Protocol of the Session on September 9, 2004

[Doering (PDS): Das geht mir genau so!]

Das ist ein typisches Berliner Missverständnis. „Personennahverkehr“ ist nicht nur die BVG, sondern das sind selbstverständlich auch S-Bahn GmbH, Regionalbahn der Deutschen Bahn, Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg und nicht zuletzt die vielen privaten Busunternehmer.

[Zuruf von der CDU: Taxis!]

Sie alle gestalten die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs in Berlin mit und müssen deshalb auch Gegenstand der heutigen Debatte sein.

Zu den Tarifen gehört auch Tarifehrlichkeit. Heute werden 98,7 % aller Fahrgäste nicht kontrolliert. Es darf nicht sein, dass Schwarzfahrer auf Kosten der ehrlichen Fahrgäste unterwegs sind. Die Wiedereinführung des Vordereinstiegs beim Bus ist eine erste richtige Maßnahme. Sie hat 10 % Mehreinnahmen gebracht. Die Kontrollen in den Bahnen müssen – allerdings mit kompetentem Personal – intensiviert werden. Ein Blick nach Paris, London und New York genügt: Keine Metropole dieser Welt leistet sich ein offenes System, in dem jeder ohne Fahrschein einen Zug betreten kann. Überall sind moderne Zugangssysteme üblich. Von anderen Metropolen lernen, heißt in diesem Fall, Geld sparen lernen.

Bedrohlich ist inzwischen der Grad der Verschmutzung und Zerstörung der öffentlichen Verkehrsmittel. Millionenbeträge müssen jährlich aufgewandt werden, um die Folgen von Graffiti und Scratching zu beseitigen. Teilweise sind Züge im Netz unterwegs, bei denen es keine unzerkratzte Scheibe mehr gibt und der Blick nach draußen fast unmöglich ist. Vandalismus ist kein Kavaliersdelikt. Er belastet jeden Fahrgast und Steuerzahler direkt und schreckt potentielle Fahrgäste ab. Deshalb brauchen wir endlich Kameraüberwachung in Bahnhöfen, Zügen und Bussen.

Wer über die Zukunft des ÖPNV reden will, darf die Vergangenheit nicht aus dem Auge verlieren. Die Vergangenheit bestand in einem geteilten Verkehrsnetz, einem riesigen Investitionsstau im Ostteil der Stadt, sowie enormen Betriebsdefiziten im Westen, einem Verkehrskombinat und einem Eigenbetrieb, die sich jeweils wenig um die Wünsche ihrer Kunden scherten – die sie bezeichnenderweise „Beförderungsfälle“ nannten. Dass dies alles der Vergangenheit angehört, ist ein großes Verdienst der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von BVG und S-Bahn, die manch persönliches Opfer gebracht, aber immer mit Engagement die Veränderungen gemeistert haben. Dafür gebührt Ihnen unser aller Dank.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Auch das gehört zur Geschichte: Das Zusammenfügen der Netze, die rechtliche Zusammenführung von BVB und BVG und die Rechtsformänderung in eine Anstalt des öffentlichen Rechts sind auch eine große Leistung der großen Koalition vorangegangener Wahlperioden. Das scheue ich mich nicht zu sagen: Ich bin stolz auf die politische Aufbauleistung dieser Jahre.

[Beifall bei der CDU]

Die Gegenwart sieht so aus: Wir haben ein öffentliches Verkehrsnetz, um das uns andere Städte in Deutschland und der Welt beneiden. Wenn man mit Besuchern und Neubürgern dieser Stadt redet, ist bei aller Kritik immer ein Lob dabei: Die öffentlichen Verkehrsverbindungen in Berlin sind so gut, da braucht man gar kein Auto. – Ein Angebot, das weder München noch Hamburg in gleicher Intensität und Dichte bieten, kurz, das System des öffentlichen Nahverkehrs ist ein positiver Standortfaktor für Berlin.

Nun wären wir nicht in Berlin, wenn es nicht doch etwas zu meckern gäbe. In der Tat sind Entwicklungen zu verzeichnen, die bedrohlich sind. Die Fahrpreise steigen kontinuierlich. Vom 20-Pfennig-Fahrschein der BVB – den wir uns nicht zurück wünschen – sind wir inzwischen beim 2-Euro-Ticket angelangt. In einer Stadt, die mittlerweile in Bezirken wie Friedrichshain-Kreuzberg oder Neukölln Armut in weiten Bevölkerungsschichten kennt, sind das sehr hohe Preise. Der Vergleich mit Frankfurt oder München hilft da nicht weiter. Von dem Durchschnittseinkommen der Münchner können viele Berliner nur träumen. Mit der Preisschraube muss endlich Schluss sein. Das Tarifsystem muss weiter vereinfacht und attraktiver gemacht werden. Gelegenheitsfahrgästen soll es einfach gemacht werden, den ÖPNV zu nutzen.

