Protocol of the Session on June 8, 2006

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 87. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich.

Der Kollege Sayan wird heute noch nicht unter uns sein, weil er noch rekonvaleszent ist. Wir wünschen ihm von dieser Stelle alles Gute zur Genesung!

[Allgemeiner Beifall]

Wir wissen noch wenig über diesen Vorfall, außer dass er einen rechtsradikalen Hintergrund hat. Ich darf für das Haus und für uns alle sagen, dass wir es nicht hinnehmen werden, dass frei gewählte Abgeordnete, die in ihrem Wahlkreis tätig sind, in irgendeiner Weise bei ihrer Arbeit beeinträchtigt oder mit Gewalttaten verängstigt werden. Dagegen werden wir uns zur Wehr setzen!

[Allgemeiner Beifall]

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, erinnere ich daran, dass Morgen mit dem Eröffnungsspiel Deutschland – Costa Rica die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland und in Berlin beginnt. Am Vortag dieses großartigen Ereignisses, das Milliarden Menschen in aller Welt in seinen Bann ziehen wird, heißen wir alle Besucher und Gäste, die zu uns nach Berlin gekommen sind und kommen werden, herzlich willkommen!

[Allgemeiner Beifall]

Das Motto der Fußballweltmeisterschaft „Die Welt zu Gast bei Freunden“ ist für uns alle und für unsere Stadt eine Herausforderung und eine Verpflichtung zugleich.

Auf Straßen und Plätzen, in Museen und Kinos, in Kaufhäusern und Parks – überall sehen wir: Berlin hat sich für dieses globale Sportereignis herausgeputzt. Fußball ist nicht nur eine globale Sportart, sondern auch eine Sportart, die die Menschen verbindet. Fußball überwindet soziale, kulturelle und politische Schranken und schafft Begegnungsorte, die ohne den runden Ball nicht zu Stande gekommen wären. Fußball überbrückt kulturelle und religiöse Gegensätze. Kampf und Erfolg, Sieg und Niederlage können eine verbindende Erfahrung sein. Bei allem Wettbewerb und auch gelegentlicher Härte des Wettbewerbs führt der Sport die Menschen zusammen.

Sport ist multikulturell, und Berlin ist eine multikulturelle und multireligiöse Stadt. Berlin ist weltoffen und tolerant. Wir freuen uns auf die Fußballspieler und auf die Gäste aus aller Welt und darauf, dass sie zu uns kommen. Die Weltsprache Fußball wird das verbindende Element bei dieser riesigen Fußballparty sein. Wir freuen uns auf den spannenden Sport, wir freuen uns auf viele Tore und auf friedliche und begeisterte Fans.

Die Fußballweltmeisterschaft ist nicht nur das weltweit größte Sportereignis des Jahres 2006, es ist, um mit UN-Generalsekretär Kofi Annan zu sprechen, „ein Ereignis, über das jeder auf diesem Planeten reden wird“. So ist

die Fußballweltmeisterschaft für Berlin eine einzigartige Chance, der Welt zu zeigen, worauf wir stolz sind. Das wiedervereinigte Berlin ist ein Symbol der Freiheit. Freiheit, Demokratie und Toleranz sind unsere Werte, für die wir einstehen und für die wir kämpfen.

Es stimmt: Nicht alle in unserem Land denken so. Eine Minderheit ist in den letzten Jahren mit rechtsextremistisch und fremdenfeindlich motivierten Vorfällen und Gewalttaten aufgefallen. Auch die Gewaltbereitschaft dieser Gruppen ist für uns alle erschreckend gestiegen. Solche Vorkommnisse sind schwerwiegend. Aber Berlin und die ganz große Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner wird alle Anstrengungen unternehmen, um die Ursachen von Rassismus und Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft zu bekämpfen, und zwar bekämpfen mit den legalen Mitteln des wehrhaften Rechtsstaates und mit dem bürgerschaftlichen Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger gegen Rechtsradikalismus und Gewalt, so, wie es in den letzten Jahren immer wieder und zunehmend geschehen ist.

Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen in Berlin keinen Platz haben – jetzt bei der Fußballweltmeisterschaft nicht und sonst auch nicht. Unterstützung erhalten wir während der Fußballweltmeisterschaft vom Weltfußballverband. Die FIFA hat beschlossen, bei jedem Spiel eine Botschaft gegen Rassismus auszusenden. Das ist sehr zu begrüßen. Aber der Sport selbst ist das beste Mittel, um Vorurteile abzubauen und Menschen unterschiedlicher Herkunft, Nationalität und Religion einander näher zu bringen.

