Protocol of the Session on November 26, 2015

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Entwicklung geht nur, wenn wir sie gesamtdeutsch entwickeln und wenn nicht eine Region dabei als der Kostgänger gilt.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Ich habe nur gesagt, der, der Ihnen das gesagt hat, war keiner von der CDU!)

Dem muss ich jetzt rundweg zustimmen und sagen, es sind die CDU-Ministerpräsidenten Tillich und Haseloff, die genauso empört sind –

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Genau!)

wie der Ministerpräsident Ramelow, aber auch Herr Sellering und Herr Woidke sind als ostdeutsche Länder gemeinsam empört über eine solche Art des Umgehens miteinander.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen sage ich ausdrücklich, Herr Mohring, Sie haben recht, dieses jetzt an Parteibüchern festzumachen, wäre falsch. Man muss es an der OstWest-Debatte festmachen und Deutsche Einheit endet nicht im 26. Jahr, nachdem man die fröhliche Festveranstaltung in Frankfurt/Main hatte und dann meint, jetzt könnte man den Osten aufs Abstellgleis schieben.

An dem belastbaren Befund, dass sich Ostdeutsche benachteiligt fühlen – ich habe gerade versucht, ein Beispiel sprachlich auszuführen –, kommen wir nicht vorbei – denn Menschen erleben das –, wenn wir verstehen wollen, warum viele Menschen in der gegenwärtigen Situation mit Skepsis, Misstrauen und teilweise auch mit Angst reagieren. Wenn die Jenaer Wissenschaftler im Verlauf ihrer Erhebungsjahre einen stabilen Zusammenhang zwischen Ostdeprivation und Rechtsextremismus feststellen, dann muss uns das als demokratische Parteien Sorgen bereiten. Ich warne gleichwohl davor, jetzt einfach wieder mit dem Finger auf den Osten zu zeigen. Es sollte uns vielmehr Anlass zu einem neuen Nachdenken über den Vereinigungsprozess sein.

Die Erfahrung von nachhaltigen Brüchen in der eigenen Biografie, vom Verlust von Heimat und Gewissheiten, von sozialen Opfern für politische Entscheidungen, von Nöten, die zu schweren persönlichen Entscheidungen zwingen – diese Erfahrung wird von vielen Ostdeutschen geteilt, weil sie die in

den letzten 26 Jahren erlebt, aufgenommen und gestaltet haben. Das Bewusstsein, dass noch vieles nachzuholen ist, sitzt tief. Dass die vielen kleinen Wenden, die auf die große Wende vom Herbst 1989 folgten, zu wenig gewürdigt wurden, gehört zu den politischen und kulturellen Hypotheken des vereinigten Deutschlands, die uns heute leider schmerzhaft belasten. Manchmal hätte man sagen können: Wir hätten einiges lernen können für Gesamtdeutschland als Prozess der Veränderung und der Verbesserung für unser ganzes Land. Dabei wären die Erfahrungen der Ostdeutschen richtig gut und hilfreich gewesen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt dieses weit verbreitete Gefühl, eben erst einen riesigen Transformationsprozess bewältigt zu haben, der noch nicht an sein Ende gekommen ist. Es gibt dieses unterdrückte Seufzen, dass man es doch gerade erst geschafft hat, wieder ein wenig Boden unter den Füßen zu fühlen. Und es gibt die persönliche und kollektive Erinnerung an die großen persönlichen Opfer, die dieser Prozess den Menschen im Osten abverlangt hat. Wer das nicht ernst nimmt, wird auch nicht verstehen, warum viele Menschen in Thüringen mit einer ganz besonderen Skepsis darauf reagieren, wenn wir Politiker allzu schnell sagen: „Wir schaffen das!“ Gleichwohl: Es gibt dennoch keine Alternative zum „Wir schaffen das“, außer: Wir machen das.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Thüringerinnen und Thüringer wollen aber zu Recht wissen, wie wir das schaffen, wie wir das schaffen wollen, wie wir es schaffen sollen. Das Gespräch darüber zu eröffnen, ist die Bringschuld der demokratischen Parteien. Die Menschen wollen von uns genau wissen, wie wir es gemeinsam schaffen. Sie wollen von uns wissen, wie wir Flüchtlinge aus unterschiedlichen Herkunftsländern und sehr vielen Kulturkreisen, wie wir Christen, Drusen, Muslime, Jesiden und Angehörige anderer Religionen und verschiedenster Ethnien in unsere Gesellschaft integrieren.

(Zwischenruf Abg. Höcke, AfD: Wie machen wir das nun, Herr Ramelow?)

Die Aussagen „humanitäre Pflicht“ und „politische Vernunft“ sind auf die Dauer nicht ausreichend. Die Menschen wollen wissen, welche Risiken, Einschränkungen oder gar Verzichte auf sie zukommen. Sie wollen aber auch wissen, welche Chancen und Zukunftsperspektiven mit der Integration von Flüchtlingen verbunden sind.

