Protocol of the Session on September 23, 2004

Nun ist das Einreichen der Anklage gegen einen Senator eine ernste Sache, und dem muss man sich stellen, und das tut selbstverständlich auch die Koalition.

[Dr. Lindner (FDP): Ach, doch!]

Die Frage ist doch, ob die Handlungsfähigkeit und die Autorität des Finanzsenators eingeschränkt sind und ob diese Anklageerhebung tatsächlich mit anderen Fällen vergleichbar ist. Zum ersten Punkt sage ich: Da soll sich niemand falsche Hoffnungen machen. Um die Autorität von Thilo Sarrazin ist mir nicht bange. Dieser Finanzsenator hat mehrfach bewiesen, dass er in schwierigen Situationen und unter Druck voll handlungsfähig und durchsetzungsfähig ist, und das wird er auch bleiben.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Zum zweiten Punkt: Ich glaube nicht, dass es einen vergleichbaren Fall gibt, aus dem man für den jetzigen in Berlin einen Rücktritt ableiten könnte. Denn es handelt sich bei den Fällen, die in den letzten Tagen und Wochen auch in den Medien genannt wurden, durchweg um Vorgänge, die im Zusammenhang mit persönlicher Bereicherung, mit Eigennutz oder mit Begünstigung von Verwandten, Freunden oder einer Partei standen.

[Wellmann (CDU): Sie haben doch Parteispenden bekommen!]

Oder es ging darum, dass ein Minister die Verantwortung für eindeutiges Fehlverhalten seiner Mitarbeiter übernommen hat. All dies ist Thilo Sarrazin von niemand vorzuwerfen. Hier geht es um etwas völlig anderes: Das Tempodrom zu erhalten, zu stabilisieren und möglichst eine Insolvenz zu vermeiden, um mit einer finanziellen Unterstützung aus dem laufenden Spielbetrieb heraus Möglichkeiten zu haben, die Haftung des Landes zu begrenzen, darum ging es Thilo Sarrazin. Ich habe in keinem Kommentar und in keiner Stellungnahme irgend etwas gehört oder gelesen, das Sarrazins Motiv, Schaden vom Land abzuwenden, in Abrede gestellt hätte.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Wir sind uns bewusst, dass für Politiker, für Amtsträger und vor allem für Mitglieder einer Regierung strenge Maßstäbe gelten. Wir sind der Meinung, denen wird Thilo Sarrazin voll gerecht, und seine persönliche Integrität ist gänzlich unbestritten. Mit Thilo Sarrazin haben wir einen voll handlungsfähigen und beinharten Verfechter eines Konsolidierungskurses, der wichtig für die Stadt und im Übrigen weit über Berlin hinaus anerkannt ist. Wir haben auch viele wichtige finanzpolitische Weichenstellungen gemeinsam zu verfolgen wie z. B. noch die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.

Es stimmt: Thilo Sarrazin ist oft unbequem – für Berlin, für einige Berlinerinnen und Berliner, mitunter auch für die SPD und mit Sicherheit erst recht für die Opposition. Aber Thilo Sarrazin ist auch gut für Berlin und für unsere Finanzen. Deshalb freuen wir uns auf eine weitere, lange Zusammenarbeit mit ihm. – Vielen Dank!

[Lang anhaltender Beifall bei der SPD und der PDS]

[Borgis (CDU): Sie müssten mal auf Herrn Dr. Zotl sehen! – Wansner (CDU): Der Vorsitzende ist doch parteiisch! – Weitere Zurufe]

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP – Oh! von der SPD – Zurufe von der SPD und der PDS]

[Beifall bei den Grünen – Buchholz (SPD): Das ist ein falscher Vergleich! – Weitere Zurufe von der SPD]

Thilo Sarrazin hat sich viele Verdienste erworben. Er hat Unangenehmes gesagt, er hat auch Unangemessenes gesagt, und er hat viel bis dato Unausgesprochenes gesagt. Das war gut für die Stadt, und das hat ihm nicht nur Freunde eingebracht – insbesondere in den eigenen Reihen. Es ist offensichtlich, dass die SPD ihre Solidaritätsbekundungen nur noch mit zusammengebissenen Zähnen in den Raum zischt. Sie wäre ihn lieber heute als morgen los – diesen finanzpolitischen Rambo, der nur schwerlich in wahlarithmetischen Kurven denkt und der gern sagen würde, wie es 2006 weitergehen soll und was noch an Unliebsamem auf uns zukommt. Und ausgerechnet die PDS, die in letzter Zeit so viel über Gerechtigkeit schwadroniert hat, wirft sich nun selbstlos vor ihn. Eine politische Posse, wäre es nicht so tragisch!

