Protocol of the Session on November 22, 2012

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen, dass diejenigen, die uns hier besuchen, sich nicht darüber wundern, dass es offenbar viel zu wenige gibt, die aus der ganzen Welt zu uns

kommen wollen, weil, wären sie hier, würde man ihnen auch begegnen, würde man sie sehen.

Da haben wir den Punkt, der im Thüringen-Monitor geradezu alarmierend ist, dass sich negative Einstellungen verfestigen, obschon es kaum Berührungspunkte gibt. Ich will das am Beispiel der Muslime deutlich machen. Der Anteil an Muslimen in Thüringen beträgt gerade mal 0,4 Prozent. Man muss sie geradezu mit der Lupe suchen, um ihnen begegnen zu können. Das ist das, was die Familie aus London vermutlich auch meinte. Die Wissenschaftler stellen fest, dass es trotzdem gerade gegenüber Muslimen besonders große Vorbehalte gibt, Fremdenfeindlichkeit, rassistische Einstellungen, und erklären sich das eigentlich nur so oder können es sich nur so erklären, dass sie von einem „antimuslimischen Ressentiment ohne Muslime“ sprechen. Das ist die Gefahr, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, dass die Menschen aufgrund mangelnder Begegnung gar nicht die Möglichkeit haben, festzustellen, was für ein Wert interkulturelle Begegnung hat und was für ein Wert eine wirkliche interkulturelle Gesellschaft hat.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu oft, meine sehr geehrten Damen und Herren, zeigt der Thüringen-Monitor aber auch, dass solche Einstellungen zusammenhängen mit der persönlichen Lebenssituation von Befragten - zu oft, nicht immer. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir uns sehr genau Gedanken darüber machen, wie wir gegensteuern, wenn es heißt, der Bildungsgrad und die eigene wirtschaftliche Situation sorgen dafür, dass solche Ressentiments, dass Rassismuss, dass im Zweifel auch Rechtsextremismus geschürt werden. Darüber müssen wir uns Gedanken machen, darum muss man diskutieren. Im Umkehrschluss ist erkennbar, dass Bildung, Beschäftigung und soziale Sicherheit dazu beitragen können, dass immigrations- und migrationsfeindlichen Einstellungen entgegengewirkt wird. Das ist auch glasklar Landesaufgabe. Es ist auch ein Zusammenhang. Ich will nicht sagen, dass grundsätzlich all jene mit einem geringeren Bildungsgrad sofort rechtsextremistische Neigungen haben, im Gegenteil. Das ist das, was in der Debatte immer vorn dran steht. Lassen Sie uns die Augen nicht davor verschließen, dass wir ein Problem in der Mitte der Gesellschaft haben.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber lassen Sie uns auch ganz offen darüber reden, welche Zusammenhänge es gibt und wo die herkommen. Deswegen braucht ein offenes Thüringen an erster Stelle offene Menschen. Der Thüringen-Monitor konstatiert zu Recht, ich will zitieren: „Die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie sie mit Vielfalt und Differenz umgeht.“ Genau - und ein chancengerechtes, inklu

sives und diskriminierungsfreies Bildungswesen ist das Fundament dafür.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das brauchen wir in Thüringen und wir müssen die Blockaden, die es dahin gehend gibt, endlich auflösen und allen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung, mit und ohne Migrationshintergrund und mit und ohne den Doktortitel ihrer Eltern gute Chancen mitgeben und ihnen erklären, dass ihnen die Welt offensteht und dass sie die Möglichkeit haben, sich zu verwirklichen. Das ist unser Auftrag. Das ist ein klarer Bildungsauftrag und der muss bei uns ganz dick im Aufgabenblock stehen.

Vierter Punkt: Wir wollen eine echte Willkommenskultur in Thüringen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir lehnen eine Zuwanderungskultur, in der es Zuwanderer erster und zweiter Klasse gibt, ab. Ich sage das so deutlich, weil man sehr vorsichtig sein muss unter dem Begriff „Nützlichkeitsdebatte“, auch dieses Wort fiel hier, zu argumentieren, die Jobmaschine anzuschmeißen und zu bestimmen, welche Menschen wir hier haben wollen und welche nicht. So geht es nicht.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Ein demokratisches Gemeinwesen, eine Gesellschaft, die zusammenhält, sieht anders aus und ja, ich freue mich darüber, dass die Ministerpräsidentin heute davon sprach, das Anerkennungsgesetz wird kommen, aber das alleine macht noch keine Willkommenskultur.

