Protocol of the Session on November 26, 2015

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich heiße Sie herzlich willkommen zu unserer heutigen Sitzung des Thüringer Landtags, die ich hiermit eröffne. Ich freue mich, dass ich Besucher vom Bundeswehrstandort Gotha begrüßen darf. Herzlich willkommen, Schülerinnen und Schüler aus dem Gymnasium in Stadtroda und Vertreter des Seniorenbeirats in Hermsdorf!

(Beifall im Hause)

Für diese Plenarsitzung hat als Schriftführer Herr Abgeordneter Kobelt neben mir Platz genommen, die Redeliste führt Frau Abgeordnete Rosin.

Für die heutige Sitzung haben sich entschuldigt: Herr Abgeordneter Fiedler, Frau Abgeordnete Meißner, Frau Ministerin Siegesmund, Herr Minister Prof. Dr. Hoff zeitweise, Herr Minister Lauinger zeitweise, Herr Minister Dr. Poppenhäger zeitweise und Herr Minister Tiefensee zeitweise.

Dann habe ich noch eine sehr angenehme Pflicht. Frau Abgeordnete Corinna Herold hat heute Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag, Frau Herold.

(Beifall im Hause)

Herr Brandner, Sie wollen auch ein Geschenk haben?

(Zuruf Abg. Brandner, AfD: Ich habe heute Hochzeitstag!)

Ach so, Hochzeitstag, das ist natürlich auch etwas. Wenn noch jemand seinen Hochzeitstag gewürdigt bekommen möchte, sollte er das vorher ansagen. Dann bekommen wir auch das hin und laden Ihre Frau ein.

Die UNICEF-Arbeitsgruppe Erfurt, die in diesen Tagen ihr 20-jähriges Bestehen feiert, wird heute in einer vorweihnachtlichen Verkaufsaktion Weihnachtskarten, Grußkarten und Kalender für 2016 zugunsten der Kinderhilfsprojekte von UNICEF anbieten. Der Stand befindet sich auf dem Weg zum Landtagsrestaurant.

Weiterhin wird die Eisenberger Behindertenwerkstatt „Wendepunkt e.V.“ heute einen vorweihnachtlichen Kerzenverkauf durchführen. Der Stand befindet sich ebenfalls vor dem Landtagsrestaurant.

Wir sind bei der Feststellung der Tagesordnung übereingekommen, den Tagesordnungspunkt 4 in erster und unmittelbar danach in zweiter Beratung zu beraten, soweit keine Ausschussüberweisung beschlossen wird.

Zu Tagesordnungspunkt 5 wurde ein Alternativantrag der Fraktion der AfD in Drucksache 6/1359 verteilt.

Die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Kräuter in Drucksache 6/1335 wird im Einvernehmen zwischen der Landesregierung und dem Fragesteller in den Plenarsitzungen im Monat Dezember aufgerufen.

Ich frage: Gibt es Ergänzungen zur Tagesordnung? Das ist nicht der Fall, sodass wir so verfahren.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 1

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten zum Thüringen-Monitor 2015 dazu: Unterrichtung durch die Landesregierung - Drucksache 6/1347

Ich bitte Herrn Ministerpräsidenten Ramelow um die Regierungserklärung.

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, meine sehr verehrten Gäste auf der Tribüne und meine sehr verehrten Damen und Herren am Livestream!

Seit 15 Jahren begleitet der Thüringen-Monitor die Entwicklung unseres Freistaats – 15 Jahre, in denen er immer wieder Anlass und Anstoß zum Nachdenken über Thüringen war. Demoskopie kann Demokratie nicht ersetzen. Aber sie kann im besten Fall dem demokratischen Gespräch Richtung und Tiefe geben. Dafür ist vor allem dem Team des Thüringen-Monitors, namentlich Prof. Dr. Heinrich Best, Steffen Niehoff, Dr. Axel Salheiser, Katja Salomo, und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena herzlich zu danken.

