Könnte man die zutage getretenen Missstände – oder besser gesagt bestätigten Missstände – allein mit bedrucktem Papier in Ordnung bringen, bestünde keinerlei Anlass zur Sorge. Wenn zwei Regierungsparteien miteinander eine Koalitionsvereinbarung eingehen, sollten diese allerdings auch die konkreten Ziele ihrer Politik beschreiben und entsprechende Maßnahmen einleiten. Bisher ist davon nichts zu merken.
Meine Damen und Herren von der rötlichen Koalition, Sie haben beispielsweise versprochen, mehr Lehrer einzustellen – 4 000 bis zum Jahr 2006. Davon ist nicht mehr die Rede. Stattdessen drohen Sie damit, die Arbeitszeit der Lehrkräfte weiter zu erhöhen. In der gegenwärtigen Schulsituation wird man der Berliner Lehrerschaft noch einiges an Umdenken, Lernprozessen und Verhaltensänderungen abverlangen müssen. Aber eine Erhöhung der Arbeitszeit zur zweiten Mal seit dem Jahr 2000 ist in jeder Hinsicht kontraproduktiv und schädlich.
Damit wird nicht die pädagogische Leistung und schon gar nicht die Qualität von Schule erhöht, sondern lediglich der Druck auf Lehrer und Schüler. Das kann nicht unser Ziel sein. Das ist nicht der Weg, den uns PISA weist.
Der Weg, der eingeschlagen werden muss, besteht unter anderem darin, die Schule wirklich zu einem Ort des sozialen Lebens und des Entdeckens des Lernens zu machen – was natürlich gerade bei dem Lehrpersonal eine sehr hohe Motivation, Flexibilität, Experimentierfreudigkeit und Veränderung voraussetzt. Diese Voraussetzungen bekommen Sie aber nur mit innovativen und gerechten Arbeitszeitmodellen und nicht mit mehr Arbeitszeitungerechtigkeit, die natürlich auch zu Lasten der Schülerinnen und Schüler geht. Vor diesem Hintergrund kann man die sonstigen Kürzungen im Schuletat, die Sie von der SPD und PDS vorhaben – zum Beispiel bei den Schulen in freier Trägerschaft, wo Sie 7 Prozent kürzen wollen –, nur als verantwortungslos bezeichnen.
Verantwortungslos sind darüber hinaus auch die von Ihnen beabsichtigten Einschnitte im vorschulischen Bereich. Mit dem Abbau von Stellen im Leitungsbereich der Kitas oder der Verschlechterung des Betreuungsschlüssels bei den Horten von 16 auf 21 Kindern pro Erzieher schaden Sie den Kindern und senken damit indirekt auch die Qualität der schulischen Bildung in Berlin insgesamt.
PISA hat bewiesen, wie wichtig eine qualitativ hochwertige vorschulische Erziehung und ihre enge Verzahnung mit der Schule ist. Das wissen auch Sie. Ich zitiere aus der Regierungserklärung von Herrn Wowereit:
Der Senat wird die Kitas weiter als Bildungseinrichtung entwickeln und alles daran setzen, die Erziehung der Kinder systematisch zu verbessern.
Wenn Sie jetzt aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der roten Koalition, die finanziellen Rahmenbedingungen sowohl für die Schule als auch für den gesamten vorschulischen Bereich verschlechtern wollen, dann brechen Sie eines Ihrer zentralen Wahlversprechen. Sie brechen es, bevor Sie richtig mit dem Regieren begonnen haben. Sie werden sagen: Ja, die Haushaltslage. – Die ist nicht dramatisch, das stimmt, denn sie ist geradezu „abartig“. Ich zitiere gern Herrn Sarrazin, auch wenn er jetzt nicht anwesend ist. Niemand muss das eigens betonen: Sie können alles Mögliche kurzfristig einsparen, kürzen und liquidieren. Der Schuldenberg wird dadurch kaum merklich abgetragen. Das heißt nicht, dass haushaltspolitische Sofortmaßnahmen überflüssig wären. Berlin ist jedoch in einer Lage, in der letztlich nur langfristige strukturelle Reformen zur wirklichen Konsolidierungseffekten führen können, und zwar nach sorgfältiger Prioritätensetzung. Das ist genau die Aufgabe der Politik heute. Genau das fordern wir von Ihnen – nicht mehr und nicht weniger.
Meine Damen und Herren von der SPD und der PDS! Vor der letzten Wahl bestand ein parteiübergreifender Konsens, gerade die Schul- und Bildungspolitik nicht zum Opfer kurzsichtiger
Sparversuche zu machen. Dieser Konsens – das muss ich Ihnen ins Gedächtnis rufen – wurde in Kenntnis der katastrophalen Haushaltslage aber in Unkenntnis der Resultate von PISA erzielt. Mit Ihrer Weigerung, richtige und notwendige Prioritäten zu setzen, widersprechen Sie Ihren eigenen bildungspolitischen Zielsetzungen.
