Protocol of the Session on November 22, 2012

Wir machen es also Neuthüringern - wenn wir ehrlich sind - auch nicht ganz leicht, zu uns zu gehören, nicht bei uns zu leben, sondern zu uns zu gehören, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Völlig verwirrt hat mich dann allerdings die Erwartung von zwei Dritteln der Befragten, man müsse am politischen Leben hier teilnehmen, um Thüringer zu sein.

(Beifall DIE LINKE)

Das ist deshalb bemerkenswert, weil die eigene Bereitschaft der Thüringer, sich selbst politisch zu engagieren, bei schmalen 32 Prozent liegt. Es gibt eine Frage an die Kollegen, die die Umfrage gemacht haben: Haben Sie vielleicht Leute gefragt, die gar nicht Thüringer sind?

(Heiterkeit FDP)

Das wäre eine mögliche Erklärung. Also ich finde, vielleicht sollten wir auch in den Spiegel schauen und fragen: Legen wir die gleichen Maßstäbe, die wir von anderen bei der Akzeptanz erwarten, auch bei uns selbst an? Vielleicht kann man auch ein bisschen schmunzelnd darauf antworten: Nein,

aber wir legen dieselben an, die andere auch anlegen. Ob das viel weiterführt?

In diesem Sinne, glaube ich, liebe Kollegen, der Thüringen-Monitor dieses Jahres, der gibt gleichermaßen Antworten, wie er auch neue Fragen aufwirft. Die Aufgabe, die vor uns Thüringern liegt, ist nach dem Thüringen-Monitor 2012 eigentlich keine andere als vorher, nämlich ein weltoffenes Land gemeinsam zu gestalten im Interesse all unserer Mitbürger, in unserem Interesse. Wir haben dazu ein paar wichtige und ein paar verwirrende neue Aspekte erfahren und es ist an uns, das Beste daraus zu machen. Herzlichen Dank.

(Beifall FDP)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht Frau Abgeordnete Anja Siegesmund.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, auch ich möchte an erster Stelle den Autoren des Thüringen-Monitors ausdrücklich danken. Diese Erhebungen sind ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und sie zeigen vor allen Dingen, wie es um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft steht. Deswegen ausdrücklichen Dank in diesem Fall an das Institut für Soziologie. Ich finde, Sie haben das gut übernommen vom Institut für Politikwissenschaft. Vielen Dank an diejenigen, die da mitgearbeitet haben.

Es gibt sie in diesem Thüringen-Monitor, alarmierende Befunde, die uns sprachlos machen. Heute Vormittag haben wir zu einigen dieser bereits diskutiert, einige gehört. Es gibt Licht und Schatten, es gibt eben Licht und Schatten in unserer jungen Demokratie in Thüringen. Diese junge Demokratie, sie wächst nicht von allein. Das zeigt unter anderem der Befund, dass das politische Interesse in unserem Land so niedrig ist wie nie seit Start der Befragungen im Rahmen des Thüringen-Monitors. Die Bürgerinnen und Bürger ziehen sich geradezu immer mehr aus der Politik zurück. Und wenn mehr als ein Viertel der Menschen in unserem Land politisch gar nicht interessiert ist, dann haben wir allen Grund darüber nachzudenken, woran das unter anderem liegen könnte.

Der zweite Punkt, den ich voranstellen möchte, ist, dass rechtsextreme Einstellungen und Orientierungen ganz klar den Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden haben. Dazu muss man stehen, denn wenn 49 Prozent der Menschen in Thüringen sagen, dass sie Deutschland für überfremdet halten, dann ist doch ganz klar, dass wir uns damit auseinandersetzen müssen, wie es sein kann, dass

(Abg. Barth)

rechtsextreme Einstellungen und Orientierungen den Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden haben.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen wundere ich mich schon, wie dann einige Vorredner hier anknüpfen an Debatten, die populistischerweise mit Büchern begleitet wurden. Erst vergangene Woche Donnerstag in Jena konnte man sich mit Herrn Sarrazin auseinandersetzen oder es eben lassen, weil man sich bewusst vom Populismus distanziert. Es wundert mich schon, dass dann hier so Sätze fallen, wie: „Das dunkle Deutschland, in dem sich Ausländer nicht wohlfühlen“, gibt es nicht. Ich stelle mir unter einem konsequenten Eintreten für Demokratie und einem konsequenten Eintreten gegen Rechtsextremismus aber eine ganz andere Sprache vor und ich bin entsetzt.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Ich bin entsetzt und enttäuscht, dass wir gerade nach dem, was wir am 04.11.2011 erfahren haben und was seitdem in diesem Land passiert, was seitdem für ein ungeheurer Verantwortungsdruck auf diesem Land lastet, hier immer noch für Sätze fallen müssen. Lassen Sie mich das so deutlich sagen, so kann es nicht gehen, so stärken wir nicht unsere Demokratie, im Gegenteil. Es gibt aber auch Mythen, die dieser Thüringen-Monitor in gewisser Hinsicht strickt, das will ich auch sagen. Ich habe mich insbesondere gefragt, was ist denn jetzt eigentlich die Thüringer Identität und was meinen denn jetzt eigentlich die Thüringerinnen und Thüringer, wenn sie sagen - also ein Drittel sagt das -,