[Zurufe der Abgn. Doering (PDS) und Klemm (PDS)]

Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin hat nach heftiger und zum Teil öffentlich geführter Diskussion und gegen den Druck der eigenen Senatsverwaltung

Sie haben, Herr Sarrazin, der Stadt viel zugemutet. Sie haben viel in Frage gestellt. Sie haben auch viel verlangt, beispielsweise von den Eltern ihren Beitrag zu den Betreuungskosten, von den Bedürftigen den Verzicht auf staatliche Unterstützung, von den Beschäftigten im öffentlichen Dienst den Verzicht auf Einkommen. Sie verlangen mehr und bessere Arbeit. Es soll Schluss sein mit Anspruchsdenken und Versorgungsmentalität. Das Alles haben Sie, hat der Regierende Bürgermeister, Mentalitätswechsel genannt. Aber das soll augenscheinlich nicht für Sie gelten.

Sie haben dieses Prinzip in den oberen Einkommensetagen nicht angewandt, dort, wo es für Sie unangenehm würde. Sie haben es auch nicht angewandt bei den Leib- und Magenprojekten Ihres Senatskollegen Strieder. Da haben Sie nicht nachgefragt. Sie haben nicht aufgeräumt mit den lieb gewordenen Bedienmentalitäten in den Chefetagen. Sie haben nicht aufgeräumt mit der Old-BoysNetwork in Berlin, die Berlin im Griff hat, die Berlin bestimmt ohne Wahl und parlamentarische Kontrolle und anscheinend mit Zustimmung der PDS.

für Justiz Anklage gegen Dr. Thilo Sarrazin erhoben – Anklage gegen einen der höchsten Repräsentanten des Landes Berlin, gegen den Mann, der mit seinen Entscheidungen wie kaum ein anderer die Zukunftsfähigkeit dieser Stadt bestimmt und bestimmen wird, der für uns mit 15 Bundesländern und dem Bund verhandeln soll, damit sie uns Milliarden an Solidaritätszahlungen anvertrauen.

Allein die Anklageerhebung führt oder führte bislang – so muss man wohl nun sagen – in der Bundesrepublik und auch in Berlin mit wenigen Ausnahmen wie selbstverständlich dazu, dass das Amt zur Verfügung gestellt wird, weil Schaden von ihm abgewendet werden soll, da die Integrität des Amtsinhabers durch einen staatlich legitimierten Akt in Frage gestellt wird. Es ist allein aus diesem Grund, werter Herr Müller, mehr als legitim, die Frage zu stellen, wie es weitergehen soll.

Wissen Sie, dass bisher wohl nur Herr Schill derjenige war, der ein Ermittlungsverfahren und sogar ein Hauptverfahren ignoriert hat? Ist das die Kategorie, in die sich Herr Sarrazin jetzt einordnen lassen will? Wollen Sie warten, bis das Verfahren eröffnet ist, oder warten Sie sogar die Rechtskraft des Urteils ab?

[Liebich (PDS): Das ist ein absurder Vergleich!]

Wir wollen wissen – und das hätten wir gern von Ihnen gehört, Herr Müller –, wann für Sie, für Ihre Fraktion der Zeitpunkt gekommen ist, an dem Konsequenzen zu ziehen sind. Wir wollen vom Senat wissen, wie die Konsolidierung der Stadt weitergehen soll. Sie nehmen den Vorwurf, der erhoben worden ist, einfach so hin; wir tun es nicht!