Sie wissen, Berlin ist eine Sportstadt. Mit den vielen Sportstätten und Vereinen und den über 500 000 Sportlerinnen und Sportlern sind wir ganz weit vorn. Das ist beachtlich. Sport fördert die soziale Integration. Damit leisten unsere Sportvereine eine wichtige gesellschaftspolitische Arbeit. Man sieht: Der Sport ist in Berlin gut zuhause.

Wir freuen uns auf unsere Besucher aus aller Welt, und wir hoffen – und werden alles dafür tun –, dass sie sich bei uns wohl fühlen. – Und nun gehen wir an unsere Alltagsarbeit. – Danke schön!

[Beifall]

In der Fraktion der CDU begrüße ich für den ausgeschiedenen Kollegen Uwe Schmidt Herrn Rainer Ueckert, der uns schon gut bekannt ist. – Herr Ueckert, herzlich willkommen, gute Zusammenarbeit!

[Allgemeiner Beifall]

Sodann habe ich Gelegenheit, dem Kollegen Kleinei

dam zur Hochzeit zu gratulieren. – Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Kleineidam, alles Gute und viel Glück!

[Allgemeiner Beifall]

Nun komme ich zum Geschäftlichen: Auf Wunsch des bisher allein beauftragten Ausschusses für Wissenschaft

und Forschung und der Fraktion der CDU habe ich den Antrag der Fraktion der CDU „Berliner Schmalspurmodell der sonderpädagogischen Lehrerausbildung missachtet den Bildungsbedarf der Kinder“ – Drucksache 15/4940 – nachträglich und zusätzlich mitberatend an den Schulausschuss überwiesen. Die nachträgliche Zustimmung hierzu stelle ich fest. Dieser Antrag wird dort im Schulausschuss in seiner nächsten Sitzung am 15. Juni beraten.

Am Dienstag sind vier Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD und der Linkspartei.PDS zum Thema: „Die Welt zu Gast bei Freunden: Berlin – nicht nur zur Fußball-WM weltoffen und tolerant!“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Gewalt an Schulen, miserable Bildungstests, Abbau von Studienplätzen – Jugend- und Bildungspolitik des Senats ohne Konzept und ohne Zukunft!“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Bildung braucht Verantwortung! – Senat lässt Schulen aus dem Ruder laufen“,

4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Zunehmend Gewalt an Schulen, verrohte Jugendliche, verbreitete Familienarmut, ratlose Eltern, und der überforderte Berliner Senat weiß nicht weiter!“.

Die Koalitionsfraktionen haben inzwischen ihren Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde zurückgezogen. Nun rufe ich zur Begründung der Aktualität der anderen Anträge auf. Das Wort für die Fraktion der CDU hat Herr Kollege Steuer. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beinahe jeden Tag eine neue Horrormeldung über Gewaltvorfälle in Berliner Schulen! Beinahe jeden Tag der Hilferuf wegen mangelnder Personalausstattung aus Kitas und Schulen! Beinahe jeden Tag die Ankündigung neuer Einsparungen quer durch die Bildungslandschaft Berlins! Tausende Studienplätze weggestrichen, Tausenden Jugendlichen die Jugendhilfe gestrichen, die Vorklassen abgeschafft, das Schul- und Sportstättensanierungsprogramm um 10 Millionen € gekürzt, die KitaElternbeiträge drastisch erhöht, die Lernmittelfreiheit eingeschränkt, die musikbetonten Grundschulen beschnitten, bei den freien Schulen gekürzt, 100 Jugendeinrichtungen geschlossen – das ist die Bilanz von SPD und PDS.

[Zurufe von der Linkspartei.PDS]

Das ist auch die traurige Folge Ihrer Ankündigung, nicht an der Jugend, sondern für die Jugend sparen zu wollen. Sie sparen in Wirklichkeit an der Jugend-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik genauso wie andernorts. Es gibt keine Priorität für die Bildung unter diesem Senat, und es gibt auch keine Idee von der Zukunft einer guten Bildungspolitik. Das ist die Realität nach fünf Jahren RotRot.

[Beifall bei der CDU]

Senator Böger und Senator Flierl murksen so vor sich hin. Besonders Senator Böger ergeht sich in einer Strukturreform nach der anderen, ohne nach den Ergebnissen zu fragen. Ich will es Ihnen ganz deutlich sagen: Wer jedes Jahr neue Strukturreformen auf die Tagesordnung setzt und jedes Jahr Tausende von Lehrern und Erziehern und Zehntausende von Schülern und Kindern zu den Betroffenen seiner Reformpolitik macht, der muss sich an den Ergebnissen seiner Reformpolitik messen lassen und am Ende eine gute Bilanz vorweisen können. Das können Sie aber nicht. Berlin liegt weit abgeschlagen auf den hintersten Plätzen der Bundesrepublik Deutschland, und dafür trägt nicht irgendwer die Verantwortung, sondern dafür tragen Sie die Verantwortung.

