Protocol of the Session on January 12, 2006

Beschlussempfehlung

Wir sind mit den darin enthaltenen Forderungen nicht allein. Auch die Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Berlin hat ein solches Programm gefordert. Die darin enthaltenen Vorschläge haben wir ganz bewusst in unseren Antrag einfließen lassen, um von Anfang an einen möglichst breiten Konsens in dieser Frage herzustellen.

Zum Stichwort „erkennen“: Die größte Schwierigkeit ist es, die Risikofamilien herauszufiltern, die der Hilfe bedürfen. Deshalb fordern wir für Berlin ein Frühwarnsystem. Interessante und bereits erprobte Instrumente hierfür gibt es bereits. Beispielsweise seien hier das Brandenburger Modell der „Grenzsteine der Entwicklung“ und das Düsseldorfer Modell genannt.

Das Düsseldorfer Modell spricht Eltern bzw. Risikomütter bereits vor der Geburt ihrer Kinder an, und zwar mit dem Ziel, dass diese sich zur Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen verpflichten. Aber auch das Projekt der Familienhebamme sollte in Berlin aufgegriffen werden. Der Senat täte also gut daran, nicht nur, was das Sparen betrifft, den Blick über die Stadtgrenzen zu richten, sondern insbesondere auch inhaltlich zu schauen, was in anderen Bundesländern an brauchbaren Ideen existiert, und diese endlich auf Berlin zu übertragen.

Vorsorgeuntersuchungen für Kinder wieder zur Pflicht machen

Beschlussempfehlung GesSozMiVer Drs 15/4503 Antrag der CDU Drs 15/3174

und

lfd. Nr. 56:

Antrag

Sofortprogramm für ein „Netzwerk Kinderschutz und Prävention“

Antrag der CDU Drs 15/4607

In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf die folgende Mitteilung – zur Kenntnisnahme – „Kinderschutz verbessern – Gewalt gegen Kindern entgegenwirken“, Drucksachen 15/4035 und 15/4368 – das ist der Zwischenbericht – sowie Drucksache 15/4583, die auf Wunsch der CDU eigentlich auf die Tagesordnung gehört hätten, aber durch einen Übermittlungsfehler leider nicht rechtzeitig das Büro des Plenardienstes erreicht haben.

Jeder Fraktion steht eine Redezeit von bis zu 10 Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redner aufgeteilt werden kann. Es beginnt Frau Richter-Kotowski. – Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jede Woche sterben nach einer Unicef-Studie in Deutschland zwei Kinder an Misshandlungen. Dabei ist seit 1996 die Zahl der registrierten Fälle um rund 50 % gestiegen. Wir wissen, dass Berlin hierbei eine traurige Spitzenstellung einnimmt. Deshalb brauche ich das hier auch nicht näher zu begründen.

Für meine Fraktion ist vor allem die Frage wichtig, was die Politik dazu beitragen kann, dass Kinder mehr Schutz bekommen. Dazu haben wir bereits den Vorschlag eingebracht, Vorsorgeuntersuchungen für Kinder zur Pflicht zu machen, der mittlerweile von vielen Experten, Sachverständigen und politischen Verantwortungsträgern – übrigens auch von der SPD – befürwortet wird. Aber auch die Feststellung ist richtig, dass verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen allein nicht ausreichen, weil zu einem umfassenden Schutz von Kindern mehr gehört. Es braucht ein Paket an Maßnahmen, die ineinander greifen und sich gegenseitig ergänzen, mit dem Ziel, Misshandlungstatbestände frühzeitig zu erkennen und Kindern und Eltern rechtzeitig helfen zu können.

[Beifall bei der CDU]

Von diesem Leitgedanken – erkennen und helfen – lässt sich auch der mit der Aktuellen Stunde verbundene Antrag meiner Fraktion leiten. Darin fordern wir den Senat auf, ein Sofortprogramm für ein Netzwerk „Kinderschutz und Prävention“ aufzulegen und darin alle Akteure im Bereich des Kinderschutzes sowie die Krankenkassen einzubinden.

Das Modell „Grenzsteine“ ermöglicht es, Entwicklungsrückstände bei Kindern schnell zu erkennen. Es sollte deshalb zur Arbeitsgrundlage in allen Kitas, Schulen und Horten und in der Tagespflege gemacht werden, damit frühzeitig Gespräche mit den Eltern geführt und entsprechende Hilfsangebote erfolgen können.

[Beifall bei der CDU]

Zum Stichwort „helfen“: Erschreckend ist, dass in vielen der in Berlin bekannt gewordenen Fälle die betreffenden Risikofamilien dem zuständigen Jugendamt bereits bekannt waren, und trotzdem steigt die Zahl der Kindesmisshandlungen weiter an. Allein aus diesem Grund ist die Gründung eines Netzwerkes erforderlich, um Ressourcen und Kompetenzen zu bündeln und so zu verhindern, dass Kinder und ihre Familien in diese Zuständigkeitslücken fallen.