Ich will an dieser Stelle die Geschichte eines Arztes erzählen, den ich kürzlich in Altenburg bei einer Veranstaltung im Rahmen der Interkulturellen Woche traf, bei der die Landrätin im Altenburger Land uns auch das Landratsamt zur Verfügung stellte. Sein Name ist Ahmed Mostafa aus Ägypten und er erzählte, dass er als Assistenzarzt bereits seit einem halben Jahr im Altenburger Klinikum ist. Er ist zwölf Jahre lang Arzt, hat zwölf Jahre Berufserfahrung, wurde in das Altenburger Klinikum geholt, weil man einen Unfallchirurgen im Klinikum brauchte. Er darf seit sechs Monaten, seitdem er in Altenburg ist, nicht operieren, weil er die Zulassung nicht bekommen hat, weil er inzwischen den Eindruck hat, es reicht nicht, zwölf Jahre Berufserfahrung zu haben, sondern er befindet sich inzwischen, nachdem er es geschafft hat, endlich seine Frau hierherzuholen, auf dem Absprung nach Kanada mit der Begründung: „Ich dachte, ihr wollt mich, aber nach sechs Monaten habe ich den Eindruck, dem ist nicht so.“ Das ist keine Willkommenskultur!

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Solche Geschichten gibt es viele, meine sehr geehrten Damen und Herren. Es kann nicht sein, dass

wir auf der einen Seite meinen, wir sind auf dem richtigen Weg, wir pflegen eine Willkommenskultur und auf der anderen Seite sind noch nicht einmal die zarten Pflänzchen dessen erkennbar.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Sie sehen, wir brauchen das Anerkennungsgesetz, aber eigentlich wäre es besser, wir hätten es bereits seit mehreren Jahren. Ihn jedenfalls haben wir verloren.

Zu einer echten Willkommenskultur, meine sehr geehrten Damen und Herren, gehört auch eine Integrationsbeauftragte des Landes, die heute leider nicht da ist.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da gehören Integrationsbeiräte, Einladungen an diejenigen, die einen Antrag auf Einbürgerung stellen, ebenso dazu. Es gehören intensiv vorbereitete, miteinander gestaltete Interkulturelle Wochen in den Kommunen von Nord nach Süd, von West nach Ost dazu. Es gehören dazu, dass sich mehr Schulen dem Programm „Schule ohne Rassismus“ anschließen und, und, und. Der Strauß ist bunt, Willkommenskultur ist nicht nur ein Schlagwort, sondern es muss gefüllt werden, und zwar mit Ideen und Ideen, die vor allen Dingen von den Menschen kommen, die in Thüringen leben, das ist der wichtige Punkt. Wir können nicht erwarten und die Hände aufhalten, dass uns andere erzählen, wie Integration geht, wir müssen Integration leben und davon sind wir noch weit entfernt, auch wenn es einige Ansätze gibt.

Zur Willkommenskultur gehört im Übrigen auch, dass unsere Institutionen und die Mitarbeiterinnen in Behörden und öffentlichen Diensten geschult werden, dass sie sich Zeit nehmen können in Fortbildungen, dass sie geschult werden in sensibler Kommunikation. Auch das gehört zu einer Willkommenskultur, dass man miteinander auf Augenhöhe sich begegnen kann und sich diejenigen, die zu uns kommen wollen, nicht als Bittsteller fühlen, sondern als gleichberechtigte Menschen. Darum geht es uns, dafür treten wir ein.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vorletzter Punkt: Wir wollen, dass Thüringen humaner wird. Seit langem stellen wir im Land immer wieder massive Defizite im Umgang mit Flüchtlingen fest. Daran hat sich leider auch seit 2009 nichts geändert.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu viele Flüchtlinge, Asylbewerberinnen und Asylbewerber oder Geduldete sind in desolaten Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, obwohl die integrativen Vorteile von dezentraler Unterbringung auf der Hand liegen. Auch dürfen sich Flüchtlinge

im Freistaat nicht frei bewegen, obwohl dies ein garantiertes Menschenrecht ist. Uwe Höhn hat es vorhin erwähnt, vorgestern hat das CDU-geführte Bundesland Hessen die Residenzpflicht abgeschafft. Rot-Grüne Bundesländer sind diesen Schritt längst gegangen. Warum Thüringen auch hier Schlusslicht ist, erschließt sich mir nicht.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Immer noch existiert in einigen Landkreisen die menschenunwürdige und diskriminierende Gutschein-statt-Bargeld-Praxis. Die Abgeordneten, die aus Greiz oder dem Weimarer Land hier sind, haben, soweit ich das weiß, in diesem Jahr noch die Möglichkeit, weise Entscheidungen zu treffen. Ich schaue da in alle Parteien und sage, entscheiden Sie wohl, entscheiden Sie weise, entscheiden Sie richtig.

(Beifall SPD, DIE LINKE)

Und getroffene Hunde bellen.

