Protocol of the Session on November 11, 2005

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Viola Neu hat in einem Arbeitspapier der Konrad-Adenauer-Stiftung zu DVU und NPD im November 2004 folgendes festgehalten - wie ich meine, zu Recht -, auch das zitiere ich: „Extremistische Einstellungen erscheinen vielmehr als Einstellungssyndrom. Diese setzt sich aus vielen Fassetten zusammen, bei denen die jeweiligen inhaltlichen Spezifikationen des Links- oder Rechtsextremismus nur die Spitze des Eisbergs bilden. Rechts- oder linksextreme Einstellungen existieren nicht ohne ein Fundament, das aus unterschiedlichen Elementen, wie Verschwörungstheorie, Aktivismus, Wertepessimismus, Entfremdung und Utopismus, besteht.“ Um dieses Bild fortzuschreiben: Es hat wenig Sinn, die Spitzen dieses Eisbergs abzuschmelzen, weil sie in der nächsten politischen Frostperiode wieder neues Eis bildet. Es geht darum, sich mit dem Eisberg selbst, dem Einstellungssyndrom als solchem zu befassen. Dafür bietet auch der neue Thüringen-Monitor wieder zahlreiche Ansatzpunkte. Für eine eingehende Analyse, wie gesagt, reichte die kurze Zeit nicht, aber wir sollten sie, denke ich, bei Gelegenheit nachholen.

Die festen Wurzeln der Demokratie, von denen ich sprach, stecken in einem Boden, der noch verbesserungsbedürftig ist. Die Faktoren, die Distanz zur Demokratie begünstigen, lassen sich auch aus dem Monitor gut ableiten. Er knüpft an Untersuchungen des Thüringen-Monitors an, der die Zusammenhänge zwischen Sozialreform und Demokratiezufriedenheit bereits eingehender untersucht hat.

Soweit ich sehe, werden die Befunde vom vergangenen Jahr im Großen und Ganzen bestätigt. Einige Faktoren, die mir besonders Sorge bereiten, möchte ich auch hier nennen. Das ist zunächst der Aspekt der Gerechtigkeit. Drei von vier Thüringern empfinden unsere Gesellschaft als ungerecht. Dabei spielt die Einschätzung, ob man selbst den eigenen gerechten Anteil erhält, eine letztlich herausragende Rolle. Aber auch viele, die sich nicht persönlich benachteiligt sehen, zweifeln an der Gerechtigkeit der Gesellschaft. Die Verfasser des Monitors stufen diese skeptische Wahrnehmung, wie es wörtlich heißt, als „schwere Hypothek“ ein. In großer Distanz zum demokratischen Verfassungsstaat stehen Menschen, die sich zurückgesetzt fühlen, weil schlicht das ihnen zur Verfügung stehende Geld für die Bedürfnisse und auch Herausforderungen, die sie haben, nicht reicht, oder sie meinen, nicht das zu erhalten, was ihnen

