Protocol of the Session on September 23, 2004

In diesem Fall ist die Situation aber eine völlig andere. Was der Angeklagte getan hat, ist unstrittig. Strittig dagegen ist, ob dieses Verhalten überhaupt strafbar war. Die Staatsanwaltschaft behauptet das und gründet dabei ihre Auffassung auf eine juristische Konstruktion, die es so in der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte noch nicht gegeben hat. Sie beschreitet juristisches Neuland und ist von der Haltbarkeit ihrer Konstruktion überzeugt. Wir haben uns mit diesen juristischen Thesen in den letzten Wochen bekanntermaßen befasst. Wir haben Experten um Rat gebeten. Es gibt viele Rechtsexperten, die diese Auffassung bezweifeln. Wir haben es hier also mit einem juristischen Experiment zu tun, einem Experiment, das nach unserer Auffassung scheitern wird.

Bedauerlicherweise ist es aber auch ein Experiment am lebenden Objekt. Wir haben auch eine Verantwortung für den ungefragt zum Versuchskaninchen auserkorenen Senator Thilo Sarrazin.

Thilo Sarrazin hat anerkannt gute Arbeit geleistet, auch wenn wir oft genug unterschiedlicher Auffassung waren und wohl auch noch sein werden. Entgegen man

Liebich

Wir waren von Anfang an mit einer Vielzahl von Hinterlassenschaften aus der Zeit von Filz und Korruption beschäftigt, die vertraglich besiegelt und rechtlich gesichert großzügige Alimente aus dem Landeshaushalt an einen ausgewählten Personenkreis dieser Stadt gewährten. Die rot-rote Koalition ist angetreten, diese Zustände zu beenden, und zwar so zu beenden, dass der Schaden für das Land möglichst minimiert wird.

cher Meinung wissen wir auch: Diese Arbeit ist noch längst nicht abgeschlossen. Die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ist noch nicht entschieden, notwendige Strukturveränderungen sind zwar beschlossen, aber noch nicht durchgesetzt. Thilo Sarrazin ist ein streitbarer, wichtiger und wesentlicher Bestandteil dieser Koalition, auch deshalb werden wir ihn nicht auf Grund derart ungesicherter Vorwürfe opfern.

[Beifall bei der PDS und der SPD – Dr. Lindner (FDP): Wer entscheidet denn das?]

Wer das entscheidet, Herr Lindner? – Das ist die Koalition, die die Regierung trägt. So ist das zum Glück, und deshalb werden wir auch die Entscheidung treffen.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Natürlich stellt sich die Frage – und sie ist hier auch mehrfach aufgeworfen worden –, ob ein Senator unter Anklage überhaupt noch über die für sein Amt notwendige Durchsetzungskraft und Integrität verfügt.

Nun, was seine Integrität betrifft, so ist diese überhaupt nicht angegriffen. Niemand behauptet – auch heute und hier nicht –, Thilo Sarrazin hätte versucht, sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen oder sich gar bereichert.

[Doering (PDS): Doch! Der da!]

Selbst viele, die seine Entscheidung hinsichtlich des Tempodroms kritisieren, gehen dabei von einer guten Absicht aus.

Was seine Durchsetzungskraft betrifft, so haben wir alle Thilo Sarrazin erlebt. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass Senator Sarrazin sich auf Grund der aktuellen Situation vom eingeschlagenen Weg abbringen lässt oder davon abhalten lässt, seine Ansichten zu äußern?

[Ritzmann (FDP): Das wünschen Sie sich vielleicht!]

Glaubt irgendwer ernsthaft, dass der Finanzsenator nun sein weiches Herz entdeckt hat und das Geld mit vollen Händen aus dem Fenster wirft, wie dies in der großen Koalition üblich war?

Herr Kollege! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ratzmann?

[Zurufe von der PDS: Nein!]

Nein! – Wir glauben das jedenfalls nicht. Sie können sicher sein, dass diese Koalition auch nicht der Versuchung erliegen wird, auf diesem Weg die Standhaftigkeit von Thilo Sarrazin zu testen.

Natürlich ist es auch eine schwierige Situation für die Koalition, das ist wahr. Aber diese Koalition existiert vor allem deshalb, weil sich Berlin in einer schwierigen Situation befindet – gerade weil schwierige Entscheidungen zu treffen und umzusetzen sind. Es hat sich gezeigt, dass nur

diese Koalition die Kraft und den Mut hat, Berlin durch diese Zeiten des Umbruchs zu bringen.

[Beifall bei der PDS und der SPD – Dr. Lindner (FDP): Ganz sicher!]

Weil die FDP gerade auf sich aufmerksam macht: Sie wollen doch nicht, dass wir die Stadt dieser Koalition – einer bürgerlichen Koalition aus dieser CDU und dieser FDP – überlassen! Ich will jetzt nicht noch einmal den Kollegen Zimmer quälen und die Berichte vom Wochenende zitieren. Ich spare mir auch Verweise auf die ständig schrumpfende FDP.

