Protocol of the Session on April 1, 2004

Das letzte Thema ist die Schleierfahndung. Sie wurde in Bayern erfunden und soll dazu dienen, verdachtsunabhängig bzw. lagebildabhängig im grenznahen Bereich Kontrollen durchzuführen, um die grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen. Die Anschläge am 11. März in Spanien, Herr Henkel, sind keine Rechtfertigung für beliebige sicherheitspolitische Forderungen.

[Beifall bei der SPD, der PDS und der FDP – Beifall des Abg. Wieland (Grüne)]

Terrorismusbekämpfung ist für uns ein wichtiges Thema, aber das ASOG sieht im § 21 Maßnahmen zur präventiven Terrorismusbekämpfung vor, und zwar in Form von Kontrollpunkten. Wir erweitern die Befugnisse des § 21 ASOG in der Form, dass mitgeführte Dinge in Augenschein genommen werden können, wie es bisher bei der Schleierfahndung vorgesehen war.

Die Schleierfahndung sieht in der Berliner Realität ganz anders aus. Sie wurde 1999 eingeführt und ist bis zum Jahr 2002 acht Mal durchgeführt worden. Ein Erfolg im Sinne dessen, wofür sie gedacht war, nämlich zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, war in keinem Fall feststellbar. Stattdessen gab es ein paar TiVs und ein paar FoFs.

[Gram (CDU): Kühne Behauptung!]

Das ist so. – Trunkenheit im Verkehr und Fahren ohne Führerschein. Diese Delikte haben wir mit Hilfe der Schleierfahndung aufgeklärt. Schönen Dank! Dafür hätten wir sie nicht gebraucht.

[Beifall bei der SPD und der PDS – Beifall des Abg. Ritzmann (FDP)]

Die Konsequenz ist klar: Dieser Senat ergreift beherzte Schritte zur Deregulierung. Eine Deregulierung ist an dieser Stelle erforderlich, denn wir haben eine Vorschrift, die ihren Zweck nicht erfüllt. Ich kann das auch einschlägiger formulieren und die Geschichte der Berliner Schleierfahndung in folgende Worte fassen – Herr Ritzmann kennt sie vielleicht schon –:

Grimmig mahnt der strenge Bayer: Keine Fahndung ohne Schleier! Nüchtern drob der Preuße spricht: Schleierfahndung taugt mir nicht!

Und er kommt zu diesem Schluss: dass man ab sie schaffen muss.

Danke schön!

[Beifall bei der SPD und der PDS – Beifall des Abg. von Lüdeke (FDP)]

Danke schön! – Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Ritzmann das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Wir nehmen am Gerangel um den größten Sheriffstern nicht teil. Herr Henkel, wenn Sie sagen, von Ihnen aus gesehen sei alles hier im Haus links, dann kann das auch daran liegen, dass rechts von Ihnen kein Platz mehr ist.

[Beifall bei der SPD, der PDS und den Grünen]

Ihre regelmäßige Thematisierung der Videoüberwachung artet in Langeweile aus. Ich versuche dennoch, mich dem Thema hinzugeben: Die Videoüberwachung, Herr Henkel, einzelner Objekte mit besonderer Gefährdung, beispielsweise die von Synagogen oder Botschaften, macht durchaus Sinn. Ein Anschlag auf so ein Gebäude kann an keiner beliebigen anderen Stelle gemacht werden, weil es nur eine gewisse Anzahl von in Frage kommenden Gebäuden gibt. Das ist genau der Unterschied zu Ihrem Ansatz, alle Plätze in Berlin mit einer erhöhten Kriminalitätsrate videoüberwachen zu lassen. Das kann nicht funktionieren. Nehmen wir z. B. die Londoner City: Sie ist flächendeckend videoüberwacht. Ihre These möchte ich jetzt hören, dass es dort keine Taschendiebe, keine Drogenkriminalität und auch sonst nichts mehr gibt.

[Zuruf des Abg. Dr. Steffel (CDU)]

Es gibt keine andauernden, nachhaltigen, relevanten Ergebnisse. Es gibt nur Verdrängung. Das ist doch auch logisch. Wenn wir anfingen, den Bahnhof Zoo videozuüberwachen,

[Zillich (PDS): Ist ja schon!]

das Umfeld, dann ließen sich die Kleinkriminellen, die das professionell betreiben, nicht zum Gärtner umschulen, sondern sie gingen zum Breitscheidplatz. Dann überwachen wir auch den Breitscheidplatz. Dann denken die: Dann gehen wir eben zum Ku’damm, weil auch da Hunderte und Tausende von Bürgern sind. – Dann überwachen wir eben den ganzen Ku’damm.

