Protocol of the Session on January 24, 2002

Letzten Endes ist die Lehrerschaft selbst für ihr Ansehen in der Gesellschaft verantwortlich. Die Politik ist jedoch gefordert, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

TIMSS und jetzt PISA haben uns gezeigt, dass es unbedingt notwendig ist, etwas zu tun. Ich hoffe, dass der Handlungsdruck so groß ist, dass auf diesem Gebiet Erfolge erzielt werden, damit der Turm Bildung in Deutschland eines Tages nicht doch noch kippt.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Ich danke Ihnen, Frau Abgeordnete Siebke. - Ich gebe das Wort an die Fraktion der PDS, an Frau Abgeordnete Große.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „PISA-Panik”, „PISAFiasko”, „Das Land der Dichter und Denker abgehängt”, „Deutsche Schulen auf der Kippe”, „Im Land der Auslese verkümmert die Seele des Lernens”, „Miserables Zeugnis für überholtes System”, „Das erwartete Ergebnis und doch ein Schock”, „PISA und kein Ende” - so und ähnlich titelten die Zeitungen in seltener Übereinstimmung seit Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-Studie Anfang Dezember 2001.

Die Debatte hat leicht hysterische, zumindest aber hyperaktive Züge angenommen und droht sich in ideologischen Grabenkämpfen und parteipolitischen Wahlschlachten zu verlieren. Scheinbar fertige Konzepte werden aus den Schubladen geholt, aktionistische Kampagnen finden statt. Bisher wird ausschließlich an Symptomen herumgedoktert. Das gilt leider auch für Brandenburg.

(Beifall bei der PDS)

Immerhin wird wieder über Bildung gesprochen. Wenn wir jetzt nicht erst einmal Luft holen, ehe wir mit einer tiefgründigen, schonungslosen Analyse beginnen und einen wirklich ehrlichen Vergleich mit Ländern, deren Schüler zu besseren Ergebnissen gekommen sind, ziehen, verschenken wir die Möglichkeit, PISA als Chance zu nutzen,

(Beifall bei der PDS)

als Chance für ein grundsätzliches Nachdenken, was nicht unbedingt meint, alles umzustoßen.

Wie also muss eine Lernwelt aussehen, die auf die Lebenswelt vorbereitet, ohne diese vorwegzunehmen? Die PISA-Studie wirft eine Menge Fragen auf, für deren Beantwortung es keine Patentrezepte gibt.

Schule braucht Kontinuität und Ruhe, zugleich jedoch eine grundlegende Reformierung. Dies macht nur dann Sinn, wenn Schüler, Lehrer, Eltern, lokale Akteure - eben die gesamte Gesellschaft - sie als gemeinsames Anliegen begreifen. Ergebnisse solcher Reformen werden anders als die zum Beispiel von Herrn Schönbohm initiierten erst nach langen Zeiträumen sicht- und messbar sein.

Noch ein Problem wird deutlich: Ein bundesweites Nachdenken ist gefragt. Die föderalen Strukturen in Deutschland erschweren bei allen Vorteilen, die Bildung als hoheitliche Länderaufgabe bringt, grundlegende Reformen. Die Gefahr liegt nahe, dass sich Deutschland auf diesem Gebiet verzettelt. Dabei erfordern gerade die von den Menschen erwartete Mobilität und Flexibilität in der modernen Arbeitswelt verlässliche Schulstrukturen, die Mobilität und Flexibilität auch ermöglichen. Ein bundesweites Bildungsrahmengesetz wäre ein Anfang der Sicherung grundlegender Standards auf Bundesebene.

(Beifall bei der PDS)

Über effizientere Finanzierungsmodelle, die durch die Bündelung von Aufgaben erreicht werden könnten, sollte zumindest nachgedacht werden. Ein Großteil der Mittel für Bildung, welche in Deutschland ohnehin schon unter dem OECD-Durchschnitt liegen, wird ineffizient eingesetzt, weil jedes Land eigene Lehrpläne, Fortbildungsreihen, Schulbuchchecks, Gesetze, Verwaltungsvorschriften, Verordnungen usw. entwickelt.