Mit uns Grünen waren Sie, liebe sozialdemokratische Kolleginnen und Kollegen, eigentlich schon auf dem richtigen Weg. Ich rufe kurz in Erinnerung, was Rot-Grün in der kurzen gemeinsamen Regierungszeit auf den Weg gebracht hat: Wir haben die Anzahl der verlässlichen Halbtagsgrundschulen nahezu verdoppelt. An Schulen mit hohem Migrantenanteil haben wir die Klassenfrequenzen reduziert. Wir haben 30 Schulstationen in die Regelfinanzierung übernommen. Wir haben dafür gesorgt, dass die gemeinsame Erziehung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung in der Sekundarstufe I zumindest im Schuljahr 2001 und 2002 gesichert ist. In einigen allgemeinund berufsbildenden Schulen haben wir eine Personalbudgetierung eingeführt und somit eine Politik initiiert, die zu mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen führen soll. Wir finden, dieser Weg sollte fortgeführt werden.
Wir müssen den Schulen die Möglichkeit geben, sich selbst weiterzuentwickeln und ihr soziales Umfeld positiv zu beeinflussen. Dafür brauchen wir die nötigen organisatorischen und finanziellen Freiräume. Wir brauchen Ganztagsschulen. Wir müssen endlich überkommene pädagogische Prämissen fallen lassen, weil sie von PISA endgültig widerlegt wurden. Die frühzeitige Trennung der Kinder in möglichst homogene Gruppen ist pädagogisch ein Irrweg. Last but not least: Wir müssen endlich sowohl dem vorschulischen Bereich als auch der Grundschulerziehung die Aufmerksamkeit schenken, die ihnen gebührt – auch bei den Haushaltsberatungen. Denn in diesen ersten Jahren werden die Weichen für die späteren Lernerfolge gestellt.
Mit unserer Großen Anfrage sowie dem angeschlossenen Antragspaket möchten wir Ihr Augenmerk auf diese Probleme richten und ein wenig Bewegung in die Bildungspolitik in Berlin bringen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren von der Koalition! Vergessen Sie nicht Ihre Wahlversprechen! Unterstützen Sie unsere Anregungen, und betrachten Sie diese als eine Stütze Ihrer Arbeit! – Ich danke Ihnen!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihre letzten Worte, Herr Kollege Mutlu, aufgreifend, bedanke ich mich zunächst, dass Sie eine Große Anfrage mit dieser Fülle von Anträgen initiiert haben. Zugleich bedauere ich, dass der ansonsten formidablen Geschäftsführung der Grünen entgangen ist, dass man ein so wichtiges Thema nicht an einem Ort und zu einem Zeitpunkt platziert, wo die Übertragungsmöglichkeiten nicht mit der Wichtigkeit des Themas kongruent sind.
Ich stelle fest: Das ist an sich nicht unser gemeinsames Anliegen. Ich darf das eigentlich nicht, aber in der anderen Rolle hätte ich das wohl getan.
Lieber Kollege Mutlu und meine Damen und Herren der Fraktion der Grünen! Sie haben das in vielen Punkten vollkommen zutreffend charakterisiert.
Herr Böger! Wollten Sie mit diesem Hinweis auf die Tageszeit andeuten, dass die leeren Reihen, die wir hier im Haus sehen, sozusagen auf die Erschöpfung der Abgeordneten schließen lassen, oder teilen Sie meine Meinung, dass es doch eher das Thema ist, das dazu führt, dass in mehreren Fraktionen die Reihen sehr leer sind?
Herr Schruoffeneger! Diese Frage lasse ich nicht zu. Diese Anfrage an den Senat würde ihn noch dazu verleiten, etwas zu tun, was ihm eigentlich nicht zusteht und was er ganz sicher auch nicht will. Ich kenne Herrn Senator Böger als jemanden, der sich immer an die Regeln hält.
Sie würden ihn mit dieser Frage verleiten, sich über Abgeordnete zu äußern, und insofern ist diese Frage meines Erachtens nicht zulässig. – Herr Senator, Sie haben das Wort!
Frau Präsidentin! Das sollte man im Protokoll dick unterstreichen. Das lassen wir mal so stehen. Ich beantworte die Frage nicht, hätte es aber gern getan.
Jetzt zum Thema, das wirklich wichtig genug ist: Herr Kollege Mutlu! Die neue Regierung wird so heftig kritisiert, als sei sie schon seit Jahrzehnten im Amt. Tatsächlich ist sie im Januar gerade einmal gewählt worden. Wenn man einen Vergleich anstellt, hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt längere Zeit Koalitionsverhandlungen als Regierungszeit. Lieber Kollege Mutlu! Das Schöne an den Koalitionsverhandlungen war, dass man bis auf eine Fraktion im Hause – die ich aber auch schon kannte – mit allen gesprochen hat. Ich bestreite nicht, dass man auch eine andere Koalition hätte bilden können. Es ist ja nun so gekommen, wie es gekommen ist. Aber eines möchte schlicht feststellen: Wenn man das Endergebnis der „Ampel“ und das Endergebnis der Koalition von SPD und PDS vergleicht, so waren die materiellen Leistungen in der Bildungspolitik bei der jetzigen Koalition etwas mehr als bei der „Ampel“. Das muss man der Fairness halber festhalten.