Wir müssen aufzeigen, dass das Ziel einer Integration in unsere Lebenswelt über verschiedene Schritte zu erreichen ist: Erstens und am wichtigsten sind Sprachkurse, zweitens durch Bildung und

(Ministerpräsident Ramelow)

Teilhabe am sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, drittens durch Eingliederung in das Arbeits- und Erwerbsleben, damit Flüchtlinge für sich selbst sorgen können. Durch die Integration von Flüchtlingen ergeben sich in absehbarer Zeit große Chancen für Thüringen durch Sicherung der Fachkräfte, Abfederung der demografischen Schrumpfung, auch mit Verringerung eines Drucks auf die Renten, und unsere Gesellschaft wird offener.

Die Grundwerte unserer Zivilisation sind und bleiben die Voraussetzungen für ein Zusammenleben. Bernhard Vogel nannte das „die Hausordnung“ lernen. Unsere Aufgabe besteht darin, unsere Hausordnung zu vermitteln: Erstens, das Grundgesetz als Fundament unserer Rechtsordnung – Religionsfreiheit, Religionsvielfalt, Religionsgewährung und religiöse Akzeptanz, sodass keiner gezwungen wird, gegen seinen Willen seine Religion zu leben, aber auch jeder aufgefordert ist, diese Religion friedlich zu leben und nicht gegen andere Menschen;

(Zwischenruf Abg. Höcke, AfD: Sehr gut! Bravo!)

(Beifall AfD)

zweitens, die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Für Herrn Höcke wiederhole ich: die Unantastbarkeit der Menschenwürde.

(Beifall DIE LINKE, SPD, AfD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An dieser Stelle sei erwähnt: Meine unverbrüchliche Solidarität gilt Herrn Dieter Lauinger, unserem Minister für Migration. An dieser Stelle steht in meinem Manuskript – drittens – die Meinungs- und Glaubensfreiheit, die Freiheit, die Meinung sagen zu dürfen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch ein Minister kann seine Meinung sagen. Nein, ich erwarte, dass ein Minister seine Meinung sagen muss und sich nicht von Schreihälsen niedermachen lassen muss.

(Zwischenruf Abg. Höcke, AfD: Genau! Rich- tig!)

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schwierig, dieses Grundgesetz, für manche Leute.

(Beifall AfD)

(Zwischenruf Abg. Höcke, AfD: Besonders für den Redner!)

(Zwischenruf Abg. Brandner, AfD: Sie verbie- gen sich! Sie sprechen gar nicht so, wie Sie denken!)

Keine Bevorzugung …

(Unruhe DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte jetzt wieder um Aufmerksamkeit für den Ministerpräsidenten, der hier die Regierungserklärung hält.

Wir haben schon eine Verrohung der Sitten im Plenarsaal.

(Beifall DIE LINKE, AfD)

Viertens, keine Bevorzugung nach Ethnien – ich betone es noch einmal: keine Bevorzugung von Ethnien – und schließlich fünftens, die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

(Beifall AfD)

Zum Gelingen der Integration sollten wir auch unter den Thüringerinnen und Thüringern einen „Dialog der Generationen“ organisieren, in dem ganz bewusst die generationenspezifischen Erfahrungen des Wandels nach 1990, die daraus folgende Skepsis gegenüber Versprechungen, aber auch die spezielle Form ostdeutschen Beharrungsvermögens in schwierigen Zeiten thematisiert werden. Es ist doch so: Wenn irgendwer Veränderung kann, dann sind es doch die Ostdeutschen!

Die Polarisierung der politischen Kultur, die wir derzeit nicht nur in Thüringen, auch hier im Plenarsaal, sondern in ganz Deutschland erleben, ist aber nicht eine Folge der vorhandenen Ängste, sondern der ungehemmten Bereitschaft einiger, diese Ängste kraftvoll zu schüren, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Da rufen manche auf ihren Demonstrationen „Wir sind das Volk“ und mobilisieren in Wirklichkeit für eine andere Republik, in der das Volk nicht mehr das Sagen hätte. Das ist reiner Etikettenschwindel.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Zwischenruf Abg. Höcke, AfD: Herr Rame- low, Sie wollen doch... abschaffen lassen!)

Wer „Volksverräter“ rufen lässt und dazu schweigt, wer „Lügenpresse“ rufen lässt und dazu schweigt, wer im NS-Jargon der End-20er-Jahre aufmarschiert und auf dem Domplatz Reden hält,

(Zwischenruf Abg. Höcke, AfD)

der muss sich fragen lassen, welchen Etikettenschwindel er da betreibt.

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es darf daran erinnert werden, dass im Herbst 1989 mit den Rufen „Wir sind das Volk“, mit Gebeten und

(Ministerpräsident Ramelow)