Aus Sicht der PDS besteht dringender Handlungsbedarf auf mehreren Problemfeldern. Doch zunächst zur Situation:

Die Ergebnisse der in Deutschland an 219 Schulen getesteten 5 073 Schülerinnen und Schüler zeigen, dass das Gesamtsystem Bildung der Bundesrepublik versagt hat. Hier gehe ich also weiter als Kollegin Siebke. Das Gesamtsystem hat versagt.

Im internationalen Vergleich sind wir nur eingeschränkt zukunftsfähig. Rang 21 bis 25 bei der Lesekompetenz, 20 bis 22 bei mathematischen und 17 bis 23 bei der naturwissenschaftlichen Grundbildung unter den 32 Teilnehmerländern sind bei allen Abstrichen, bezogen auf die Untersuchungsmethode und in Erwartung der möglicherweise abweichenden Ergebnisse im Ländervergleich, einfach fatal. Wenn 9,9 % der deutschen Schüler bei der Lesekompetenz nicht einmal die unterste Kompetenzstufe erreichen und 42 % der Schüler nicht selbstbestimmt und zu ihrem Vergnügen lesen, heißt das, dass sie ohne die Basiskompetenz Lesen in ihrer Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen erheblich eingeschränkt sind.

Für die PDS sind auch folgende Aussagen der PISA-Studie von besonderer Bedeutung: In Deutschland weisen die Ergebnisse die größte Streuung aus. In keinem anderen Land ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschance enger als in Deutschland. Besonders problematisch ist die Situation für Kinder aus Migrantenfamilien. Länder, die in stärkerem Maße in die Früherziehung und den Primarbereich investieren und mehr Wert auf Autonomie von Schulen legen, kommen zu besseren Ergebnissen. Die meisten Länder mit besseren Ergebnissen erreichen auch ohne frühe Auslese ein höheres Leistungsniveau.

Die PDS unterstützt daher grundsätzlich die zwölf Empfehlungen des Forums Bildung vom 19.11.2001 und sieht die frühe Förderung der individuellen Fähigkeiten, die Verwirklichung lebenslangen Lernens für alle und die Reform der Lehrerausbildung als vordringlich an.

Ist Brandenburg mit seiner Bildungsoffensive auf dem richtigen Weg? Dass wir es sind, davon ist zumindest Herr Minister Reiche überzeugt. Die PDS dagegen sieht das eher kritisch und fordert die Landesregierung auf, die Bildungsoffensive neu zu überdenken, gegebenenfalls zu korrigieren und nach neuen Lösungsansätzen zu suchen.

(Beifall bei der PDS)

Dabei sollten folgende Prämissen gesetzt werden:

Erstens: Der Bildungsbereich muss als ein durchgängiges System der Erziehung und Bildung gestaltet werden, welches vom Elementarbereich der Kita über den Primarbereich und die Sekundarstufen I und II bis zur Berufsausbildung reicht.

Zweitens: Schwerpunkte der Reform müssen der noch zu er

arbeitende Bildungsauftrag für Kindertagesstätten und dessen Verzahnung mit dem Primarbereich sein. Die Kita-Novellierung war diesbezüglich eher kontraproduktiv.

Drittens: Dringend benötigt wird ein umfassendes und individuelles Förderprogramm für alle Schülerinnen und Schüler in allen Schulstufen in möglichst kleinen Lerngruppen.

Viertens: Wir benötigen eine Schulstruktur, in der Fördern statt Auslesen die Regel ist. Die in der Novellierung des Brandenburgischen Schulgesetzes verankerten Maßnahmen zur Querversetzung, zu verschärften Versetzungsbedingungen und zu den Leistungsprofilklassen sind Schritte in die völlig falsche Richtung. In diesem Zusammenhang ist auch das Gesamtschulkonzept zu prüfen, das häufig ebenfalls auf Auslese setzt.