Eine wichtige Rolle spielt hierbei neben den Jugendämtern und der Polizei auch der öffentliche Gesundheitsdienst mit seiner sozialkompensatorischen Arbeit für Familien. Schaut man sich jedoch den Entwurf für das neue ÖGD-Reformgesetz des rot-roten Senats an, muss man feststellen, dass wiederum erhebliche Einsparungen mit der Umsetzung des Gesetzes vorgesehen sind. Wo sind diese Einsparungen wohl zu erbringen? – Selbstverständlich beim Personal und damit auch wieder beim Kinder- und Jugendgesundheitsdienst in den Bezirken!

Gleiches gilt auch für das Personal bei den Jugendämtern, die mit immer weniger Mitarbeitern immer mehr Aufgaben erledigen sollen. Allein zwischen 1999 und 2002 waren die Einsparungen bei den Jugendamtsmitarbeitern in den Bezirken um das Siebenfache höher als in

Artikel 6 unserer Verfassung, der die Pflege und Erziehung der Kinder zum natürlichen Recht der Eltern und zu der zuvörderst ihnen obliegenden Pflicht erklärt, hat in der Vergangenheit zu einer eindeutigen Betonung des Elternrechts vor dem Kindeswohl geführt. Wir müssen uns aber fragen, was die staatliche Gemeinschaft tun kann und tun muss, um auch ihrer in Artikel 6 der Verfassung festgeschriebenen Wächterfunktion für das Kindeswohl nachzukommen.

Die Beachtung des Kindeswohls ist gerade auch für uns Sozialdemokraten ein Stück Verwirklichung von Chancengleichheit. Deshalb haben wir auf unserem Bildungsparteitag im April 2005 beschlossen, rechtlich zu prüfen, ob ergänzend zur Schuleingangsuntersuchung eine verpflichtende Untersuchung der Kinder im Alter von drei bis vier Jahren möglich ist. Wir halten eine solche Pflichtuntersuchung für sinnvoll, um sprachliche, gesundheitliche oder psychomotorische Defizite der Kinder rechtzeitig feststellen zu können und die Eltern entsprechend beraten und ihnen Hilfsangebote machen zu können.

den Jahren davor. In den letzten zwei Jahren wurden 70 Stellen gestrichen, und durch Arbeitszeitreduzierungen gingen weitere 105 Stellen verloren. Aber aufsuchende Familienarbeit kostet Zeit und ausgebildete Mitarbeiter – nicht nur schöne Worte, mit denen der Senat den Jugendämtern mehr Mut abverlangt.

[Beifall bei der CDU]

Vielmehr muss der Senat endlich seine eigene Verantwortung und Zuständigkeit annehmen und solche Rahmenbedingungen herstellen, die einen wirklichen Kinderschutz ermöglichen, der nach dem eigenen „Leitbild Jugendamt“ des Senats eine Kernaufgabe der Jugendämter ist. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU]

Für die SPD-Fraktion hat nunmehr der Kollege Nolte das Wort. – Bitte schön!

Meine Damen und Herren! Es wäre gut, wenn wir alle bei einem so wichtigen Thema wie dem des Kinderschutzes Augenmaß bewahren würden. Eine so reißerische Überschrift wie „Vernachlässigung von Kindern bis in den Tod“ eignet sich vielleicht als Schlagzeile für eine Boulevardzeitung, aber nicht für das Thema einer Aktuellen Stunde im Parlament.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS – Goetze (CDU): Gab es Todesfälle oder nicht? – Weitere Zurufe von der CDU]

Ihre Überschrift dient nicht der Sache, sie hilft nicht den Kindern, sondern sie ist reine Selbstdarstellung.

Auch die Forderung der CDU-Fraktion nach einem Sofortprogramm für ein Netzwerk „Kinderschutz und Prävention“ zeugt von panischer Hast, obwohl kühler Kopf und geduldige Kleinarbeit angesagt sind. Wie auch Ihnen bekannt sein dürfte, hat die Koalition den Senat bereits im November des letzten Jahres aufgefordert,

[Frau Pop (Grüne): Das Abgeordnetenhaus war das, Herr Nolte!]

ein Konzept zur Prävention, Beratung, Früherkennung, Krisenintervention und rechtzeitigen Hilfsgewährung zu erarbeiten. Der Senat hat zugesagt, bis Ende Juni 2006 einen entsprechenden Bericht vorzulegen. Was also ist Ihr Antrag anderes als Selbstdarstellung?

[Ah! von der CDU]

Wir sind uns in der Beschreibung der Probleme beim Thema Kinderschutz weitgehend einig. Wir sind uns nicht ganz einig, ob die Fälle von Vernachlässigung, Verwahrlosung oder sogar Misshandlung von Kindern zugenommen haben oder nur stärker öffentlich wahrgenommen werden. Es fehlen uns systematische Erkenntnisse und statistische Daten. Warum das so ist, ist übrigens auch des Nachdenkens wert. Aber egal, ob es mehr Fälle geworden sind oder gleich viele geblieben sind, jeder einzelne Fall verpflichtet uns zum Handeln und zum Nachdenken über wirksame Gegenmaßnahmen und Hilfsangebote.

