Protocol of the Session on May 4, 2006

Sie sehen – das ist auch neu –, dass es jetzt zwei durchsichtige Urnen gibt. Die eine Urne ist für die abgegebenen Stimmen. Die andere Urne ist für die Stimmkarten, die Sie nicht benötigen, die also übrig bleiben.

[Unruhe]

Die Präsidiumsmitglieder werden Ihre Stimmabgabe auf einer Namensliste vermerken. Das ist ebenfalls neu.

Nach Ende des Abstimmungsvorgangs wird die Sitzung mit der Beratung des nächsten Tagesordnungspunkts fortgesetzt. Erst danach informiert die amtierende Präsidentin bzw. der amtierende Präsident das Plenum über das Abstimmungsergebnis.

Wir haben gleichzeitig den Zutritt des Raumes, in dem die Auszählung stattfindet, anders geregelt. Er ist jetzt abgeschirmt, damit die Beisitzerinnen und Beisitzer und Präsidiumsmitglieder genügend Zeit haben, die Stimmkarten auszuzählen.

[Dr. Lindner (FDP): Fangen Sie jetzt bitte an!]

Ich bitte auch alle Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer, die um das Ergebnis bangen, dem Präsidium die Zeit einzuräumen, die Auszählung in Ruhe vornehmen zu können.

[Unruhe]

Ich nehme an, dass Sie jetzt alle Kenntnis davon haben, und bitte das Präsidiumsmitglied Frau Weißbecker um das Verlesen der Namen. Die Abgeordneten bitte ich um die entsprechende Stimmabgabe.

[Aufruf der Namen und Abgabe der Stimmkarten]

Hatte jeder und jede die Möglichkeit, seine Stimmabgabe zu tätigen? – Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Beisitzerinnen und Beisitzer, zunächst nur die Wahlurnen mit den Aufschriften der Buchstaben A bis L und K bis Z auszuzählen. –Danke schön!

Dann fahren wir fort in der Tagesordnung. Die Prioritäten unter der lfd. Nr. 4 c und d hatten wir bereits als Tagesordnungspunkt 4 a aufgerufen.

Ich rufe auf als Priorität der Fraktion der CDU unter der

lfd. Nr. 4 e:

Dem Kinderschutz in Berlin Vorrang geben!

Antrag der CDU Drs 15/5027

in Verbindung mit

Jugendämter personell nicht ausbluten lassen

Antrag der CDU Drs 15/5029

Niemand glaubt, dass der Staat, die Gesellschaft oder eine Institution die Defizite auffangen können, die in der Familie entstehen. Aber sie können die Schutzlosen davor schützen, am Ende in einem Blumenkasten, einem Kühlschrank oder einem Erdloch zu enden. Wir müssen offensichtlich mehr tun, um dem Kindeswohl wieder Vorrang zu geben.

[Beifall bei der CDU]

Deshalb haben wir bereits vor anderthalb Jahren eine Initiative für verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen gestartet. Damals haben SPD und PDS dies noch abgelehnt. Sie nannten die Idee einen Generalverdacht gegen alle Eltern. Mittlerweile sieht das anders aus.

Aber, um es ganz deutlich zu sagen, mit verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen lösen wir das Problem vernachlässigter Kinder nicht. Viele der jüngst aufgefundenen vernachlässigten Kinder waren den Jugendämtern bereits bekannt. Es kann nicht sein, dass eine Familie monatelang bekannt ist, dass das zuständige Jugendamt mehrmals die Familie aufsucht, nichts passiert und am Ende das Kind traumatisiert, unterkühlt und unterernährt befreit werden muss. Es kann nicht sein, dass die Jugendämter 4 000 vernachlässigte Kinder zählen, die Gesundheitsdienste 600 zählen und die Polizei nur 250 zählt. Deshalb muss eine Verbesserung der Arbeit in den Jugendämtern und die Kooperation aller Ämter und Behörden im Vordergrund stehen.

Wir fordern Sie auf, die innovativen Ideen des Berliner Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes und unseres Antrags aufzunehmen und beide Anträge zu unterstützen. Lassen Sie uns als erstes Bundesland vorangehen und den Kinderschutz deutlich verbessern. Wir dürfen nichts unterlassen, um die Berliner Kinder besser als bisher zu schützen.

Offensichtlich wird die Polizei nur sehr selten informiert. Der Senat gibt in seinem Bericht vor 14 Tagen selbst zu, dass es zu wenig Kooperation zwischen den zuständigen Behörden gibt. Wir brauchen eine Bewusstseinsänderung, nämlich schneller im Sinne des Kindeswohls zu kooperieren und auch zu entscheiden.