[Heiterkeit bei der PDS und der SPD]

Wir haben aber die Verantwortung dafür, dass diese Stadt eine stabile Regierung und eine stabile Koalition behält.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

[Frau Oesterheld (Grüne): Das haben wir gesehen!]

Wir wussten, dass uns dabei auch Widerstand entgegenschlagen wird. Es war uns klar, weil wir wussten, dass wir mit unseren Entscheidungen auch Leute treffen, die jahrelang von den eingefahrenen Berliner Verhältnissen profitiert haben und denen es nun gar nicht passt, dass die seligen Westberliner Zeiten vorbei sein sollen. Was wir aber nicht vermutet haben, ist die Niveaulosigkeit, mit der die Opposition jeden noch so absurden Vorwand aufgreift,

[Wellmann (CDU): Staatsanwaltschaft!]

wenn er nur geeignet ist, diese Koalition zu Fall zu bringen. Ja, wir haben lange Zeit tatsächlich gehofft, dass wir mit der Opposition in diesem Haus über unsere Entscheidungen politische Auseinandersetzungen führen können. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt.

Damit komme ich zum zweiten Grund, weshalb wir einen Rücktritt von Senator Sarrazin für unakzeptabel halten. Der Stil dieser Opposition – angeführt von der Berliner CDU, aktiv unterstützt von den Grünen –, politische Auseinandersetzungen auf die juristische Ebene zu verschieben, sie statt mit Argumenten mit Anzeigen auszutragen, empfinde ich als eine beispiellose Verlotterung der politischen Sitten.

[Beifall bei der PDS und der SPD – Henkel (CDU): Dass Sie in der Koalition sitzen, ist eine Verlotterung der Sitten!]

Herr Henkel, dass wir in der Koalition sind, ist kein Beispiel der Verlotterung von Sitten, sondern das Ergebnis von Wahlentscheidungen.

Sie tun nichts anderes, als auszuweichen und letztlich darum zu kämpfen, dass Ihre Macht erhalten bleibt – komme, was wolle. – Vielen Dank!

Danke schön, Herr Ratzmann! – Herr Liebich verzichtet auf die Replik. Dann fahren wir fort in der Rednerliste mit der FDP. Das Wort hat Herr Dr. Lindner. – Bitte schön!

[Beifall bei der PDS]

Man kann ja geteilter Meinung zu politischen Entscheidungen dieses Senats oder einzelner Senatoren sein. Man kann auch geteilter Auffassung darüber sein, ob ein Entscheidungsverfahren politisch sinnvoll oder nicht sinnvoll ist. Es ist auch eine Selbstverständlichkeit zu verlangen, dass diese Entscheidungen juristisch sauber getroffen werden. Es geht aber nicht, dass man beständig politische Entscheidungen unter einen juristisch zweifelhaften Verdacht stellt und auf Grund dieses Verdachts – ich betone: des Verdachts, nicht des Beweises! – politische Konsequenzen fordert.

Wer so wie Sie je nach Belieben das juristische Damoklesschwert über den Köpfen von Entscheidungsträgern schweben lassen will, will vor allem eines: Verunsichern, verhindern und Menschen ins Zwielicht stellen. Wer so wie Sie nicht mehr auf die Kraft der Argumente und Ideen setzt, sondern nur noch darauf, einzelne Regierungsmitglieder zu Fall zu bringen, der beschränkt Politik auf ein billiges Machtspiel, und er nimmt dafür in Kauf, dass Politik eingeschränkt wird in dem, was sie im Moment am dringendsten braucht, nämlich der Fähigkeit und Möglichkeit, Lösung für Probleme zu finden, Entscheidungen zu treffen und sich an Hand dieser Entscheidungen messen zu lassen.

[Zuruf der Frau Abg. Oesterheld (Grüne)]

Ich sage Ihnen: Damit kommen Sie nicht durch! Ich bin froh, dass große Teile der Öffentlichkeit das auch so sehen.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Unsere Koalition hat Vertrauen zum Finanzsenator und auch zum ganzen Senat.

[Henkel (CDU): Wie lange noch?]

Weil die Anklage gegen den Finanzsenator einen Präzedenzfall darstellt, halten wir sein Verbleiben im Amt trotz dieser außergewöhnlichen Situation für richtig. Weil wir nicht bereit sind zu akzeptieren, dass die politische Debatte durch Machtspielchen ersetzt wird, werden wir uns Ihrem Ansinnen geschlossen entgegenstellen. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Vielen Dank, Herr Kollege Liebich! – Der Kollege Ratzmann hat um Kurzintervention gebeten und erhält das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Liebich! Was ich Ihrer Rede genauso wenig wie der Rede des Kollegen Müller entnehmen konnte, ist die Antwort auf die Frage, wie Sie sich die weitere Gestaltung des Konsolidierungskurses unter dieser personellen Situation vorstellen.

[Eßer (Grüne): Gar nicht! – Unruhe!]

Das einzige, was Sie tun – Herr Müller in einer noch ganz anderen Art und Weise –, ist, mit Nebelkerzen zu werfen.