zustünde, oder weil sie sich gegenüber Westdeutschen benachteiligt und von diesen diskriminiert fühlen. Es sind Menschen, die den Überblick verloren haben, die desorientiert und von der Komplexität des Lebens und des politischen Systems überfordert sind. Je desorientierter einer ist, desto eher urteilt er pauschal und abwertend über die Politik und über die Parteien. Es wird nicht mehr differenziert. Und es sind autoritär eingestellte Mitbürgerinnen und Mitbürger, Menschen, die Ordnung und Disziplin als oberste Erziehungsprinzipien begreifen und nach der starken Hand verlangen. Auch sozial-strukturell kehren einige Merkmale immer wieder. Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit Bedrohte, Menschen mit formal niedrigen Bildungsabschlüssen sind überdurchschnittlich anfällig für extremistische Einstellungen, im Übrigen auch Frauen, was auch Fragen aufwirft. Es ist eigentlich nicht unbedingt überraschend, dass Menschen, die sich nicht zurechtfinden, die den Eindruck haben, nicht Tritt zu fassen oder ausgebootet zu sein, lieber unter übersichtlicheren Verhältnissen leben wollen, in Verhältnissen, in denen mehr Gleichheit und Sicherheit herrscht und einer sagt, wo es langgeht, dies dann aber auch verantworten möchte. Dass der Anteil in einer Situation noch einmal steigt, wenn der durchgreifende Umbau des Sozialstaates auf der Tagesordnung steht, ist ebenso wenig überraschend. Der Anteil derer, die Gleichheit und Sicherheit der Freiheit im Konfliktfall vorziehen, ist noch einmal gestiegen. Der Anteil derer, die im Zweifel für die Freiheit, ich hatte ja eingangs einige Bemerkungen dazu gemacht, votieren, ist hingegen gesunken auf 15 Prozent. Aus dem Thüringen-Monitor 2004 wissen wir, dass der demokratische Verfassungsstaat und die pluralistische Gesellschaft vor allem in dieser Gruppe aber eine absolut sichere Bank haben und deswegen lassen wir auch nicht nach, auf diese Prioritätensetzung immer wieder hinzuweisen und dies auch in ganz konkrete Politik umzumünzen. Diese konsequent Freiheitsorientierten sind nämlich die, die wirklich immun sind gegenüber den Einflüsterungen jener, die eine einfachere und gerechtere Welt versprechen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, „nicht überraschend“ heißt noch lange nicht „beruhigend“. Nicht für die Mehrheit, aber doch für eine recht stattliche Minderheit ist die Freiheit kein Wert an sich. Diese Gruppe hat zur Freiheit ein eher funktionales Verhältnis. Die Unantastbarkeit einer die Freiheit sichernden Ordnung ist kein Tabu, wenn sie nicht das erwartete Maß an Gleichheit und Sicherheit herstellt. Dieser Eisberg, auch hier spreche ich von einem Eisberg, lässt sich nicht so leicht abtauen, schon gar nicht mit dem Tauchsieder politischer Sofort- und Aktionsprogramme. Wenn irgendwo ein Problem auftaucht, irgendwo schnell wieder ein Programm aufgelegt wird, dann meinte man, man hätte das wieder beseitigt - überhaupt nichts ist passiert, außer dass man viel

leicht kurzfristig eine Spitze abtaut, die sich aber dann natürlich auch wieder verfestigt, sobald der öffentliche Erregungsgrad nachgelassen hat.

Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, kaum irgendwo hat ein so oft zitierter Satz von Max Weber über die Politik mehr Berechtigung als hier: „Politik ist das Bohren harter Bretter mit Geduld und Augenmaß“, gerade wenn es um die Einstellung geht, wenn es um Mentalitäten geht, wenn es auch um das geht, was jetzt politisch in Thüringen, ausgehend von Regierungserklärungen vom Ministerpräsidenten im vergangenen Jahr, über diese Zeit jetzt hinweg und auch für die Zukunft gilt. Doch, wo sollen wir den Bohrer ansetzen? Wenn es dafür einen nahe liegenden Punkt gäbe, wäre die Sache einfacher. Eines zeigt dieser Monitor wie der vorhergehende aber auch auf jeden Fall: Wir haben es mit einer materiellen, aber auch mit einer intellektuellen Seite zu tun, die vielfach aufeinander bezogen sind. Die Zustimmung zum demokratischen Verfassungsstaat und zum Pluralismus hat mit Bildung und Einsichtsfähigkeit zu tun. Die entsprechende Gesinnung anzunehmen und zu verinnerlichen fällt aber nicht allen gleich leicht. Wer sich durch Bildung, Arbeit und Auskommen nicht genügend gerüstet sieht oder meint, zu kurz zu kommen, fürchtet die Freiheit eher. Arbeitsplätze und Teilhabe sind deshalb die erste Antwort auf die Herausforderungen, und da hat der Ministerpräsident sehr wohl Stellung genommen, sehr deutlich in dem, was er uns in seiner Regierungserklärung heute gesagt hat. Teilhabe durch Arbeitsplätze, durch Arbeit, die geschaffen werden muss, ist eine der Antworten, der grundlegenden Antworten auf die Herausforderungen des demokratischen Gemeinwesens durch politische Extrempositionen, nicht in dem Sinn, wenn nur alle Arbeit haben, dann verschwinden verfassungsfeindliche Positionen irgendwann von selbst. Durch einen Arbeitsplatz wird freilich kein Verächter über Nacht zu einem Verfechter der Demokratie, aber die Chancen, ein offenes Ohr zu finden, die wachsen doch deutlich für Überzeugungsarbeit, die wir als Demokraten leisten müssen. Die hohe Arbeitslosigkeit wird als Skandal empfunden - zu Recht. Können wir hier tatsächlich und glaubhaft Besserung in Aussicht stellen? So wird der größte Stein des Anstoßes zur Seite gerollt. „Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft.“ Diesen Satz haben wir oft immer wieder zitiert. Dieser Satz ist gerade mit Blick auf Extremismus wichtig. Der Verlust von Millionen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen in Deutschland hat nicht allein wirtschafts- und sozialpolitische Dimensionen. Das gilt für uns in den neuen Ländern - auch in Thüringen - noch stärker, als in dem alten Teil der Bundesrepublik.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine mächtige mentale Barriere tut sich allerdings beim Urteil darüber auf, wie denn mehr Arbeitsplätze entstehen