Aber was machen wir mit den Kindern, die nicht aufgefallen sind? Die Dunkelziffer wird auf ein Vielfaches der bekannten Zahlen geschätzt. Tausende Kinder werden wohl in Berlin Jahr für Jahr an Leib und Seele geschädigt. Es führt kein Weg an einem Frühwarnsystem vorbei. Der Senat hat sich deshalb der Position der CDU-Fraktion angeschlossen und die Bundesratsinitiative Hamburgs unterstützt.

[Lachen des Sen Böger]

Darüber freuen wir uns mit Ihnen gemeinsam, Herr Senator!

Es gibt offensichtlich eine große, parteipolitisch übergreifende Einigkeit über eine verbindlichere Ausgestaltung der bisher freiwilligen Vorsorgeuntersuchungen. Deshalb hat der Bundesrat der Initiative zugestimmt. Das ist gut, aber es kann viele Monate, wenn nicht ein Jahr dauern, bis es zu einer bundesgesetzlichen Regelung kommt.

Die CDU-Fraktion hatte ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Parlamentsdienst in Auftrag gegeben, das nun vorliegt. Es zeigt einen Weg auf, auch ohne eine Pflicht zu mehr Verbindlichkeit zu kommen. Wir schließen uns zwar der Auffassung des WPD nicht an, dass eine Pflicht gegen das Erziehungsrecht der Eltern verstößt. Aber wir wollen den Weg einer kurzfristigen Landeslösung mitgehen. Der WPD schlägt vor, dass Kinderärzte oder Krankenkassen die Daten weiterleiten und eine Meldestelle informieren, welche Kinder an der Vorsorgeuntersuchung teilgenommen haben und welche nicht. Die einzurichtende Meldestelle müsste dann die Eltern an die Jugendämter melden, die nicht an der Vorsorgeuntersuchung teilgenommen haben. Ein ähnliches Verfahren hat der Senat gerade erst bei der Krebsvorsorge installiert. Die Jugendämter müssen nun all die zu Hause gebliebenen Familien aufsuchen und nach dem Rechten sehen.

Dafür brauchen wir selbstverständlich auch ausreichendes Personal. Das beantragen wir in unserem zweiten Antrag heute. Es kann schließlich nicht sein, dass, nachdem wir ein Problem erkannt haben, dann das Personal weiter reduziert wird, als gäbe es das Problem nicht.

Ich erinnere SPD und PDS an ihre Koalitionsvereinbarung, nicht an der Jugend zu sparen, sondern für die Jugend. Also lassen Sie die Jugendämter nicht ausbluten! Ich gehe davon aus, dass noch mehr Eltern als heute dann bereits an der Untersuchung teilnehmen werden, wenn sie zentral dazu eingeladen werden. Insofern reduziert sich die Zahl potentieller Hausbesuche auf vielleicht 5 bis 6 %. Ein System zum Datenabgleich müsste nach Inkrafttreten eines Bundesgesetzes ohnehin installiert werden. Insofern

können wir schon vorarbeiten und ein Vorbild für andere Bundesländer werden.

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Herr Steuer! – Das Wort für die Fraktion der SPD erhält der Kollege Nolte. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns am 11. November letzten Jahres und am 12. Januar dieses Jahres bereits mit dem Thema Kinderschutz befasst. Der Schutz der Kinder ist allen Parteien des Hauses ein wichtiges Anliegen. Die öffentlich bekannt gewordenen Fälle von Verwahrlosung und Misshandlung haben uns noch einmal die Notwendigkeit des Handelns deutlich gemacht.

Der vorliegende Antrag der CDU „Dem Kinderschutz in Berlin Vorrang geben“ ist aber anders, als Herr Steuer es eben sagte, wieder so formuliert, dass Reihenuntersuchungen vorrangiges Element zur Realisierung des Kinderschutzes in Berlin sind. Es ist gut, Herr Steuer, wenn es von der CDU anders gemeint ist, als es in dem Antrag steht. Dann sollten Sie es aber auch anders formulieren.

Wir haben im Abgeordnetenhaus auf Initiative der Koalitionsparteien im November letzten Jahres den Senat aufgefordert, unverzüglich ein integriertes Konzept zur Prävention, Beratung, Früherkennung, Krisenintervention und rechtzeitigen Hilfegewährung zu erarbeiten. Das Konzept sollte den Kinderschutz stärken und der Gewaltanwendung gegen Kinder durch Vernachlässigung, Kindesmisshandlung und Missbrauch entgegenwirken. Dieses Konzept für ein Netzwerk Kinderschutz liegt dem Abgeordnetenhaus und damit allen am Thema Interessierten inzwischen als Mitteilung – zur Kenntnisnahme – vor.