Fünftens: Wir brauchen eine nachhaltige Reform der Inhalte und Methoden des Lernens und Lehrens. Kreativität und Fähigkeiten wie Analysieren, Bewerten und Vergleichen müssen stärker entwickelt werden. Das braucht Zeit. Anvisierte verkürzte Schulzeiten müssen dem Rechnung tragen. Schnellläuferklassen sind auch hier der falsche Weg.

Sechstens: Motivation und Leistungsbereitschaft dürfen nicht ausschließlich über Zensuren entwickelt werden. Genau darauf läuft aber die Bildungsoffensive hinaus. So werden natürliche Neugier und Erkenntnisdrang stranguliert und fehlgeleitet. Schüler stellen immer gleich die Frage: Welche Note bekomme ich dafür?

Siebtens: Gemeinsam müssen attraktive Systeme der ganztägigen Bildung und Erziehung entwickelt und umgesetzt werden. Es reicht nicht, mit Stolz auf die 86 Ganztagsschulen im Land Brandenburg zu verweisen. Es muss dringend eine Evaluation der Qualität dieser Ganztagsangebote erfolgen. Was passiert an den Ganztagsschulen im Bereich des Ausgleichs von sozialen Benachteiligungen und was im Bereich der individuellen Förderung der einzelnen Schüler?

Achtens: Der Bildungsbereich muss mit den notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet werden. Hier können wir nur unsere im Rahmen der Haushaltsdebatte geäußerte Kritik zum Stellenabbau und der nicht erfolgten soliden Ausfinanzierung der Bildungsoffensive noch einmal unterstreichen.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas zu der Ostalgiedebatte bezogen auf das DDR-Schulsystem sagen, die wir zwar nicht führen, aber zu der uns die Medien ständig Fragen stellen. Ich bin nicht sicher, ob die Ergebnisse der PISA-Studie wesentlich besser gewesen wären, wenn es die DDR noch gäbe und sie sich an dieser Studie beteiligt hätte. Auch im DDR-Bildungssystem gab es neben der ideologischen Überfrachtung zu viel Frontalunterricht, zu viel auf Wissen und zu wenig auf Fähigkeiten setzenden Unterricht und Unzufriedenheit bezogen auf die Motivation der Schüler und deren anwendbares Wissen. Eine Verklärung dieses Schulsystems ist schon deshalb nicht angesagt, weil es eine zu geringe Breite im Bildungsgang Abiturstufe gegeben hat.

Dennoch gibt es Aspekte, über die es sich nachzudenken lohnt: Es gab ein ganzheitliches Lehrplanwerk, in dem Inhalte und Methoden der Fächer aufeinander abgestimmt waren. Während

jetzt vor allem auf exemplarisches Lernen Wert gelegt wird, gab es in der DDR eine stärkere Systemhaftigkeit. Es wurde entschieden mehr geübt und gefestigt. Die Stundentafeln zielten stärker auf Basiskompetenzen. So standen beispielsweise für das Fach Deutsch in den Klassen 5 und 6 jeweils acht Wochenstunden zur Verfügung; jetzt sind es nur noch vier.

Ein pädagogisches Grundprinzip bestand darin, ein Kind dort abzuholen, wo es sich befindet. Jetzt dagegen wird häufig der schon zitierte Satz formuliert: „Du gehörst hier nicht hin.” Mit „hier” ist die Schulform, die Jahrgangsstufe oder die entsprechende Klasse gemeint. Die Verantwortung der Klasse als Gruppe für den Lernerfolg des Einzelnen wurde stärker stimuliert und hatte einen hohen Stellenwert innerhalb dieser Problematik.

Es gab eine intensive Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule. Die Bedeutung der Schule wurde von der Gesellschaft stärker anerkannt. Im Übrigen können wir diesen Verlust durch die Einführung eines Lehrertages kaum heilen, wenn wir nicht zugleich auch die Rahmenbedingungen ändern.