Das 10-Uhr-Ticket ist ein gutes Beispiel für eine intelligente Tarifinnovation, die der Verkehrsverbund BerlinBrandenburg erfreulicherweise in mühseliger Kleinarbeit den Verkehrsunternehmen schmackhaft gemacht hat.

[Beifall bei der CDU]

Wer nicht frühmorgens unterwegs sein muss, kann mit dieser Karte Geld sparen. Das ist insbesondere für viele

Seniorinnen und Senioren ein faires Angebot. Über den Preis müssen wir allerdings noch einmal nachdenken. Wir wollen, dass auch die älteren Mitbürger der Stadt an der mobilen Gesellschaft teilnehmen können.

[Beifall bei der CDU]

Und wir brauchen eine klare rechtliche Regelung für die Verfolgung von Graffiti, die auf Bundesebene immer noch blockiert wird. Zudem brauchen wir eine Kultur der Zivilcourage und des Nicht-Wegschauens in Bussen und Bahnen.

Nicht nur deshalb, sondern auch zur Verhinderung anderer Kriminalität brauchen wir Personal auf allen Schnellbahnhöfen. Die BVG ist mit personalfreien Bahnhöfen den falschen Weg gegangen. Die Folgen sind ein erhöhtes Unsicherheitsgefühl der Fahrgäste, mehr Verschmutzungen und Verstörungen. Die fliegenden Bahnhofsteams sind immer da, wo man sie nicht braucht. An Brennpunkten ist der Fahrgast auf sich allein gestellt. Dass der Senat hier nicht auf die Einhaltung eines klaren Abgeordnetenhausbeschlusses drängt, der Personal auf den Bahnhöfen verlangt, ist vollkommen unverständlich. Noch unverständlicher ist, dass der Senat in den Verhandlungen über den S-Bahnvertrag nicht auf personalbesetzten Bahnhöfen bestanden hat. Im Gegenteil: Jetzt geht auch die S-Bahn diesen Irrweg. Und das, obwohl die Brandkatastrophe am Anhalter Bahnhof deutlich gezeigt hat, wie wichtig ausgebildetes Personal auf den Bahnhöfen für die Sicherheit der Fahrgäste ist. Menschen wollen von Menschen informiert, bedient und betreut werden und nicht von Automaten. Lassen Sie uns den Teufelskreis des Abbaus von kundenorientiertem Personal bei den Verkehrsbetrieben endlich durchbrechen!

Der Anteil der Privaten am Gesamtverkehr muss gesteigert werden, und zwar zu fairen Konditionen. Sie sollten

künftig nicht mehr Subunternehmer der BVG, sondern Konzessionsträger sein.

Die Berliner S-Bahn hat in den vergangenen Jahren viel Auf- und Ausbauarbeit geleistet. Sie hat nun einen Monopolvertrag über 15 Jahre bekommen. Ob es, verehrte Verkehrssenatorin, intelligent war, diesen Vertrag zu unterzeichnen, obwohl ihn die EU-Kommission beanstandet und als europarechtswidrig bezeichnet hat, wage ich zu bezweifeln. Strafzahlungen an die EU wegen rechtswidrigen Verhaltens sind keine leere Drohung. Jetzt Bundesmittel einzusparen, die man für den Bahnverkehr bekommt, ist letztlich ein zweischneidiges Schwert. Es wird sich rächen, wenn auf Bundesebene über die Regionalisierungsmittel verhandelt wird. Spätestens dann werden diese Mittel wieder abgezogen und Berlin nicht mehr zur Verfügung gestellt.