Wir sind der gemeinsamen Arbeitsgruppe der beiden beteiligten Senatsverwaltungen dankbar, dass sie mit der Mitteilung eine Handlungsgrundlage für die Verbesserung des Kinderschutzes in Berlin geschaffen haben. Wir sind auch den Vertretern der Wohlfahrtsverbände, der Geburtskliniken, der Berufsverbände für ihre Mitwirkung bei der Erarbeitung dieses Konzepts dankbar. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe fließen heute auch bereits in die betreffenden Passagen des Gesundheitsdienstreformgesetzes ein.

Ziel dieses Netzwerks ist es, die bereits bestehenden Beratungs- und Hilfeangebote für Schwangere und junge Familien zu verzahnen, zu effektivieren und zur gegenseitigen Information zu verpflichten. Das sind die Angebote der Kinderärzte, der Hebammen, der Geburtskliniken, der

Abschließend halte ich fest: Senat und Koalition sind mit dem Netzwerk Kinderschutz auf dem richtigen Weg. Die Unterstützung der CDU für dieses Projekt ist erfreulich. Es bleibt politische Aufgabe für uns alle, ein gesell

schaftliches Klima zu schaffen, in dem Elternrecht und Kindeswohl nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Einzelfall kongruent sind. – Vielen Dank!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Lieber“ Herr Nolte! So weit ist es mit dem Netzwerk Kinderschutz leider noch nicht. Es hört sich gut an. Es nimmt Form an. Aber es dauert! Vor längerer Zeit haben wir beschlossen, ein Netzwerk Kinderschutz zu installieren. Der Senat kommt nicht so richtig in die Puschen. Es liegt eine Mitteilung – zur Kenntnisnahme – vor. Das heißt aber noch lange nicht, dass beschriebenes Papier Realität geworden ist, Herr Nolte!

Kinder- und Jugendgesundheitsdienste, der Jugendhilfe, der Familienpflege, der Erziehungs- und Familienberatungsstellen und letztlich auch der überregionalen Not- und Krisendienste bei aktuellen Gefahrensituationen. Es gibt diese Möglichkeiten bereits. Die Vernetzung der genannten Angebote wird dazu beizutragen, dass der Staat sein grundgesetzlich gefordertes Wächteramt für das Kindeswohl noch wirkungsvoller wahrnehmen kann.

Im Januar, Herr Steuer, haben wir an dieser Stelle darüber gestritten, ob die Verpflichtung der Eltern zur Wahrnehmung der Reihenuntersuchungen nicht nur gesundheitspolitisch wünschenswert ist – da sind wir uns einig –, sondern auch ein weiteres Mittel zur Verbesserung des Kinderschutzes in Berlin sein könnte. Inzwischen sind wir schlauer. Es ist nicht nur das Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes, das Sie beauftragt haben, sondern auch das Gutachten der Friedrich-Ebert-Stiftung, das uns sagt, dass diese Verpflichtung aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht umsetzbar ist. Umsetzbar ist allerdings das, was das Parlament im Januar – damals bei Enthaltung der CDU – bereits beschlossen hat, nämlich den Auftrag an den Senat, gemeinsam mit den Bezirken und anderen Einrichtungen und Institutionen, insbesondere des Gesundheitswesens, durch gezielte Maßnahmen der Information und Aufklärung darauf hinzuwirken, dass die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder in Berlin stärker als bisher in Anspruch genommen werden.

[Beifall bei der SPD]

Dem vorliegenden Antrag der CDU kann man entnehmen, dass jetzt auch die CDU den Beschluss des Abgeordnetenhauses teilt. Die CDU macht in dem Antrag, den sie heute eingebracht hat, auch Vorschläge zur Umsetzung dieses Beschlusses. Über diese Vorschläge können und werden wir in sachlich angemessener Weise im Ausschuss beraten. Im Übrigen wird auch der schon von Herrn Steuer angesprochene Bundesrat in Kürze auf Initiative Hamburgs und Berlins bundesrechtliche Hilfestellungen in dieser Frage prüfen.

Im zweiten Antrag fordert die CDU den Senat auf, die qualifizierte Arbeit der Jugendämter auch in der nächsten Legislaturperiode 2006 bis 2010 sicherzustellen. Nun ist es nicht Aufgabe des Parlaments, Wahlprogramme von Parteien für künftige Legislaturperioden zu beschließen. Richtig ist aber dennoch, dass der Senat und die Bezirke auch in Zukunft sehr wachsam darauf achten müssen, dass die staatlichen Institutionen in der Lage bleiben, ihre gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben im erforderlichen Umfang und in der fachlich gebotenen Weise wahrnehmen zu können. In diesem Zusammenhang weise ich noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass das staatliche Wächteramt für das Kindeswohl Verfassungsrang hat. Dies erfordert selbstverständlich fachlich qualifiziertes Personal in ausreichender Zahl in den Jugendämtern.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]