[Beifall der Abgn. Wansner (CDU) und Gram (CDU)]

Dann gehen die zum Wittenbergplatz, weil auch dort viele Menschen sind. Verstehen Sie das? – Das kann nur in einer kleinen Dorfgemeinde funktionieren, in der es nur einen Dorfplatz gibt, wo sich Menschen versammeln. Wenn ich den überwache, muss der Dieb, der das professionell betreibt, das Dorf verlassen, woanders hingehen. Da wir hier nicht im Dorf sind, obwohl man manchmal das Gefühl haben kann, kommt das für uns nicht in Frage.

[Beifall bei der FDP, der SPD, der PDS und den Grünen]

Es ist eine Verschwendung von Steuergeldern, weil die Maßnahme nutzlos ist. Und es ist ein verhältnismäßiger Eingriff in die Bürgerrechte. Deswegen lehnen wir es ab.

[Beifall der Abgn. Schmidt (FDP) und Frau Spranger (SPD)]

Die Anträge der Grünen für mehr Liberalität: Das ist ein gewagter Anspruch für eine Partei, die sich sonst durch die Gängelung der Bürger, durch mehr Verordnungen, mehr Bußgelder und Sondersteuern profiliert.

[Gelächter bei den Grünen – Zuruf des Abg. Wieland (Grüne)]

Aber diese Anträge – muss ich zugestehen – gehen in die richtige Richtung. Die Schleierfahndung, verdachtsunabhängige Kontrollen für grenzüberschreitende Kriminalität, das hat es bereits gegeben, und zwar im alten Preußen. Die Bürger in Berlin durften dann verdachtsunabhängig kontrolliert werden, wenn Berlin im Belagerungszustand war, wenn der Feind vor den Mauern stand, dann wurden hier die Rechte aufgehoben, die Unschuldsvermutung wurde umgedreht, jeder konnte kontrolliert werden. In Berlin haben wir es seit 1999 ohne Erfolg probiert. 2000/2001 wurden 7 500 Bürger in dieser Schleierfahndung kontrolliert. Es gab 60 Anzeigen. Der Kollege Dr. Felgentreu hat einige genannt, Trunkenheit am Steuer u. Ä. Aber nie hatte es etwas mit dem ursprünglichen Zweck, nämlich der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität zu tun. Es hatte auch nie im Entferntesten irgendwas mit Terrorismus zu tun. Der Zweck ist nicht erreicht worden.

Dann gab es auch aus der CDU Stimmen, das Sicherheitsgefühl wurde gesteigert, also, der regelmäßig kontrollierte Bürger fühlt sich sicher. Wenn wir das weiter spinnen, können wir demnächst von Ihnen den Antrag erwarten, dass es zu regelmäßigen Hausdurchsuchungen kommt, weil sich der Bürger sicher fühlt, wenn ihm die Polizei ab und zu in die Tasche greift und guckt, was da so los ist.

[Zuruf des Abg. Gram (CDU)]

Die Schleierfahndung macht keinen Sinn. Deswegen lehnen wir sie ab und stimmen der Abschaffung dieser Regelung zu.

[Zurufe von der CDU]

Nun hat der Innensenator vorhin über die Opposition gesagt, wir stänkerten bei allem: Alles, was der Senat mache, sei Mist. Hier hat der Senat die Initiative übernommen und selbst gesagt: Wir schaffen das Ganze ab. – Das finde ich schon bemerkenswert, dass in einer gesellschaftlich so schwierigen Situation auch Senator Körting und der Senat als Ganzes den Mut beweisen, hier nicht in Aktionismus weiter Grundrechte einzuschränken, sondern sich rational darauf besinnen, zu prüfen, was notwendig, sinnvoll und verhältnismäßig ist. Wenn das nicht erfüllt wird, dann wird es eben abgeschafft. Deswegen kriegen

Sie unsere Unterstützung. Und deswegen ist es richtig, die Schleierfahndung in der Form zu streichen.