(Heiterkeit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zudem sind Abschiebehaft und Abschiebungen in Krisenregionen auch weiterhin in Thüringen auf der Tagesordnung. Die Tatsache, dass Sie unserem Plenarantrag zum Winterabschiebestopp der Roma nach Serbien und die Balkanstaaten dieses Mal wieder nicht diskutieren wollen bei diesem Plenum, zeigt mir, dass auch hier doppelzüngig agiert wird.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

A passt nicht mit B zusammen, das ist ärgerlich. Dass wir mitten im Winter über die Frage des Abschiebestopps reden und wir noch nicht einmal Aussicht auf Erfolg haben, das ist ein Skandal und in jeder Hinsicht zu geißeln. Ich sage das so deutlich, ich bin darüber sehr enttäuscht.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für uns ist auch klar, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass die bundespolitischen Rahmenbedingungen nachhaltig geändert werden müssen. Wir haben im Landtag beantragt, dass Thüringen sich an einer Bundesratsinitiative zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes beteiligt und werden sehen, wie die Debatte dazu verläuft, nachdem der Thüringen-Monitor die eine oder andere interessante Zahl geliefert hat. Es braucht gerade für langjährig hier lebende Menschen mit Migrationshintergrund und ohne festen Aufenthaltsstatus ein umfassendes Bleiberecht, welches auch Kinder und Ehepartner und Ehepartnerinnen mit einbezieht. Auch dafür machen wir uns stark. Sie sehen, es gibt so viele Punkte für ein humaneres Thüringen, dass es nicht an der Zeit ist, darüber lange zu reden, sondern endlich Entscheidungen zu treffen. Das erwarten wir von Ihnen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das erwarten wir, weil die Erkenntnisse längst auf dem Tisch liegen und nur die Taten fehlen.

Sechster und letzter Punkt: Wir wollen als GRÜNE eine starke Zivilgesellschaft in Thüringen. Eine starke Zivilgesellschaft, die Rechtsextremismus, die allen Facetten - Rassismus, Antisemitismus, Nationalsozialismus, Homophobie usw. - die Stirn bietet. Das ist die Grundlage für eine wachsende Willkommenskultur. Die Landesregierung hat lange um die Einsetzung eines Landesprogramms gegen Rechtsextremismus gestritten. Ich nenne es so, weil es so heißen muss.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Egal, ob der offizielle Titel „Für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit“ lautet. Er ist richtig, der ist ohne Zweifel richtig, aber er zeigt auch, dass Sie immer noch hinter dem Busch stecken. Ich finde es richtig, dass Frau Taubert ganz klare Worte gefunden und gesagt hat, wir nennen es beim Namen, bei dem es auch wirklich Handlungsstränge hat. Dieses Landesprogramm muss „Landesprogramm gegen Rechtsextremismus“ heißen, weil es darum geht.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Es geht um die Aktivierung und Unterstützung der Zivilgesellschaft, vor allem zur unmittelbaren Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, und es geht um die Förderung und Entwicklung partizipativ demokratischer und pluraler Alltagskultur. Darum geht es, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die Stirn zu bieten. Dieses Landesprogramm ist ein richtiger Weg, wenn Sie die Zeichen aus der Zivilgesellschaft tatsächlich auch ernst nehmen und neben der begleitenden Evaluation sich mit denen zusammensetzen, die während des Diskussionsprozesses leider ausgestiegen sind, sich mit denen zusammensetzen, die sagen, ja, wir wollen uns davon unterstützen lassen, und mit denen zusammensetzen, die - übrigens auch zu Recht, finde ich - eine wissenschaftliche Begleitung des Landesprogramms fordern. Da haben Sie uns an ihrer Seite. Im Übrigen müssen wir auch diskutieren, wie wir die Zivilgesellschaft stärken und sie nicht mit zusätzlich bürokratischen Monstern überfordern. Ich rede hier von den LAPs, den lokalen Aktionsplänen. Egal wohin Sie hören, von Nord nach Süd, von Ost nach West, nachhaltige Konzepte braucht es, keine achtseitigen Anträge mit einmaliger Projektitis.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Das stärkt nicht unsere Gesellschaft, das stärkt höchstens die Papierwirtschaft. Das bringt uns nicht weiter. Wir brauchen, meine sehr geehrten Damen und Herren, starke Vereine, starke Vereine wie MOBIT, starke Vereine und Opferberatungen wie ezra, wie Drudel 11, wie viele andere, wie Bürgerin

itiativen. Wir brauchen Beratungsangebote bei den Feuerwehren. Wir brauchen jedes Bürgerbündnis. Wir brauchen die runden Tische. Sie alle und noch viele, viele mehr in den Sportvereinen usw., sie sind die Zivilgesellschaft. Sie geben ihr in Thüringen ein Gesicht. Sie machen sich dafür stark, dass Thüringen bunt und tolerant ist. Sie brauchen unsere Unterstützung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wäre zu kurz gegriffen, zu sagen, ein weltoffenes Thüringen wächst von unten mit den Menschen, ja, aber es braucht eine gute politische Unterstützung und Flankierung. Das fängt bei der Sprache an und hört bei den politisch notwendigen Maßnahmen auf. Ich wünsche mir, dass wir viele Schritte weitergehen, dass in Thüringen eine echte Willkommenskultur wachsen kann, und dann fühlen sich auch noch mehr Menschen willkommen. Vielen Dank.