Die wirtschaftliche Situation der BVG ist Besorgnis erregend. Für den großen Berliner Verkehrsbetrieb ist es 5 vor 12. Die Europäische Union hat das Reservat der kommunalen Monopole gebrochen. In Zukunft wird auch im Nahverkehrsmarkt Wettbewerb herrschen. Trotz aller bisherigen Sanierungsanstrengungen, die auch wir hier nicht klein reden wollen – Abbau des Personals und Steigerung der Produktivität –, ist die Zwischenbilanz ernüchternd. Seit Ostern sind die Verhandlungen über den dringend notwendigen Spartentarifvertrag unterbrochen. Erst jetzt werden sie wieder aufgenommen. Konzeptionen zur Sanierung liegen auf dem Tisch. Wir haben an dieser Stelle kein Erkenntnisdefizit mehr, sondern ein dringendes Umsetzungsdefizit. Deswegen fordern wir einen breiten Konsens unter Einbeziehung von Geschäftsführung, Aufsichtsrat, Politik und Personalvertretung. Das halbe Jahr Stillstand hat BVG und Land bares Geld gekostet, und bisher bekommen wir als Konzeptionen des Senats immer nur Kopien der Vorlagen des BVG-Vorstands.

Nicht erträglich sind aber auch Versuche, Verkehrsunternehmen für Fehler der Politik in Haftung zu nehmen. Der peinliche Streit um das Sozialticket ist das jüngste Beispiel dafür: Der Senat streicht leichter Hand die Mittel für die Sozialkarte und wundert sich über das negative Echo. In der Tat ist es nicht nur unsozial, sondern auch kurzsichtig, ausgerechnet bei den ärmsten Bevölkerungsschichten den Rotstift anzusetzen.

[Beifall bei der CDU]

Noch dazu, wo anschließend die Sozialämter gezwungen sind, sich in Einzelentscheidungen mit hohen Verwaltungskosten mit Fahrscheinwünschen auseinander zu setzen. Es wird nicht wirklich gespart, viele arme Menschen werden verschreckt, und zusätzliche Bürokratie wird geschaffen – das ist die Bilanz dieser Maßnahme.

Anstatt nun mit verringerter Summe das Sozialticket wieder aufzunehmen, versucht die PDS-Sozialsenatorin, uns und der BVG einzureden, dass die BVG ein solches Ticket von sich aus anbieten würde, ganz ohne Ausgleich. Dass es auch eine S-Bahn gibt, hat man im Senat leider vergessen. Man bringt das wahrhaft schlagende Argument, die bekämen ohnehin schon so viel Geld vom Land, dass es darauf nicht ankomme. Aber, meine Damen und Herren von der Mehrheit hier im Haus, genau darauf kommt es an! Politisch gewollte Ermäßigungen müssen auch politisch entschieden und aus dem Landeshaushalt ausgeglichen werden. Zahlen muss in jedem Fall jemand. Wenn das Chaosmodell der Sozialsenatorin greifen würde, müsste allein der Fahrgast der BVG einen sozialpolitischen Auftrag des Landes bezahlen. Das ist weder gerecht noch sinnvoll.

[Beifall bei der CDU]

Kommen wir zur Situation der einzelnen Unternehmen im Berliner ÖPNV. Die privaten Busunternehmen fahren heute schon zusammen mit der BVG-Tochter „Berlin Transport“ etwa 30 % der Leistungen. Die BVG und das Land könnten hier viel Geld sparen, wenn dieser Anteil erhöht würde, denn die Privaten sind deutlich billiger als die BVG. Und auch hier arbeiten Menschen, die ihre Familien ernähren müssen. Deshalb ist es völlig indiskutabel, dass die BVG Leistungen bei der „Berlin Transport“ abbestellt, obwohl sie dort günstiger sind, und daraufhin Bus- und Straßenbahnfahrer auf die Straße gesetzt werden. Deshalb ist es genauso unvertretbar, dass die BVG mit einer dilettantischen Ausschreibung und Knebelverträgen private Busunternehmen unter Druck setzt und zu Dingen zwingen will, die die BVG bei sich niemals akzeptieren würde und die kaufmännisch widersinnig sind. Die Folge: Private kommen in finanzielle Schwierigkeiten, Investitionen in neue Fahrzeuge unterbleiben, Arbeitnehmer verlieren ihre Jobs, ganze Familien verlieren ihre Existenzgrundlage. Das kann und darf nicht die Geschäftspolitik eines städtischen Unternehmens sein.

[Beifall bei der CDU]

So geht es nicht weiter. Die BGV braucht jetzt Vertrauen in die Berechenbarkeit von Politik und Vorstand und in die Seriosität von Zusagen des Eigentümers und der Geschäftsleitung. Nur dann werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereit sein, weitere Opfer auf sich zu nehmen.