(Beifall im Hause)

Damit wir es nicht aus dem Blick verlieren: Der Anlass, den Thüringen-Monitor aufzusetzen, war der Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge. Es war die damalige Landesregierung, die mit Zustimmung des ganzen Landtags die Entscheidung getroffen hat, diesen Thüringen-Monitor als dauerhaftes Instrument zu installieren, weil der Anlass ein schlimmer, tragischer und auch ein gefährlicher für unsere gesellschaftliche Entwicklung war. Deshalb finde ich es gut und richtig, dass auch die jetzige Landesregierung den Thüringen-Monitor als soziologische Langzeitstudie zur politischen Kultur weiterführt, die ihresgleichen in Deutschland sucht. Das Thema des Thüringen-Monitors 2015 lautet: „Thüringen im 25. Jahr der Deutschen Einheit“. Er widmet sich drei Fragen, die in der aktuellen Situation höchste Brisanz und Aktualität haben:

1. dem Verhältnis der Thüringerinnen und Thüringer zur DDR und deren Nachwirkungen im 25. Jahr nach der Wiedervereinigung;

2. der persönlichen Lage der Thüringerinnen und Thüringer 25 Jahre nach der Einheit;

3. der Frage nach Quantität und Qualität rechtsextremer und ethnozentrischer Einstellungen.

Als wir im späten Winter hier über den ThüringenMonitor 2014 sprachen, ging es um die zentralen Fragen: Wo steht Thüringen? Wo wollen wir hin? Was ist zu tun, damit Thüringen ein weltoffenes und lebenswertes Heimatland bleibt? Kurz gesagt: Wie wollen wir alle in diesem Land leben?

Diese Fragen haben nichts von ihrer Wichtigkeit eingebüßt. Was aber seitdem passiert ist, lässt sich mit zwei Zahlen verdeutlichen. Als ich damals hier stand, rechnete Thüringen auf der Basis der offiziellen Prognose des Bundes für das ganze Jahr 2015 mit insgesamt 8.000 Flüchtlingen. Fast so viele kamen allein im Oktober dieses Jahres. Insgesamt rechnen wir derzeit mit rund 30.000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr nach Thüringen kommen; schon da sind oder noch kommen werden. Wenig spricht dafür, dass der Zuzug in dieser Dimension schnell abebbt. Viel spricht dafür, sich dem Veränderungsprozess, der uns allen deshalb bevorsteht, deutlich und eindeutig zu stellen. Wir sollten die heutige Debatte dazu nutzen, das demokratische Gespräch darüber zu führen. Gerade der weite Blick zurück auf die gesamten 25 Jahre seit der Wiedervereinigung eröffnet uns dafür eine dringend notwendige und wertvolle Perspektive.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wertvoll zum Ersten, weil sie uns angesichts des unter anfänglich schwierigen Bedingungen Erreichten etwas mehr Besonnenheit mit Blick auf die gegenwärtigen Aufgaben auferlegt. Ich zitiere hier den ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel, der vor Kurzem auf einer gemeinsam mit mir bestrittenen Veranstaltung sagte: „Ein Volk, das die Wiedervereinigung geschafft hat, das wird auch das jetzt schaffen.“

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wertvoll zum Zweiten, weil uns die Einordnung der Flüchtlingskrise in den historischen Kontext einen wichtigen Perspektivwechsel verordnet: von der Verunsicherung, ja Angst, hin zum Mut – von der Belastung zu den Chancen. Die Integration Hunderttausender Menschen wird, wenn sie so gelingt wie vor mehr als einem halben Jahrhundert die Integration von 12 Millionen Heimatvertriebenen, zu einem Baustein für die Vollendung der inneren Einheit werden.

Wir werden uns gemeinsam verändern und neu zusammenrücken – in Europa, in Deutschland und in Thüringen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Thüringen erlebte und durchlebte in der Mitte Deutschlands und Europas mehr als einen großen Bruch, mehr als eine Phase der Unsicherheit, mehr als eine historische Situation, für die es keinen fertigen Plan in der Tasche irgendeines Politikers gab. Thüringen und Deutschland stehen heute an der Schwelle zur vierten großen Wandlung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Ich will es kurz umreißen: Von 1945 bis 1949 hat Thüringen 800.000 Menschen integrieren müssen – 800.000 Menschen, die neu hinzugekommen sind. Von 1989 bis heute haben wir 450.000 Menschen verloren oder, wie ich immer zu sagen pflege, 450.000 Entwicklungshelfer in den Westen geschickt, gut ausgebildete Thüringerinnen und Thüringer, die jetzt das Bruttosozialprodukt in Westdeutschland tragen, sehr viel dort dazu beitragen, sehr gute Steuerzahler sind. Wir in Thüringen müssen lernen, damit umzugehen, die Infrastruktur, die damit verringert werden muss, irgendwie zu planen und trotzdem den Trend auch wieder umzudrehen. Der Ansatz muss sein, mehrere dieser Entwicklungsphasen für uns als Perspektive zu sehen. Es lohnt sich, vor allem einen analytischen Blick auf die vergangenen 25 Jahre zu werfen, die sich ihrerseits als Geschichte von Wandlung erzählen lassen.

