mittels eines roten Fadens zu den anderen Orten des Mauergedenken gelenkt, und die Bernauer Straße ist lediglich drei Stationen vom Pariser Platz entfernt, also auch zentral gelegen. Dazu gehört auch die wissenschaftliche Aufarbeitung und Dokumentation und vor allem die Vermittlungsarbeit. Kaum ein Schüler weiß heute noch, wo die Mauer stand und wie die DDR ausgesehen hat. Zur Aufklärung reichen meiner Meinung nach Wandertage nicht mehr aus. Wir brauchen pädagogische Konzepte und authentische Lernorte wie die Bernauer Straße, um

Nun zur Finanzierung: Da sind nämlich auch die Damen und Herren der CDU-Fraktion gefragt, ihren Kulturstaatsminister davon zu überzeugen, dass der Bund in die

ser Frage handeln muss. Wir in Berlin kommen diesbezüglich schon seit einigen Jahren – und mit der Vorlage des Mauergedenkkonzeptes – unserer Verantwortung nach. Wir erbringen hier eine große Leistung auch für die gesamte Bundesrepublik. Verehrte Kollegen von der CDU: Vielleicht können Sie Ihrem Kulturstaatsminister etwas Nachhilfeunterricht erteilen, vielleicht hat er noch nicht richtig mitbekommen, wie wichtig die Frage der Gedenkstätten in Berlin ist. – Vielen Dank!

Danke schön! – Für die CDU-Fraktion hat der Abgeordnete Herr Zimmer das Wort.

Wenn sich hier jemand hervorgetan hat, war dies vorhin bei der Begründung der Aktualität der Kollege Brauer von der Linkspartei.PDS. Wenn Herr Brauer in den Raum stellt, dass der Abriss der Mauer seinerzeit eine Art Geschichtsbereinigung durch die große Koalition gewesen sei, will ich Ihnen Folgendes sagen: Der Abriss der Mauer war eine Art von Geschichtsbereinigung. Es ist nämlich Unrecht bereinigt worden, das Deutschen 40 Jahre in Deutschland widerfahren ist.

die kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Dimensionen zu vermitteln.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der Linkspartei.PDS und den Grünen]

Der Checkpoint Charlie ist ein wichtiger nationaler und internationaler Ort, aber er ist nicht der Ort der Berlinerinnen und Berliner. Es ist richtig und gut, dass dort endlich ab Mitte Juli die Fotodokumentation zu sehen sein wird. Ich hätte mich gefreut, wenn dieses Projekt früher realisiert worden wäre.

[Brauer (Linkspartei.PDS): Das ging ja nicht! Das hatte ja Gründe!]

Auf keinen Fall dürfen wir jedoch das Erinnern dort privaten touristischen und kommerziellen Interessen überlassen. Es kann nicht sein, dass dort jemand sein privates Freiheitsdenkmal aufstellt. Das Museum am Checkpoint Charlie hat keinen Alleinvertretungsanspruch für das Mauergedenken.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Vieles ist noch zu klären, zum Beispiel die Grundstücksfragen an der Bernauer Straße oder die finanzielle Beteiligung des Bundes. Unverständlich ist, dass der von einem CDU-Bürgermeister geführte Bezirk Mitte ausgerechnet, kurz bevor das Planungsrecht des Senats rechtskräftig wurde – im September 2005 –, schnell noch zwei Bauten genehmigt hat, was die Arbeit unglaublich erschwert. Das gehört in die Kategorie populistische Sonntagsredner, die einerseits am Checkpoint Charlie Krokodilstränen weinen und demonstrieren, andererseits gar kein Gedenken wollen.

Auch der Bund muss sich seiner finanziellen und moralischen Verantwortung bewusst werden. Auch in den alten Bundesländern muss erkannt werden, dass es sich bei der Erhaltung und Pflege der Gedenkstätten zur zweiten deutschen Diktatur um unsere gemeinsame Teilungsgeschichte handelt.

Frau Abgeordnete! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Henkel?

[Heiterkeit des Abg. Henkel (CDU)]

Wissen Sie, Herr Henkel, ich nehme an, dass Sie ohnehin nur pöbeln wollten, und das würde ich unter Wahlkampfgetöse abbuchen. Insofern lassen wir dies lieber, [Henkel (CDU): Die ganze Rede ist eine Pöbelei!]

und es würde Ihrem komischen Herrn Pflüger auch gar nicht helfen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der Linkspartei.PDS und den Grünen]

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! – Ich bin über den Auftritt von Frau Lange schon einigermaßen überrascht. Eine derartige Arroganz gegenüber einem Kollegen, der eine Zwischenfrage stellen will, halte ich nicht nur für nicht parlamentarisch, sondern für absolut unangemessen.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

[Beifall bei der CDU und der FDP – Brauer (Linkspartei.PDS): Elende Heuchelei!]

Um das klar und deutlich zu sagen: Ich bin in den 90er Jahren auch der Auffassung gewesen, dass es richtig ist, die Spuren dieses Schandmals aus Berlin zu tilgen. Ich habe mir aber auch nicht vorstellen können, dass wir heute mit Ihnen in geschichtsverfälschender Weise darüber diskutieren müssen, was die DDR überhaupt gewesen ist. Deswegen ist es wichtig, Herr Brauer: Wir brauchen heute Orte der Erinnerung, um das ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken, was Sie versuchen, mit dem Mantel des Vergessens zu überdecken.

[Beifall bei der CDU – Brauer (Linkspartei.PDS): Woher wissen Sie denn das?]

Damit kommen wir zu einem meiner Hauptkritikpunkte an dem Konzept, das Herr Flierl vorgestellt hat. Ich halte die Bernauer Straße für eine absolut wichtige Institution, und deswegen unterstützen wir sie auch mit unserem Antrag.

[Liebich (Linkspartei.PDS): Aber!]

Die Bernauer Straße als Dokumentationsort ist wichtig, aber die Bernauer Straße hat ein Problem: Dieser Ort ist sehr abstrakt. Vor allem aber ist es ein Ort, der nicht von

Eines ist doch klar: Dieses Konzept, das mit einem wissenschaftlichen Anspruch daherkommt, den ich nicht wegdiskutieren möchte, dient an dieser Stelle insbesondere Herrn Flierl. Frau Lange, Sie haben vorhin von den Vorgängen in Hohenschönhausen gesprochen, aber dabei vergessen, dass einer der Hauptbeteiligten bei dieser unsäglichen Diskussion der Senator für Kultur und Wissenschaft Thomas Flierl gewesen ist. Herr Flierl ist aber auch derjenige, der als Endredakteur auf diesem Konzept steht. Gibt Ihnen das nicht selber zu denken? – Mir gibt es zu denken.

den Menschen aufgesucht und besucht wird, die die Spuren der deutschen Teilung und der deutschen Wiedervereinigung in Berlin suchen. Das können auch Sie nicht wegdiskutieren.

Wir brauchen einen Ort, an dem man sich auch erinnern und wo man auch Emotionen zeigen kann – ein Ort, der im kollektiven Bewusstsein verankert ist als ein Ort der Konfrontation und der deutschen Teilung, und das ist nun einmal der Checkpoint Charlie.