Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 21. Sitzung des Landtages Brandenburg und begrüße zunächst unsere Gäste vom Arbeits- und Ausbildungsverein Potsdam-Mittelmark e. V., Bad Belzig. Herzlich willkommen im Landtag Brandenburg!
Gibt es zur vorliegenden Tagesordnung Bemerkungen? - Wenn das nicht der Fall ist, bitte ich um Abstimmung über die Tagesordnung. Wer ihr folgen möchte, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Beides ist nicht der Fall. Dann verfahren wir nach dieser Tagesordnung.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Vor einem Jahr haben wir den 20. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert. Der Fall der Mauer war der Höhepunkt eines Prozesses, der uns allen die Freiheit brachte und von da an auf direktem Wege zur deutschen Einheit führte, auch wenn nicht jeder von uns das damals so gewollt hat, ich übrigens anfangs auch nicht.
In den Folgemonaten gab es eine beispiellose Entwicklung. Allein im Januar 1990 haben über 70 000 Menschen die DDR verlassen und sind in die alte Bundesrepublik gezogen. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Im März 1990 waren dann Volkskammerwahlen - die ersten und einzigen freien Volkskammerwahlen, die es in der DDR jemals gegeben hat. Und gewonnen haben diese Volkskammerwahlen diejenigen Parteien, die angekündigt hatten, sich in ihrer Programmatik, in ihrer Arbeit für die deutsche Einheit einzusetzen. Deshalb hatte die erste und einzige frei gewählte Volkskammer der DDR einen klaren Auftrag. Dieser Auftrag war die Herstellung der deutschen Einheit. Es musste auch schnell gehen. Die 70 000 DDR-Bürger, die den Staat hier verlassen hatten und in die alte Bundesrepublik gingen, waren ja nur ein Beispiel dafür.
So wurde der Weg bereitet, formal mit drei großen Verträgen: zunächst dem Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, der mit dem 1. Juli 1990 in Kraft trat, dann mit dem Einigungsvertrag und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag. Durch die deutsche Einheit haben Menschen gewonnen, und, ja, es haben auch Menschen verloren, vor allem an sozialem Status.
Es wurden im Zuge des Einigungsprozesses auch Fehler gemacht, auch das ist ohne Frage. Ein Blick auf die Regierungsbank genügt, übrigens alle 20 Jahre: auf die jetzige Regierungsbank, auf die Regierungsbank der Jahre der SPD/CDURegierung, auf die Regierungsbank der SPD-Alleinregierung und auch auf die Regierungsbank von Anfang der 90er Jahre, als das Land von einer Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen regiert wurde.
Oft vergessen wird, dass bei den Fehlern, die diskutiert wurden, auch Fehler aus der Volkskammer herausgekommen sind. Das Vermögensgesetz wird angeführt. Es wird vergessen, dass das Vermögensgesetz ein Gesetz der letzten frei gewählten Volkskammer der DDR war und über den Einigungsvertrag zu bundesdeutschem Recht geworden ist. Aber es gibt sehr viele Gewinner, sehr viele, die wirklich gutgemacht haben, denen es jetzt sehr viel besser geht und die viel gewonnen haben durch die deutsche Einheit.
Sie wissen, ich komme aus Teltow. Teltow ist ein Beispiel für die angekündigten blühenden Landschaften. Teltow ist nahe an der Vollbeschäftigung, dennoch gibt es auch in Teltow Leistungsempfänger. Aber auch für die Leistungsempfänger gilt: Sie haben im Regelfall die gleiche Wohnung wie damals, nur in wesentlich besserem Zustand, und leben auch wirtschaftlich besser.
Der Verlust des sozialen Status allerdings, des eigenen Wertgefühls, der ist bei vielen geblieben. Aber die wirtschaftliche Situation der DDR ließ nichts anderes zu. Ich erinnere daran, dass Franz-Josef Strauß mit Privatflugzeug in die DDR einfliegen durfte, weil er eine Milliarde im Gepäck hatte, die dringend gebraucht wurde, um überhaupt weitermachen zu können.