[Beifall bei der CDU]

Das Thema ist brandaktuell, weil wir uns keinen Tag mehr leisten können, an dem uns der Bildungssenator erklärt, warum ein Brief einer ganzen Lehrerschaft zufällig dreißig Tage in der Schublade gelegen hat. Wir können uns keinen Tag mehr leisten, an dem der Bildungspolitik ein solch niedriger Stellenwert eingeräumt wird, dass sich der Regierende Bürgermeister nicht für die Rütli-Schule, nicht für die Gewalt an Schulen, nicht für die fehlgeschlagene Integrationspolitik in Berlin und nicht für die miesen PISA-Ergebnisse Berlins interessiert. Wir können uns keinen Tag mehr leisten, an dem die Berliner Bildungslandschaft erneut zum Reagenzglas ideologischer Bildungspolitik wird. Wir können uns keinen Tag mehr leisten, an dem wir ohnmächtig den Gewaltvorkommnissen in der Berliner Schule gegenüberstehen und an dem 3 000 Unterrichtsstunden in der Berliner Schule ausfallen.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Anstatt jetzt den Unterricht zu garantieren, jetzt die Universitäten zu stärken, jetzt die Gewalt zurückzudrängen, redet Senator Böger lieber über seine Zukunft als Senator in der nächsten Legislaturperiode, redet Senator Flierl lieber über die Moral der Buddy-Bären, und der Regierende Bürgermeister sagt einfach gar nichts. Wir wollen über Inhalte reden. Es geht nicht um Sie als Senatoren oder als Regierender Bürgermeister, sondern es geht um die Zukunftsfähigkeit dieser Stadt.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Für die Fraktion der Grünen hat nunmehr Herr Mutlu das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gewalt, Verrohung, Respektlosigkeit gehören in der Tat zum Alltag an vielen Berliner Schulen. Schulnamen wie Rütli- oder Pommernschule sind ein Kennzeichen für die Bildungspolitik des rot-roten Senats. Diese Namen stehen auch für die desaströse Jugend- und Bildungspolitik dieses Senats.

Herr Steuer! Gewalt ist dabei aber nicht das einzige Problem der Berliner Schule.

[Zuruf des Abg. Steuer (CDU)]

gefährdet“.

Für die Fraktion der FDP hat nunmehr der Fraktionsvorsitzende, Herr Dr. Lindner, das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Verehrte Damen, meine Herren! Man hätte das Thema unserer Aktuellen Stunde auch etwas anders formulieren können: In Berlin sind die Kinder überproportional arm und gefährdet, sie sind überproportional schlecht ausgebildet, und sie sind überproportional gewalttätig. Laut einer Senatsstatistik ist die Zahl der Minderjährigen, die in Armut leben, von 15,4 % im Jahr 2000 – das war kurz bevor Sie hier die Macht übernommen haben – auf 18,4 % hochgeschnellt. Sozialistisch ist nicht sozial – das muss man immer wieder betonen. Sie haben die Kinderarmut in dieser Stadt deutlich erhöht.

Sie haben Recht: Ein Unterrichtsausfall von etwa 11 % ist unerträglich. Die unzureichende Personalausstattung führt zu Qualitätseinbußen. Auch das ist richtig. Die schlechte Qualität und die katastrophalen Ergebnisse z. B. bei den Prüfungen zum mittleren Abschluss in Mathematik sprechen eine deutliche Sprache.

Dennoch sage ich: Nicht die Schulen sind überfordert, sondern der Senat ist überfordert. Dieser Senat hat es in den vergangenen fünf Jahren nicht geschafft, die Probleme der Berliner Schulen anzugehen oder zu lösen. Er hat keine Konzepte, wie er der Bildungsmisere in Zukunft Herr werden könnte. Der große Koalitionspartner doktert an den Symptomen herum – hier ein Reförmchen, da ein Reförmchen – und ist damit beschäftigt, einen neuen Senator zu suchen. Der kleine Koalitionspartner und die Möchte-gern-Senatorin Bluhm versprechen das Blaue vom Himmel, haben aber kein Konzept. Realisieren möchten sie ihr blumiges Bildungsprogramm sowieso erst nach 2011. So kann es und darf es nicht weitergehen.

[Beifall bei den Grünen]

Berlin kann sich ein derartiges generationsübergreifendes politisches Versagen in der Bildungspolitik nicht länger leisten.