[Gram (CDU): Eben, eben!]

Dazu wird meine Kollegin Christa Müller später noch aus ihrer Erfahrung als Jugendstadträtin einiges sagen, nämlich dazu, was schon gemacht wird, was zu verbessern ist und wo möglicherweise etwas zu ergänzen ist.

[Frau Senftleben (FDP): Dann hätten Sie für unseren Antrag stimmen sollen!]

Nun sehen einige – nicht nur in der CDU – verpflichtende Reihenuntersuchungen als Möglichkeit zur Bekämpfung von Vernachlässigung, Verwahrlosung oder sogar Misshandlung. Ich will mich gar nicht abschließend dazu äußern, ob es aus gesundheitspolitischer Sicht sinnvoll sein kann, die bisher freiwillig angebotenen, kostenlosen Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U10 verpflichtender zu gestalten. Der Generalsekretär der SPD hat sich heute in diesem Sinne geäußert. Unser Gesundheitsausschuss hat sich jedenfalls einstimmig dafür entschieden – und ich denke, das ist richtig –, dass alle für diese Untersuchung Verantwortlichen und Beteiligten darauf hinwirken, dass die Vorsorgeuntersuchungen stärker in Anspruch genommen werden.

Eines möchte ich aber festhalten: Verpflichtende Reihenuntersuchungen sind kein Lösungsansatz zur Bekämpfung von Vernachlässigung, Verwahrlosung und Misshandlung.

[Vereinzelter Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Die öffentlich in Rede stehenden Fälle waren den Ämtern allesamt bekannt. In allen Fällen bestand kein Erkennungsdefizit, sondern ein Eingriffs- und Handlungsdefizit, und zwar insbesondere bei den Jugendämtern.

[Zurufe von der CDU]

Es ist deshalb gut und trifft auch auf allgemeine Zustimmung, dass der Bundesgesetzgeber im Oktober letzten Jahres das Sozialgesetzbuch geändert und die Eingriffs

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie immer in der politischen Debatte und gerade, wenn es um schwierige Themen geht, reduziert sich alles irgendwann auf eine einzige Frage. Dann heißt es nur noch: Bist du dafür, oder bist du dagegen?

Genauso verhält es sich bei den verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen für Kinder. Wie immer bei Fragen, die die CDU als Fragen der inneren Sicherheit begreift, ist die Lösung angeblich einfach: Ein neues Gesetz muss her, eine neue Kontrollinstanz, und schon ist das Problem gelöst. – Aber ganz so einfach ist das nicht, meine Damen und Herren von der CDU! Richtig ist, dass viel zu häufig Misshandlungen hinter der Wohnungstür durch alle Behördenraster fallen. Seit letztem Herbst sind die Jugendämter berechtigt und verpflichtet, bei mangelnder Mitwirkung der Eltern auch gegen deren Willen tätig zu werden und den Kindern zu helfen. Das Jugendamt hat einen Schutzauftrag, so ist heute auch gesagt worden. Diese Aufgabe wird in Berlin aber offensichtlich unzureichend erfüllt. Fast alle öffentlich bekannt gewordenen Fälle von Kindesmisshandlungen waren den Jugendämtern ebenfalls bekannt und aktenkundig. Wir müssen fragen, weshalb Jugendämter nicht früher eingreifen. Das sei eine Mentalitätssache, sagt der Senat. Die Jugendämter arbeiteten lieber mit den Eltern zusammen und griffen nicht ein oder würden gegen deren Willen nichts unternehmen. Natürlich müssen Jugendämter ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern aufbauen, anders können sie gar nicht arbeiten. Dies ist im Übrigen auch tief im deutschen Familienrecht verwurzelt, Herr Böger. Es ist ein schwieriges Verfahren, Kinder aus Familien herauszunehmen. Deshalb – da stimme ich mit Ihnen überein, Herr Nolte – muss der Vorrang des Kindeswohls vor dem Elternrecht gesetzlich deutlicher formuliert werden.

möglichkeiten des Staates im Interesse des Kindeswohls verbessert hat.

Augenmaß und kühlen Kopf zu bewahren, das gilt es aber auch bei der Formulierung im CDU-Antrag: „Keine Zeit, länger abzuwarten: Wirksamer und vollständiger Kinderschutz steht vor Elternrecht und Datenschutz!“ – Meine Damen und Herren von der CDU! Sie haben uns vor kurzem wissen lassen, dass Sie beim Wissenschaftlichen Parlamentsdienst ein Gutachten in Auftrag gegeben haben, das das Verhältnis zwischen Elternrecht und Kindeswohl und die Zulässigkeit staatlicher Interventionen in Familien klären sollte. Ein solches Gutachten ist der richtige Weg. Warten Sie doch erst einmal dieses Gutachten ab, bevor Sie jetzt plötzlich einen rechtlich völlig umstrittenen Vorrang des Kindeswohls vor Elternrecht und Datenschutz unterstellen!

[Zurufe von der CDU: Ha, ha, ha!]