(Beifall bei der PDS)

Wir fordern Sie, Herr Minister Reiche, als Mitglied der Kultusministerkonferenz auf, sich vehement dafür einzusetzen, dass eine der Kernfragen, nämlich die der verkrusteten gegliederten Schulstrukturen, oder andere die Fundamente des deutschen Bildungswesen betreffende Fragen nicht tabuisiert werden.

(Beifall bei der PDS)

Wir fordern von der Landesregierung, sich dafür einzusetzen, dass die Ergebnisse der PISA-Studie nicht zerredet werden und den Worten durch Maßnahmen untersetzte Taten folgen. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)

Ich danke Ihnen, Frau Abgeordnete Große, und gebe das Wort an die Fraktion der CDU. Frau Abgeordnete Hartfelder, bitte sehr.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! PISA sei Dank; denn PISA rüttelt auf. Frau Große, die PISA-Studie ist eine wirkliche Chance, aber ich glaube, dass uns Ihr Beitrag alle Sorgen, die wir haben, im Endeffekt nicht nehmen kann. Die Ergebnisse der PISA-Studie verlangen eine Analyse und Konsequenzen.

Derzeit liegen uns die Ergebnisse der Studie für ganz Deutschland vor. Sie sind ernüchternd. Brandenburg hat sich an der Studie beteiligt, aber die regionalen Ergebnisse liegen noch nicht vor. Heute schon konkrete Konsequenzen für die Bildungspolitik Brandenburgs zu ziehen scheint mir daher zu früh.

Dennoch werden wir uns im Bildungsausschuss - wie beschlossen - intensiv mit den Ursachen und wissenschaftlichen Erkenntnissen befassen. Deshalb ist hier und heute die Frage zu stellen, warum Deutschland bei der Feststellung des Grundwis

sens der 15-Jährigen in den Kompetenzen Lesen, Mathematik und in den Naturwissenschaften relativ schlecht abschneidet, im unteren Mittelfeld der geprüften Länder rangiert, obwohl es hier 16 unterschiedliche Schulsystementwicklungen und auch 16 unterschiedliche Lehrerausbildungskonzepte gibt.

Auf komplexe Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Es gibt auch keinen einzelnen Schuldigen für die Probleme. Wenn die PDS sicherlich auch keine komplexen Antworten auf die durch die Studie aufgeworfenen Fragen geben kann - sie hat übrigens einen ganzen Bereich vergessen -, so weiß sie aber jetzt schon ganz klar, wo die Probleme in der Bildung liegen und wer diese verursacht hat. Ich zitiere aus einem PDS-Papier:

„Die Ursachen für die aktuelle Bildungspolitik, die die Zukunftschancen der Heranwachsenden erheblich einschränkt, haben in Deutschland Namen und Gesichter: Schröder, Merkel, Eichel, Merz, Stolpe, Ziegler, Reiche, Schönbohm, Wanka usw.!”

Frau Kollegin Große, es ist immer sehr bequem, auf Sündenböcke zu verweisen. Konstruktiver ist es aber, offen nach eigenen Verantwortlichkeiten zu suchen.

Ist der Stellenwert von Bildung und Erziehung in der Gesellschaft - damit meine ich Eltern, Schule, Politik, Öffentlichkeit und Medien; meine Damen und Herren von der PDS, auch Sie gehören dazu - groß, dann werden auch die Ergebnisse gut sein. Dies lässt sich ohne Probleme anhand vieler Länder wie Japan, Korea und Finnland belegen, die besonders gut abgeschnitten haben. Dort, wo Bildung und Erziehung in Elternhaus, Schule und Gesellschaft auf Leistung, Anstrengung und Erfolg ausgerichtet sind, wo der Lehrer Anerkennung und Autorität besitzt dazu braucht man keinen sozialistischen Lehrertag; darin sind wir uns wohl einig -,