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Herr Müller, Sie haben völlig Recht: Es ist eine politische Diskussion, die zu führen ist. Es ist nicht in erster Linie der Akt der Anklageerhebung, der uns hier berechtigt, legitimerweise den Rücktritt zu fordern. Das unterscheidet uns in unserer Argumentation auch ein Stück von der CDU. Gegen Sie, Herr Sarrazin, wird – das ist doch das Entscheidende für uns, weil wir den Vorgang politisch bewerten müssen und weil natürlich die Staatsanwaltschaft nicht die Handlungsfähigkeit von Politik bestimmen kann und nicht darf – der Vorwurf der Untreue erhoben, weil Sie als oberster Haushälter, als Hüter der knappen Staatsfinanzen versucht haben zu tricksen. Sie haben versucht, ohne Ermächtigung durch den Haushalt, ohne Zustimmung des Senats und gezielt am Parlament vorbei, Gelder an ein Prestigeprojekt eines Parteifreundes zu schieben. Das ist offenbar geworden. Das ist der politische Vorwurf. Deshalb sind Sie nicht mehr tragbar. Deshalb ist Ihre Integrität in Frage gestellt, die Sie brauchten, um das durchzusetzen, was notwendig wäre. Deshalb sind Sie politisch angeschlagen und müssen gehen.

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Es ist politisch richtig, die Frage eines Rücktritts aufzuwerfen, weil der Sozialabbau, Herr Sarrazin, den Sie betreiben, auch immer die Frage nach Gerechtigkeit und gleicher Behandlung aufwirft.

[Liebich (PDS): Da sind die Grünen die Richtigen!]

[Liebich (PDS): Was ist mit der Steuerreform? Wer hat sie beschlossen? Was ist mit der Absenkung des Spitzensteuersatzes? Was ist mit der Absenkung der Arbeitslosenhilfe?]

Das Gegenteil ist der Fall, Herr Sarrazin! Sie haben mitgespielt. Sie haben – so unbeanstandet die Berichterstattung im „Spiegel“ – bei Frau Krajewski zunächst nachgesucht, BVG-Chef werden zu dürfen. Sie haben sich alsbald in den erlauchten Kreis der SPD-Spendenpartys begeben, haben gespendet und sind dann Senator geworden. Sie haben zugelassen, dass immer wieder dieselbe Beratungsfirma, die lukrativen, millionenschweren Aufträge erhält, obwohl sie teurer ist als alle anderen, ohne den Nachweis höherer Qualität, weil alte SPDVerbindungen bestehen, weil das System, das früher SPD und CDU gemeinsam bedient haben, nunmehr von der SPD allein bedient wird.

Sie haben das Berliner System gespielt. Sie sind erwischt worden. Jetzt reklamieren Sie allen Ernstes für sich den politischen Gnadenerweis, das Augen-zu, die Absolution? – Herr Sarrazin, das geht nicht. Das geht gerade in Berlin nicht. Da müssen Sie sich schon an Ihren eigenen Maßstäben messen lassen.

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Wir haben politisch nüchtern zu beurteilen, ob es in dieser Stadt möglich ist, ob wir uns einen Finanzsenator leisten können, der mit diesem Vorwurf der Untreue belegt ist. Es geht um diesen Vorwurf und nicht um irgendeinen. Dieser politischen Frage müssen sich alle stellen.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Ratzmann! Ich hatte es mir fest vorgenommen, und ich bleibe auch dabei: Ich will heute einmal

mit dem Ritual brechen, dass man jeweils seinem Vorredner vorwirft, dass er nicht das gesagt hat, was man eigentlich erwartet hat. Also werde ich dazu einfach gar nichts sagen und mich der Frage widmen, über die wir heute reden, ob ein unter Anklage stehender Senator im Amt bleiben darf. Wir nehmen als PDS-Fraktion diese Frage sehr ernst. Ich halte es auch für legitim, dies in Frage zu stellen.