Der weit überwiegende Teil der Ostdeutschen hat die friedliche Revolution von 1989 als eine unglaubliche Befreiung erlebt – als persönliche, berufliche, geistige und gesellschaftliche Befreiung. Das Aufbrechen von Verkrustungen, das Abwerfen von Korsetts, in die viele hineingezwängt worden waren, die sie jahrelang mit sich herumschleppten und unter deren Verformung sie gelitten hatten. Das, was damals passiert ist, war nicht einfach nur der Fall eines zutiefst ideologischen, maroden, überlebten Systems. Das war der Frühling nach Jahrzehnten der Eiszeit, die plötzliche und unverhoffte Wiederbelebung eines ganzen Landes nach Jahren der Lethargie, Bevormundung, des Eingesperrtseins und – ich sage es – der politischen Diktatur.

Nichts war den Leuten damals so wichtig und wertvoll wie die Freiheit – die Freiheit des Redens und die Freiheit des Handelns, die Freiheit des Reisens, der Lebensgestaltung –, auch wenn sie selbstverständlich von den neuen Verlockungen der westlichen Konsumwelt regen Gebrauch machten, aber wer hätte es ihnen denn verdenken wollen. Vokabeln wie „Meinungsfreiheit“ oder „Reisefreiheit“ waren in aller Munde und hätten damals das Zeug gehabt, zum Wort des Jahres zu werden.

(Ministerpräsident Ramelow)

Damals ist, wie es ein späterer Bundespräsident in einem anderen Zusammenhang mal ausgedrückt hat, tatsächlich ein Ruck durch ein ganzes Land gegangen. Die Menschen waren euphorisch angesichts der neuen Möglichkeiten – und gar nicht so sehr angesichts der glitzernden neuen Warenwelt –, die sich ihnen eröffneten. Meine Damen und Herren, es war der Ruck in dem, was vormals DDR war. Manche meiner Brüder und Schwestern in Westdeutschland schauten am Fernseher verdutzt zu und dachten sich, es wird schon irgendwie gehen, was auf der anderen Seite unseres Landes geschieht. Es ist gegangen und es hat sich verändert. Deswegen sage ich: Es nur auf die Glitzerwelt zu reduzieren, wäre viel zu wenig. Wir haben das Land mit der inneren Einheit verändert.

Andererseits ist auch richtig: Die Jahre 1990 bis 2000 waren gekennzeichnet von einem alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassenden Transformationsprozess. Die Menschen in Thüringen erlebten einen ungeheuren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Mit diesem Wandel war der Verlust von fest verankerten Lebensgewissheiten verbunden. Plötzlich waren für viele der Arbeitsplatz, die berufliche Perspektive, die Rente und sogar das vertraute Lebens- und Familienumfeld nicht mehr sicher. Viele standen oftmals vor dem Nichts.

Ich habe diese Lebensbrüche mannigfach vor Ort hautnah erlebt: beim Zusammenbruch der HO, beim Zusammenbruch des Konsums, in Bischofferode bei den hungerstreikenden Kalikumpeln, bei den Glaswerkern in Ilmenau. Immerhin hat es Thüringen geschafft, den Optronik-Standort Jena und den Automobilstandort Eisenach zu sichern. Diese Leistung ist umso erstaunlicher, weil den Menschen in unserem Land vieles übergestülpt wurde. Ich erinnere nur an die Abschaffung der Polikliniken als gut funktionierende medizinische Einrichtungen.

Trotz dieser Umbrüche war dieses erste Jahrzehnt der Einheit geprägt von der Selbstfindung als Land und als Bürgerinnen und Bürger des Freistaats im vereinten Deutschland. Ein wesentliches Ergebnis dieser ersten Phase war die Herausbildung einer eigenen Thüringer Identität. Schon damals sah sich eine Mehrheit der Befragten als Thüringer, dann als Deutsche und erst an dritter Stelle als Ostdeutsche.