Ich erinnere auch daran, dass selbst das Land Brandenburg auch heute, 20 Jahre nach der deutschen Einheit - allein nicht lebensfähig ist, sondern dass von jedem Euro, den wir ausgeben, nur 47 Cent aus eigener Leistungskraft erzielt werden und 53 Cent von woanders kommen, aus anderen Bundesländern, von der Leistungsfähigkeit anderer. Deshalb ist der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, für uns alle Anlass zu Freude und Dankbarkeit.
Er ist Anlass zur Dankbarkeit für diejenigen im Osten, denen wir die Freiheit verdanken, gemischt auch mit der bitteren Erkenntnis für mich, selbst nicht dazuzugehören. Andere haben für die Freiheit gekämpft, die ich heute genieße.
Wir hatten gerade am vorigen Samstag ein Klassentreffen: 30 Jahre Abitur, Abiturjahrgang 1980 am Weinberg-Gymnasium in Kleinmachnow. Viele von uns waren da. Niemand hat verloren, alle sind gut in die deutsche Einheit hineingekommen, sind in Deutschland angekommen. Die anderen sind die Ausnahme, nicht diejenigen, die heute im neuen Deutschland angekommen sind.
Zur Dankbarkeit gehört auch Dankbarkeit gegenüber all denjenigen, die gerade in den ersten Jahren aus dem Westen zu uns gekommen sind und durch ihre Aufbauleistungen und ihre Hilfe dazu beigetragen haben, dass wir überhaupt diese neue Staatlichkeit, diese Fortschritte erreichen konnten, die wir heute haben. Unsere Dankbarkeit gilt auch all jenen in Ost und West, die einfach nur durch Zahlung ihres Solidaritätszuschlags dazu
beitragen, dass wir heute so leben können, wie wir leben, und dass unser Land Brandenburg leistungsfähig ist.
Wie der Jahrestag des Mauerfalls ist auch der Jahrestag der deutschen Einheit Anlass zur Freude. Auch wenn das nicht jeder so sieht, wenn manche hadern und wenn wir nicht jeden erreichen werden, so gilt eben doch: Der 3. Oktober 1990 war kein Tag, an dem über 60 Millionen böse Westdeutsche ein kleines Nachbarland genommen und dem großen Deutschland angeschlossen haben. Nein, es war der Tag, an dem 16 Millionen Ostdeutsche mit großer Mehrheit und aus freiem Willen über ihre frei gewählte Volkskammer die deutsche Einheit hergestellt haben.
Der Begriff des „Anschlusses“ weckt Erinnerungen an ein anderes Ereignis in der deutschen und auch in der österreichischen Geschichte, als ein von einer verbrecherischen Regierung geführtes Deutschland ein kleines Nachbarland, Österreich, an sich anschloss. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, Herr Ministerpräsident, dass Sie dieses Bild, diese Assoziationen im Kopf hatten, als Sie das Interview im „Spiegel“ so gegeben haben, wie Sie es gegeben haben.
Wir Freien Demokraten feiern den 20. Jahrestag der deutschen Einheit - so wie voriges Jahr den 20. Jahrestag des Mauerfalls mit Freude und Dankbarkeit. Wir haben diese Aktuelle Stunde auch beantragt, um uns allen eine Chance zu geben, eine Chance, falsche Begrifflichkeiten zurechtzurücken und mögliche Missverständnisse auszuräumen. Nutzen Sie diese Chance! Ich danke Ihnen.
Wir setzen die Debatte mit dem Beitrag der SPD-Fraktion fort. Es spricht der Abgeordnete Dr. Woidke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Begründung der heutigen Aktuellen Stunde führt die FDP an, der Ministerpräsident habe in einem Nachrichtenmagazin - ich zitiere - „vom 'Anschluss' der DDR an die Bundesrepublik“ gesprochen und damit die Vereinigung diskreditiert.