Die Debatte in den Medien dazu ist bisher ausgesprochen sachlich und fair verlaufen. Pro und Contra sind ausgetauscht worden. Wir haben auch in der Fraktion sehr intensiv über die Frage diskutiert und abgewogen, ob man Thilo Sarrazin in dieser außergewöhnlichen Situation unterstützen soll oder nicht. – Herr Goetze, wir hatten gar nicht vor, das Thema heute auszusitzen. Das wussten Sie auch. Wir haben gesagt, dass wir dieser Aktuellen Stunde selbstverständlich sehr gern folgen werden, weil wir heute über dieses Thema diskutieren wollen. Deshalb hätten Sie sich Ihre Fensterrede vorhin sparen können.

Die PDS plädiert aus zwei Gründen dafür, dass der Finanzsenator trotz der Anklage der Staatsanwaltschaft im Amt bleibt. Herr Zimmer, da müssen wir uns schon mit dem Sachverhalt befassen. Sie haben das vorher nicht so intensiv gemacht. Ich finde aber, dass wir uns den Sachverhalt, um den es geht, ganz genau anschauen sollten. Es ist nicht ein Fall wie jeder andere; es handelt sich hier um einen Präzedenzfall. Normalerweise ist es so: In einem Verfahren soll dem Angeklagten ein bestimmtes Verhalten nachgewiesen werden, durch das er sich strafbar gemacht hat. Dabei ist klar, dass der Angeklagte schuldig gesprochen wird, wenn erwiesen wird, dass sich der Angeklagte so verhalten hat wie die Staatsanwaltschaft behauptet.

Die müssen alle beantworten, die Regierungsfraktionen genauso wie die Opposition. Wir haben sie für uns beantwortet: Herr Sarrazin ist als Finanzsenator nicht mehr tragbar!

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Bei der Beantwortung dieser Frage, lieber Herr Müller, kommt es nicht darauf an, aus welchen Motiven heraus Herr Sarrazin gehandelt hat, ob er Schaden abwenden wollte. Das wird eventuell im Rahmen einer Strafzumessung durch das Gericht zu berücksichtigen sein. Es kommt auch nicht darauf an, dass er zeitlich – wie es vielfach auch in der Presse diskutiert worden war – als Letzter in der Kette derer spielt, die das System eingefädelt haben. Er hat sich nicht selbst bereichert. Das ist richtig. Er hat auch den Deal nicht eingefädelt. Auch das ist richtig. Aber er hat einen Beitrag zu diesem Deal geleistet, auf den es ankommt und ohne den das Ganze nicht funktioniert hätte. Das ist die richtige Grundlage für die Betrachtung. Es ist richtig, dass die Staatsanwaltschaft juristisches Neuland betritt, aber nicht, weil das Problem bisher unbekannt war oder sich niemand mit diesem Problem auseinandergesetzt hat oder es gar noch nicht erforscht ist. Sie betritt Neuland, weil sich bisher niemand an einen solchen Fall gewagt hat.

Die höchstrichterliche Klärung wäre natürlich wünschenswert, wenn sie denn vor dem Landgericht vonstatten ginge bis hin zum BGH. Aber dafür muss Herr Sarrazin nicht im Amt bleiben.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Liebich (PDS): Genau! Er tritt erst einmal zurück, und dann stellen wir fest, dass er unschuldig ist!]

Er kann sich auch nicht damit entschuldigen, so wie Sie es eben wieder versucht haben, Herr Müller, dass er meint, die Ausübung des Amtes eines Finanzsenators wäre so etwas wie eine gefahrgeneigte Arbeit, bei der man ohnehin schon allenthalben mit einem Bein im Knast steht. Jeder, der mit öffentlichen Gelder umgeht, weiß, dass die Ermächtigung zur Herausgabe eines solchen Geldes im Haushalt besteht. Das weiß ganz besonders Herr Thilo Sarrazin. Er weiß um das Haushaltsrecht und seine Beschränkungen. Er wollte daran vorbei. Er wollte seinem Amigo Strieder einen Gefallen tun. Das ist das Verwerfliche. Das ist herausgekommen. Dafür hat er die Verantwortung zu tragen. – Vielen Dank!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU und bei der FDP]

Danke schön, Herr Kollege Ratzmann! – Es folgt die PDS. Das Wort hat der Kollege Liebich. – Bitte schön!

[Pewestorff (PDS): Wieland kommt wieder!]

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]