Die Freiheit wird gegenwärtig von zwei Seiten in die Zange genommen, von Terroristen offensichtlich und von Politikern, die die Gunst der Stunde nutzen, aus alten Schubladen staubige Vorschläge zu machen. Die Bundeswehr zur Terroristenbekämpfung, der Leopard II vorm Bahnhof Zoo oder die Sicherungshaft bei bloßem Verdacht, wer so etwas vorschlägt, muss sich nach seinem Rechtsstaatsverständnis fragen lassen. Wir dürfen uns von Terroristen nicht dazu verleiten lassen, dass wir bei der Verteidigung der Freiheit sie selbst aufgeben. An dieser Aufgabe müssen wir uns alle messen lassen.

[Beifall bei der FDP und der PDS]

Danke schön! – Für die PDS-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Zillich das Wort.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben es hier mit zwei Beschlussempfehlungen zu tun, die aus dem Innenausschuss kommen, die das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz und das Berliner Polizeigesetz betreffen. Der erste Punkt, die Videoüberwachung, der Running Gag der CDU, hier muss man wohl nicht weiter argumentieren. Wir haben uns in der Koalitionsvereinbarung verpflichtet, das auch umzusetzen, eine Videoüberwachung an besonders gefährdeten Objekten, z. B. zum Schutz von Synagogen, von jüdischen Friedhöfen. Da ist es sinnvoll. Das haben wir in sehr engen datenschutzrechtlichen Grenzen umgesetzt. Eine Videoüberwachung öffentlicher Plätze, die einen Verdrängungseffekt erzielt und obendrein sehr stark in die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern eingreift, dazu sagen wir Nein. Das wird sich auch nicht ändern. Hierzu haben wir uns verständigt.

Die zweite Beschlussempfehlung, die wir hier vorlegen, ist ein Paket von Änderungen des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes, wo die Koalition Änderungsanträge der Opposition – zwei von den Grünen und einen von der CDU – aufgreift. Hier geht es insbesondere um drei Komplexe: Erstens um die Definition des Begriffs „Straftaten von erheblicher Bedeutung“, das ist ein relativ wichtiger Begriff, weil sehr starke Eingriffsbefugnisse der Polizei in die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern an diesen Begriff geknüpft sind, z. B. nachrichtendienstliche Befugnisse wie Observation, der Einsatz verdeckter Ermittler, akustische Wohnraumüberwachung. Hier hat die CDU beantragt, eine Generalklausel einzuführen, also relativ unbestimmt zu sagen: Wir vertrauen der Polizei, die diese Mittel schon dosiert und richtig einsetzen wird. – Wir haben als Koalition bereits vor einem Jahr gesagt: Wir wollen diese Generalklausel abschaffen. – Wir haben sie abgeschafft und durch einen Straftatenkatalog analog § 100 StPO ersetzt. Hier hat sich in der Debatte ergeben – insbesondere von der Polizei vorgetragen –, dass es den Bedarf gibt, insbesondere beim Kindesmissbrauch, aber auch bei der Hooligankriminalität und beim Rechtsextremismus, diesen Katalog zu überarbeiten. Wir haben ihn maßvoll überarbeitet, konkret ohne

die Wiedereinführung einer Generalklausel. Und wir haben dabei die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts beachtet, die es in seinem Lauschangriffsurteil gemacht hat, nämlich eine Definition von Straftaten von besonderer Schwere anhand der Strafbewehrung. Wir haben nur wenige Straftaten eingeführt, die auch diesem Kriterium des Bundesverfassungsgerichts entsprechen.

Zum Zweiten schränken wir die Rasterfahndung ein. Die Rasterfahndung ist ein Instrument, das zumindest für uns als PDS ein außerordentlich problematisches ist. Da sind wir uns mit dem Koalitionspartner nicht einig. Wir sind uns auch nicht ganz einig in der Beurteilung der Rasterfahndung, die in Berlin nach dem 11. September gelaufen ist. Das war schon ein etwas eigenartiges Verfahren. Was dort versucht wurde, gleicht eher einer Rahmen- als einer Rasterfahndung. Ein Raster war zum Teil nicht mehr zu erkennen wegen sehr unbestimmter Formulierungen, welche Daten übermittelt werden sollen. Wir sind uns aber mit dem Koalitionspartner einig, dass man daraus Konsequenzen ziehen muss, auch aus dieser Erfahrung. Wir haben diese Konsequenzen gezogen, zum ersten, indem wir gesagt haben, es muss genau bestimmbar sein, welche Daten denn erhoben werden sollen. Die Polizei kann nicht zu Universitäten gehen und sagen: Rückt uns alles rüber, was ihr habt. – Sondern es muss konkreter gesagt werden, um welche Daten es sich handeln soll. Wir haben zum Zweiten gesagt, ein Richter muss das anordnen. Gefahr im Verzug kann es hier nicht geben. Zum Dritten haben wir gesagt, der Datenschutzbeauftragte muss enger in dieses Verfahren eingebunden werden, und die Lösungsverpflichtung einmal erhobener Daten ist konkretisiert worden. Hier wird Rasterfahndung eingeschränkt.