Es ist wichtig, dass man bei diesen Fragen – Sie haben es betont, müssen es aber als Opposition nicht einlösen – immer auch die dramatische Haushaltslage im Blick hat. Wenn man sagt, Bildung hat Priorität, so muss sich nach meiner Auffassung eine solche Prioritätsentscheidung in jedem Fall in Haushaltsentscheidungen niederschlagen. Sonst sind es keine Prioritätsentscheidungen. Diese Auffassung teile ich voll und ganz. Allerdings bedeutet dies – das muss man auch fairerweise sagen –, dass unter den Zwängen, unter denen Berlin steht und die Sie sehr genau kennen, zumindest bei der Art von notwendigen und unabweisbaren Konsolidierungen dieser Bereich besonders geschont und nicht über die Maßen beansprucht wird. Das lässt
die Koalitionsvereinbarung und die Regierungserklärung – das ist ja das entscheidende Dokument – auch ohne Frage zu. Darauf komme ich noch zurück.
Sie, Herr Kollege Mutlu, haben die PISA-Studie erwähnt und in Ihren umfangreichen Antragswerken mehrfach darauf hingewiesen, wie bedeutsam deren Ergebnisse sind. Wenn man jetzt über Bildungspolitik diskutiert, darf man diese Ergebnisse und diese Studie tatsächlich nicht außer Acht lassen. Es darf dieser Studie nicht so ergehen, wie es einer früheren Studie – der TIMSS-Studie – erging, die in Deutschland gewissermaßen verdrängt bzw. mit Diskussionen weggeschoben wurde. Es wurde gesagt, das sei nicht repräsentativ und nicht okay.
Der erste wichtige Punkt für uns alle – nicht nur in diesem Parlament und nicht nur für die Politiker – ist also, dass die Ergebnisse dieser Studie in unserer Gesellschaft breit und ernsthaft diskutiert werden müssen. Die PISA-Studie ist nicht nur eine Herausforderung für die Politik bzw. die Bildungspolitik, sondern auch für die gesamte Gesellschaft.
Es geht darum, welchen Stellenwert man Bildung überhaupt einräumt, was es für eine Bedeutung hat, Kinder in die Welt zu setzen, welche Verantwortung bei den Eltern liegt, welche Verantwortung Bildungsinstitutionen haben und welche Verantwortung Bildungspolitiker haben. Auch das gehört dazu. Wir dürfen also nicht in die in Deutschland übliche Weise verfallen, dass jeweils der Eine mit dem Finger auf den Anderen zeigt, man Schuldzuweisungen vornimmt und am Ende alles so bleibt, wie es ist. Das wäre das schlechteste Ergebnis.
Nun möchte ich anführen, was wir zwischenzeitlich – im Dezember ist die PISA-Studie veröffentlich worden – in der kurzen Zeit als Bildungspolitik in meinem Hause gemacht haben: Der erste Schritt war, dass wir sämtliche Schulleiterinnen, Schulleiter und Schulaufsichtsbeamten in mehreren Sequenzen zusammengeführt – das ist noch nicht ganz fertig – und ihnen eine authentische Interpretation der PISA-Studie durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts in Berlin nahe gebracht haben. Dies ist außerordentlich wichtig, weil man so als Schulleiter bzw. Schulleiterin erst einmal eine Gelegenheit hat, konkret zu hören, was diese Studie besagt und was sie nicht besagt.
Ich möchte auch das Folgende ausdrücklich festhalten: Es gibt einige Zeitgeistritter, die nach dem Ergebnis dieser Studie das sagen, was sie schon immer in der Bildungspolitik gesagt haben. Beispielsweise gibt es einen jungen Mann, der hier mehrfach zitiert wurde – als zukünftiges Regierungsmitglied auf Bundesebene – und dessen Name mit „welle“ endet. Dieser junge Mann stellt aufgrund der PISA-Studie fest, man müsse jetzt den Beamtenstatus abschaffen. Dafür kann man sein. Meinetwegen! Aber derartige Schlussfolgerungen passen hinten und vorne nicht. Das geht nicht. Das kann man so nicht sagen. – Oder es wird behauptet, die PISA-Studie ergebe, dass man in jedem Fall das Zentralabitur brauche. Dafür kann man sein, aber das kann man nicht aus der PISA-Studie ableiten. Das ist Unfug.
Das, was die PISA-Studie nun tatsächlich ergeben hat, muss systematisch und ernsthaft besprochen werden. Ich teile das – und möchte es nicht wiederholen –, was Sie in Ihrer Antragsbegründung dazu geschrieben haben. Herr Mutlu, Sie hätten das auch komplett kopieren können, und zwar aus der Regierungserklärung und aus dem Koalitionsabkommen.