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass zur Thüringer Identität gehört, dass man bitte schön den thüringischen Dialekt zu sprechen hat. Das ist schon erstaunlich, weil, wenn Sie vorhin zugehört haben, Herr Höhn sagte, er käme aus Hildburghausen, der spricht hennebergisch. Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist, aber das ist die Mundart, die im Süden zutrifft. Herr Mohring, der hier geredet hat und aus Weimar kommt, gehört zum

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Ich komme aus Apolda.)

zentralthüringischen Dialekt und der zentralthüringischen Mundart. Wenn Sie mir zuhören, ich bin in Gera geboren, das ist der ostthüringische Dialekt, das merkt man an dem Problem mit „ü“ und „i“, wer genau hinhört. Mit anderen Worten, neun Mundarten, neun Dialekte, was ist denn jetzt die Thüringer Identität; die neun Mundarten, die neun Dialekte? Es gibt ihn nicht, den einen Thüringer Dialekt, es

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

gibt sie, die neun Mundarten. Und dass wir so verschieden reden, wenn man uns zuhört in Dialekten und Sprache, zeigt, dass wir ein vielfältiges Land sind und dass Verschiedenheit uns ausmacht

(Zwischenruf Dr. Voß, Finanzminister: Und das ist die Identität.)

und das ist - völlig richtig - unsere Identität. Verschiedenheit macht uns aus in Sprache und das gehört dazu.

Ich will insbesondere auf sechs Punkte eingehen, die wir, davon sind wir fest überzeugt, im Thüringen-Monitor anpacken müssen, die uns sehr wichtig sind. Dazu gehört an erster Stelle, noch einmal klare Worte zu finden zur Frage, wie es künftig weitergehen soll, dass Thüringer sich mehr beteiligen. Es wurde das chinesische Sprichwort zitiert von der Ministerpräsidentin: Es geht darum, sich zu beteiligen, weil: „Dann werde ich verstanden.“ So haben Sie es zitiert und da sage ich ganz klar, dann ist der Zeitpunkt verstrichen, wo es sinnvoll ist, noch darüber zu reden, jetzt muss man einfach tun.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor uns liegen Wahlen, zahlreiche Wahlen, von denen Menschen in Thüringen ausgeschlossen sind. Die Ministerpräsidentin sagte heute Morgen, es müsse mehr Angebote zur Beteiligung geben, damit Menschen sich wieder mehr engagieren. Dann frage ich mich, warum Sie unseren Antrag zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre in den Kommunen abgelehnt haben?

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann frage ich mich, warum der Fraktionsvorsitzende der SPD heute sagt, genau das findet er gut; Wahlalterabsenkung in den Kommunen und sogar im Land auf 16 Jahre. Dann reicht es eben nicht, darüber zu reden: „Wir wollen, dass Jugendliche mitentscheiden können, wir wollen, dass sie mehr Angebote zur Beteiligung“ - Zitat Frau Lieberknecht - „bekommen“. Im Übrigen, in sieben anderen Bundesländern gibt es bereits ein aktives kommunales Wahlrecht für Jugendliche ab 16 Jahre, RheinlandPfalz bereitet es gerade vor, Thüringen ist mal wieder Schlusslicht.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man könnte ja geradezu die Interpretation wagen, dass Sie sich davor fürchten, dass sich viele Jugendliche beteiligen. Ich hoffe, dass Sie das dann noch ausräumen können. Ich frage mich dann auch, wenn Sie sagen, Sie wollen mehr Beteiligung, wie es sein kann, dass Sie den aus unserer Sicht völlig richtigen Vorstoß des Justizministers, ein erweitertes Wahlrecht wenigstens für EU-Bürger und EU-Bürgerinnen einzuführen, blockieren.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch das stand hier heute in Rede. Derzeit leben in Thüringen dauerhaft etwa 11.000 prinzipiell wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, sich an der Gestaltung ihres Umfelds zu beteiligen. „Die Ergebnisse des Thüringen-Monitors zeigen, dass die Zeit reif ist für ein erweitertes Ausländerwahlrecht auch auf Landesebene.“ - Zitat des Justizministers.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Richtig, Herr Dr. Poppenhäger. Zwei Drittel der in Thüringen lebenden Menschen wollen, dass Zuwanderer sich beteiligen, und wollen, dass sie das Wahlrecht bekommen. Deswegen ist die Frage: Warum wird ihnen das verwehrt? Da passen das Wort und die Tat nicht zusammen. Das vermisse ich, das vermisst meine Fraktion.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Machen Sie Nägel mit Köpfen, anstatt die Menschen auszubooten. Wir unterstützen die Initiative des Justizministers ausdrücklich.