Deshalb sage ich für die CDU-Fraktion: Wir wollen keine Zerschlagung oder Auflösung der BVG. Wir wollen auch keinen Megamonopolisten aus Bahn und BVG. Wir wollen einen leistungsfähigen Verkehrsbetrieb, der Strukturen und Kosten hat, die mit denen von Privatunternehmen vergleichbar sind. Wir wollen eine BVG, die von politischen Lasten und Sonderregelungen des öffentlichen Dienstes befreit ist. Wir wollen eine BVG, die langfristig attraktiv für private Beteiligungen ist und die sich im Wettbewerb behaupten kann.

[Beifall bei der CDU]

Auf diesem Weg werden wir die BVG konstruktiv begleichen. – Danke schön!

[Beifall bei der CDU]

Zum EU-Rechtsrahmen: Herr Ratzmann, ich habe viele Hobbys. Ein Hobby ist, dass ich mich seit Jahren bei verschiedenen Kolloquien, Symposien und Konferenzen über die Veränderung des EU-Rechtsrahmens herumtreibe. Ich habe dort noch nie jemanden von den Grünen gesehen. Ich habe dort viele Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte gesehen, die ein dickes Geschäft vermuten.

Danke schön! – Für die PDS-Fraktion hat Frau Abgeordnete Matuschek das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich frage mich immer mehr: Was ist eigentlich der Anlass dieser heutigen Aktuellen Stunde?

[Doering (PDS): Das habe ich mich auch schon gefragt!]

Der Anlass ist nicht das 80-jährige Bestehen der S-Bahn, das wir vor kurzem gefeiert haben, und auch nicht das 75jährige Bestehen, das Herr Gaebler schon angesprochen hat. Der Anlass ist, dass die grüne Fraktion eine Klausurtagung gemacht hat, auf der sie einen Beschluss gefasst hat. Für die Fraktion der Grünen macht es vielleicht etwas her, diesen hier vorzutragen, aber ein Anlass für eine Aktuelle Stunde ist das nicht.

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Warum habt ihr dann zugestimmt?]

Wir haben uns dennoch darauf geeinigt, und deshalb führen wir die Debatte. Ich hoffe nur, es ist nicht jedes Mal so, wenn die Fraktion der Grünen eine Klausur durchführt, dass wir anschließend eine Aktuelle Stunde dazu durchführen müssen.

Ich beginne mit dem Streit zum rechtlichen Rahmen der EU, der schon angeschnitten wurde. Mit einer einzigartigen emotionalen und sozialen Kälte verbindet sich hier die Partei der Besserverdienenden, nämlich die FDP, mit der Partei der Besser-Besserverdienenden, nämlich die Grünen, in ihrem neoliberalen Mainstream.

[Zurufe]

Wettbewerb erhält einen Heiligenschein. Bestehende, funktionierende Strukturen werden als Monopolstrukturen denunziert. Diese sollen zerschlagen werden. Das muntere Agieren von vielen kleinen Verkehrsunternehmen sei der Königsweg.

[Zurufe der Abgn. Ratzmann (Grüne) und Frau Senftleben (FDP)]

Mit blinder Besessenheit, die sich bei den Grünen offenbar aus einem Trauma jahrelanger vergeblicher Missionarstätigkeit speist, soll die Kompetenz funktionierender Verkehrssysteme kurz und klein geschlagen werden. Betriebliche Zusammenhänge spielen keine Rolle. Innovationsstimuli werden mit Kostendruck gleichgesetzt. Komplexe Zusammenhänge werden banalisiert. Verschwiegen wird, dass die vielen kleinen, ach so flexiblen und wettbewerbskonformen Unternehmen ihre angebliche Wettbewerbsfähigkeit dadurch durchsetzen, dass sie auf öffentliche Daseinsvorsorge verzichten, die Qualität des eingesetzten Personals herunterschrauben und so etwas Lächerliches wie Ausbildung lieber den Großen, den Öffentlichen überlassen.

[Zurufe von den Grünen]

Lohndumping wird bewusst in Kauf genommen. Arbeitsplatzabbau ist der Maßstab für wirtschaftliche Stärke. Das

wird hier propagiert. Das ist der entkleidete Inhalt dieser Konzeption. Da können Sie auch sagen, Sie hätten mit der FDP-Konzeption nichts zu tun. Es ist im Grunde genommen ein und dasselbe. Es geht um die Zerschlagung des öffentlichen Unternehmens BVG.

[Beifall bei der PDS – Zurufe der Abgn. Ratzmann (Grüne) und Frau Senftleben (FDP)]