In den Jahren 2000 bis 2009 begannen die Thüringerinnen und Thüringer, ihr Verhältnis zu den anderen deutschen Ländern zu definieren. Dieser Prozess war verbunden mit dem Suchen und Finden des Platzes Thüringens unter den deutschen Ländern und dem Einnehmen einer Sonderstellung unter den ostdeutschen Ländern als Deutschlands starke Mitte oder als ostdeutsches Land mit der geringsten Arbeitslosenquote. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Umfrageergebnissen des Thüringen-Monitors deutlich wider. Schon bei den

ersten Erhebungen zum Thüringen-Monitor im Jahr 2000 waren die Menschen in unserem Land der Meinung, Thüringen braucht einen Vergleich mit den westdeutschen Ländern nicht zu scheuen.

Das dritte Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung ist seit 2010 geprägt von der Gestaltung und dem Ausbau der Rolle Thüringens unter den deutschen und ostdeutschen Ländern. In diese Zeit fallen der Abschluss wichtiger Verkehrsinfrastrukturprojekte auf Straße und Schiene, der Ausbau der A 9, der Anschluss der Thüringer-Wald-Autobahn an die Südharz-Autobahn sowie die Aufnahme der ICESchnellstrecke zwischen Erfurt und Leipzig in den regulären Betrieb am 14. Dezember dieses Jahres. Thüringen verfügt damit über eine einmalige Verkehrsinfrastruktur auf Straße und Schiene. Erfurt wird zum ICE-Knotenpunkt ausgebaut, Jena soll perspektivisch zum IC-Knotenpunkt werden, damit auch die Fernverkehrsverbindungen in Jena über die Mitte-Deutschland-Bahn und Saalbahn deutlich verbessert eingebunden werden. Wir sind nicht nur die geografische Mitte Deutschlands. Wir sind die schnelle Mitte Deutschlands und Europas. Das ist – neben vielen motivierten und gut ausgebildeten Menschen – unser zentraler Standortvorteil, unser Standortfaktor. Es ist kein Zufall, wenn die Thüringerinnen und Thüringer die wirtschaftlichen Perspektiven ihres Landes mehrheitlich positiv einschätzen.

Diese Einschätzung wird von der rot-rot-grünen Landesregierung geteilt. Die Landesregierung sieht darüber hinaus Thüringen am Beginn einer neuen Phase der Landesentwicklung und am Einstieg eines neuen Zeitalters – Thüringen als Motor deutscher Entwicklung. In diesem Kontext sind auch die derzeit laufenden Reformen zu sehen: Theaterreform, Funktional-, Verwaltungs- und Gebietsreform. Wir wollen damit dem leistungsstarken Motor Thüringen auch eine dringend notwendige und moderne Karosserie geben, die seiner Leistungsfähigkeit entspricht.

Die Ergebnisse des Thüringen-Monitors zeigen gleichwohl deutlich, dass die Thüringerinnen und Thüringer das Projekt der Deutschen Einheit lange nicht als beendet ansehen. Rund ein Drittel der Thüringerinnen und Thüringer fühlen sich als Ostdeutsche nach 25 Jahren immer noch benachteiligt. Die Jenaer Wissenschaftler sprechen hier von einer ausgeprägten Ostdeprivation, die seit 2003 in der Befragung transparent wird. Dieses kollektive Gefühl der Benachteiligung hat sich verfestigt und hat sich etwa konstant auf gleichem Niveau gehalten. Mehr als die Hälfte der Befragten ist der Auffassung, dass Westdeutsche Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse behandeln.

Ich füge an: Als Ministerpräsident ist es für mich durchaus eine neue Erfahrung gewesen, dass mir ein westdeutscher Minister eines Bundeslands ins

(Ministerpräsident Ramelow)

Gesicht sagte, man könnte die Regionalisierungsmittel der Eisenbahn deutlich reduzieren, weil man uns 25 Jahre lang durchgefüttert habe. Das sind Tonarten, bei denen ich ein Gefühl dafür habe, dass ein Ostdeutscher das Gefühl hat, benachteiligt zu sein, weil es kein Argument ist, deutsche Einheit als „durchgefüttert“ zu bezeichnen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)