Und dann ist der dritte Punkt - wie passiert denn mehr Beteiligung? Vielleicht geht es nicht nur darum, dass man den Menschen vorwirft, ihr tut zu wenig, vielleicht geht es darum, dass die Menschen nicht die richtigen Instrumente an der Hand haben. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir darüber sprechen müssen, wie es in den Kommunen mit Bürgerhaushalten aussieht, ob Bürgerbefragungen nicht nur etwas versprechen und nichts halten, wie es mit Bürgerentscheiden aussieht, wie Planungsprojekte mit den Menschen vor Ort umgesetzt werden. All das gehört dazu. Der GRÜNE Ministerpräsident aus Baden-Württemberg spricht in diesem Zusammenhang gern von der Politik des Gehörtwerdens. Vielleicht brauchen wir mehr Politik des Gehörtwerdens für Bürgerinnen und Bürger in Thüringen

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und dann beteiligen sie sich auch mehr, anstatt darauf herumzuhacken, dass die Menschen nicht diese Instrumente benutzen, die wir ihnen vorsetzen.

Meine Damen und Herren, wir wollen - das ist mein zweiter Punkt in der Auseinandersetzung mit dem Thüringen-Monitor -, dass Thüringen europäischer wird. Was in Brüssel passiert, das ist leider an vielen Küchentischen einfach nicht mehr nachvollziehbar. Eine Mehrheit, so der Thüringen-Monitor, kann die persönlichen Folgen und auch die Folgen für die Bundesrepublik europäischer Entscheidungen nur schwer einschätzen. Nur etwa jeder Fünfte in Thüringen denkt, dass die EU-Mitgliedschaft mehr Vorteile als Nachteile bringt. Die Mehrheit sieht zwar Vor- und Nachteile ausgeglichen, aber dann kommen die 28 Prozent, die die Europäische Union

vorwiegend skeptisch sehen. Mangelnden Kenntnissen über die EU insgesamt und über die Aufgaben und Tätigkeiten der einzelnen Institutionen kann eben nur begegnet werden, indem man Europa erklärt. Das zu erklären, ist auch unsere Aufgabe. Es ist unsere Aufgabe, Europa nicht nur als Krise oder als Problem zu debattieren oder zu erklären oder als rein ökonomisches Konstrukt, sondern als Antwort auf eine immer stärkere globalisierte Welt, als etwas, das hält, und nicht als etwas, das zerfällt. Das ist unsere Aufgabe. Ich finde, der Aufgabenblock ist an dieser Stelle noch mal richtig voll, weil wir zu wenige klare Worte finden, und da reicht es auch nicht, wenn wir sagen, übrigens wir waren die Ersten mit einem Europaausschuss. Da brauchen wir, glaube ich, alle zusammen noch mehr Ideen, wie wir dafür sorgen können. Europa ist mehr als der Euro, ist mehr als bloße Bürokratie und mehr als reine Mitgliedschaft auf dem Papier. Wir sagen, Europa muss auch stärker demokratisch legitimiert werden, weil nur so Vertrauen wachsen kann, Vertrauen in die Institutionen, Vertrauen in die Europäische Union. Deswegen fordern wir auch einen Europäischen Konvent für ein neues, demokratischeres Fundament der Europäischen Union. Dafür kann sich im Übrigen auch Thüringen stark machen. Wir würden uns da freuen und stehen ausdrücklich auch für Gespräche bereit.

Dritter Punkt: Wir wollen, dass Thüringen sich öffnet. Mir hat kürzlich ein Erfurter von seinem Besuch aus London erzählt. Die Familie aus London war ganz begeistert, ging durch Erfurt, schaute sich hier um, der Dom, die Krämerbrücke, Fischmarkt, wunderbar, und die Begeisterung war grenzenlos, das muss man so sagen,

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

bis dann der Satz kam: „It is so beautiful here, but it’s too monocultural.“

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist so wunderschön hier, aber irgendwie auch total monokulturell. Wir liegen, wenn Sie sich die Zahlen anschauen, gerade mal an vorletzter Stelle im Ranking der Bundesländer im Hinblick auf den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land. Nur in Sachsen-Anhalt leben weniger Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn Sie die Aussage dazufügen, dass 90 Prozent der Thüringer und Thüringerinnen die Aussage treffen, dass in Deutschland lebende Zuwanderer und Zuwanderinnen vollständig an unserem Leben teilhaben sollen, dann, finde ich, haben auch wir hier eine Aufgabe, nämlich uns klar zu positionieren. Wir wollen, dass Thüringen bunter, offener und toleranter wird.