Ich bin zu DDR-Zeiten einige Jahre in Ostberlin unterwegs gewesen. Damals gab es einen Spruch, der hin und wieder an der Mauer stand: „BZ am Abend - erquickend und labend“. Und es gibt einen anderen Spruch: „SPIEGEL lesen - dabei gewesen“. So mag es nicht immer sein, aber, liebe Kollegen von der FDP, irgendwie scheint Ihnen bei dem Tohuwabohu der letzten Wochen der „Spiegel“ mit diesem Interview des Ministerpräsidenten doch abhandengekommen zu sein. Deshalb will ich Ihnen die entsprechende Passage noch einmal vortragen:
„Die Richtung stimmte: mehr Sicherheit, mehr Rechtsstaat. Es gab viel Geld aus dem Westen, für das wir dankbar sind, es gab viele Aufbauhelfer, die gute Arbeit geleistet haben. Aber an diesem Tag, dem Tag der Vereinigung, begann auch die gnadenlose Deindustrialisierung Ostdeutschlands. Arbeitslosigkeit zog in nahezu jede Familie ein. Mit diesem Tag des Beitritts verbinden viele von uns deshalb nicht nur gute Gefühle. Diese 'Anschlusshaltung'“
„ist verantwortlich für viele gesellschaftliche Verwerfungen nach 1990. Es fehlten selbst kleinste symbolische Gesten gen Osten - nicht mal der grüne Pfeil schaffte es ohne Debatte.“
Niemand hat von „Anschluss“ gesprochen. Alle Behauptungen, er habe einen historischen Vergleich sogar zum Anschluss Österreichs 1938 gezogen, sind also, meine sehr verehrten Damen und Herren, vollkommen absurd. Jeder, der so etwas sagt, hat das Interview entweder nicht gelesen oder er verdreht bewusst Tatsachen.
Was noch schlimmer ist: Ganz offensichtlich haben die Kollegen der FDP-Fraktion auch das Gespür für die Gedanken und Gefühle der Menschen im Land verloren. Denn was ich in den letzten Tagen immer wieder gehört habe, war der Satz: „Klar, so war es doch; klar, wir sind froh über die Einheit, aber wir haben seitdem auch eine Menge Sorgen gehabt.“
Niemand bezweifelt - und schon gar nicht der Ministerpräsident -, dass die Vereinigung Deutschlands ein großes Glück war. Jeder von uns ist doch froh, dass wir heute in Einheit und Freiheit leben können. Aber wir müssen eben auch zur Kenntnis nehmen, dass infolge der Vereinigung Fehler passiert sind. Viele hatten damit zu tun, dass es eben keine Blaupausen gab für das Zusammenwachsen zweier unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, und vieles hatte auch mit dem enormen Zeitdruck zu tun, der damals herrschte.
Wenn wir heute, 20 Jahre später, über den Vereinigungsprozess reden, müssen wir auch offen über solche Fehler reden können - ohne Schaum vor dem Mund und ohne ideologische Vorhaltungen.
Wir müssen uns schon fragen, auch gerade hier in Brandenburg, woran es denn liegen könnte, dass sich nur 25 % der Ostdeutschen als richtige Bundesbürger fühlen, wie eine Studie jüngst ermittelt hat. Ein Grund dafür ist, dass es 1990 im Westen eine nur sehr geringe Veränderungsbereitschaft gab, während sich im Osten fast alles geändert hat, vom Straßenbahnfahrschein bis zum Arbeitsplatz. Mehr als zwei Drittel der Ostdeutschen haben sich eine neue Beschäftigung suchen müssen, und nicht nur das; sie mussten häufig in andere, vollkommen fremde Berufe wechseln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mein Eindruck ist, dass die Opposition in diesem Hohen Hause im Moment nicht wirklich auf der Höhe der Zeit agiert. Sie scheint schlicht nicht zu wissen, wie selbst die damals beteiligten Personen über den Einigungsvertrag denken. Thomas de Maizière, wohlgemerkt ein Westdeutscher, der damals den Einigungsvertrag mit ausgehandelt hat, hat vor wenigen Tagen gesagt:
„Ich erinnere mich... an die Diskussionen um eine ganz grundsätzliche Frage. Lothar de Maizière hatte den Vorschlag gemacht, Auferstanden aus Ruinen, den (verbote- nen) Text... der bisherigen DDR-Nationalhymne, in eine gesamtdeutsche Nationalhymne (mit der Haydn-Kompo- sition) hinüberzuretten. Dies lehnte die West-Delegation ab. In den Archiven des Innenministeriums habe ich vor einigen Tagen einen Vermerk gefunden, der auf zwei Seiten ausführlich und ernsthaft erörtert, welche technischen, inhaltlichen, musikalischen und textlichen Einwendungen gegen das Singen des Becher-Textes auf die Haydn-Melodie sprechen könnten. Das Hauptargument war, dass Bechers Text ein Neunzeiler sei, während die Haydn-Melodie einen Achtzeilen-Text verlange. Vielleicht war aber dies nicht so sehr eine Frage solcher Einwendungen, sondern eher eine Frage der Änderungsbereitschaft (West). Heute wissen wir: Deutschland hätte von der DDR vielleicht nicht den Hymnen-Text, aber ruhig ein bisschen mehr übernehmen können als nur den grünen Pfeil und das Ampelmännchen.“
„Auch die nicht erfolgte Anerkennung der Bildungsabschlüsse... missachtete die Lebensleistung vieler DDRBürger.“
Selbst Wolfgang Schäuble und Lothar de Maizière waren skeptisch, ob es eine gute Idee war, das gesamte westdeutsche Rechtssystem sofort auf das Beitrittsgebiet zu übertragen.
Um nichts anderes, meine sehr verehrten Damen und Herren, ging es in dem Interview des Ministerpräsidenten, das er dem „Spiegel“ gegeben hat. Er hat darauf hingewiesen, dass viele Ostdeutsche den Eindruck hatten und manche auch noch haben, dass ihr gelebtes Leben wertlos geworden sei, dass viele Ostdeutsche denken, andere würden darüber bestimmen, ob sie gut oder schlecht gelebt hätten, dass ihr Leben und ihre Leistung nicht angemessen gewürdigt werden. Diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen ist wahrlich nichts Ehrenrühriges. Ich jedenfalls erlebe diese Stimmung leider sehr häufig, um ehrlich zu sein, viel zu häufig. Sie hat viel damit zu tun, dass es eben bei vielen Westdeutschen einen Mangel an Einfühlungsvermögen in Bezug auf das Leben der Ostdeutschen gegeben hat.
Meine verehrten Kollegen von der Opposition, ich habe leider den Eindruck, Sie versuchen nur noch Krawall zu machen, Krawall zu machen um des Krawalls willen. Sie versuchen Krach zu schlagen, wo intelligentes Nachdenken und - ich füge hinzu - einfach nochmaliges Nachlesen von kritisierten Passagen angebracht wären. Es hat also keine „historisch unhaltbaren Vergleiche“ gegeben, wie die FDP meint. Niemand hier im Saal zweifelt an unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Ministerpräsident sagt gern: „Zukunft braucht Herkunft.“ Genauso ist es. Wenn wir über die Zukunft reden, sollten wir uns aber auch unserer Vergangenheit bewusst sein und auch über Fehler reden, die wir oder andere in der Vergangenheit gemacht haben. Denn nur so können wir aus diesen Fehlern für die Zukunft lernen. Aber dann lassen Sie uns nicht immer nur zurückschauen, sondern auch über die Zukunft reden. Denn wir begehen nicht den
Die Ostdeutschen haben allen Grund, stolz zu sein: nicht nur auf die friedliche Revolution, sondern und vor allem auch auf die vergangenen 20 Jahre. Denn es war in den vergangenen zwei Jahrzenten wahrlich nicht einfach in Brandenburg oder in Ostdeutschland. Und wenn wir beim Thema Zukunft sind: Meine Fraktion hat in den vergangenen Tagen sehr intensiv darüber debattiert, wie es in Brandenburg weitergeht. Wir haben darüber diskutiert, wie wir die dritte Etappe des Aufbaus Ost gestalten können, wie es uns gelingen kann, mit weniger Geld und größerem regionalem Wettbewerb auch in Zukunft ein lebenswertes Brandenburg zu gestalten, ein Land mit Lebenschancen für alle.