Und wir schaffen die Schleierfahndung ab. Die Schleierfahndung ist ein Instrument, das sehr stark in das Vorfeld von Straftaten eingreift. Hier dürfen Bürgerinnen und Bürger angehalten, kontrolliert und durchsucht werden, ohne dass auch nur eine Gefahr vorliegt oder der Verdacht einer Straftat. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger werden unabhängig davon kontrolliert, wie sie sich verhalten. Das ist rechtsstaatlich ein sehr problematisches Instrument. Das fanden wir immer. Wir waren auch gegen die Einführung dieser Schleierfahndung. Deswegen begrüßen wir es, dass sie abgeschafft wird. Aber selbst wenn man in dieser Abwägung, in dieser grundsätzlichen Beurteilung dieses Instruments, zu der Auffassung gelangt, es ist trotzdem vielleicht ein sinnvolles oder es ist sinnvoll, Grundrechte an dieser Stelle einzuschränken, muss man – genau das haben wir hier gemacht – sich doch angucken: Wie wirkt es denn? Hat es denn überhaupt Sinn? – Und hier haben wir die Situation, dass die Schleierfahndung seit ihrer Einführung in Berlin – das ist schon gesagt worden – acht Mal angewandt wurde und nicht ein einziges Mal der mit der Anordnung verbundene Zweck, nämlich die vorbeugende Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität, tatsächlich erfüllt wurde. Da ist es nur zwingend zu sagen: Ein solches au

genscheinlich mindestens in Berlin sinnloses Instrument schaffen wir ab.

Das, was wir hier gemacht haben mit der Änderung des ASOG, was wir hier vorlegen, ist eigentlich selbstverständlich. Es sollte zumindest normal sein. Polizeiliche Instrumente müssen selbstverständlicher daraufhin überprüft werden, ob sie bürgerrechtlich vertretbar oder ob sie überhaupt geeignet sind. Aus dieser Überprüfung muss dann auch ein Schluss gezogen werden. Diesen Schluss haben wir hier gezogen. Das, was wir gemacht haben, ist aber leider keine Normalität. Es ist nicht einmal üblich, es ist die einsame Ausnahme. Herr Wieland konnte sich an kein Beispiel erinnern, dass solch einmal eingeführte polizeiliche Instrumente abgeschafft worden sind.

[Dr. Felgentreu (SPD): Beispielhaft!]

Herr Abgeordneter! Ihre Redezeit ist schon überschritten. – Ich bitte Sie um einen Schluss!

Ich komme zum Schluss. – Rot-Rot hat einen Mentalitätswechsel versprochen. Es hat auch einen Mentalitätswechsel hin zu einer liberaleren Politik im Bereich der inneren Sicherheit versprochen. Mit dieser Polizeigesetzänderung, mit der Abschaffung der Schleierfahndung und der Eingrenzung der Rasterfahndung wird die Ernsthaftigkeit dieses Mentalitätswechsels auf eine Weise bewiesen, wie sie in der Bundesrepublik einmalig ist. Ich darf sagen, dass ich über diese Polizeirechtsänderung, die wir hier machen, einigermaßen froh und auch stolz bin und freue mich auch, dass zwei Oppositionsfraktionen an diesem Punkt mitgehen. – Danke!

[Beifall bei der PDS – Beifall der Frau Abg. Seidel-Kalmutzki (SPD)]

Danke schön! – Für die Fraktion der Grünen hat der Herr Wieland das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Zillich! Der Mentalitätswechsel wurde uns seinerzeit vom Regierenden Bürgermeister allerdings in Fragen von Filz und Korruption versprochen.

[Zillich (PDS): Auch dafür!]