können. Das hat ja auch der Bundestagswahlkampf mit allen Konzepten, mit allen Programmen, die hier in der Debatte standen, besonders deutlich gezeigt. Das volkswirtschaftlich Notwendige, was auch von uns uneingeschränkt geteilt wird, hat ja Angela Merkel mit zwei Sätzen zusammengefasst: „Arbeit braucht Wachstum. Wachstum braucht Freiheit.“ Auch hier haben wir diesen grundlegenden Begriff wieder und darauf baute auch das ganze Programm auf. Dass diese Botschaft im Laufe eines unglaublich auch demagogischen Wahlkampfs letztlich nicht zum Tragen kam, muss uns natürlich auch nachgehen, und was damit für Demokratie geleistet worden ist. Das enthebt uns aber nicht, das Richtige immer wieder zu wiederholen, auch wenn es diffamiert wird, auch wenn wir damit nicht die Punkte eingefahren haben, die wir einfahren wollten und hätten auch einfahren müssen, um eine wirklich konsequente Reformpolitik in Deutschland gestalten zu können. Jetzt müssen wir uns mit den Kompromissen begnügen, das im jetzt möglichen Rahmen zu tun. Aber wir wären weiter, hätten wir tatsächlich grundlegend von diesem Begriff aus Gesellschaft gestalten können, wofür im Übrigen auch Paul Kirchhoff steht. Was da an Diffamierung geleistet worden ist, das ist auch wirklich ohne Beispiel und man muss sich fragen, ob man einen so renommierten Wissenschaftler überhaupt noch einmal einer solchen Situation aussetzen darf.

(Beifall bei der CDU)

Da ist wirklich auch ein Verlust entstanden. Nach den Thüringen-Monitoren der vergangenen Jahre musste man das freilich befürchten, der „vormundschaftliche Staat“ wirkt nach. Die Verheißung, der Staat könne für einen gerechten Ausgleich zwischen allen sorgen, das hieße vor allem, eine weitgehende Gleichheit herzustellen, ist nicht vergessen. Dass für ein größeres Maß an Gleichheit mit einem geringeren Maß an Freiheit bezahlt werden muss, ist allerdings vergessen. Dass der sozialistische Großversuch nebst allem, was sonst noch zu sagen wäre, im totalen Bankrott endete, ist offensichtlich genauso vergessen. Aber zum Glück gibt es da Studien, die das auf immer auch belegen. Das müssen wir auch gelegentlich einmal ins Gedächtnis rufen. Die Bereitschaft loszulassen, um neue Ufer zu gewinnen, ist schwach ausgeprägt, auch weil in Deutschland nicht zuletzt, wenn man so will, eine neue sozialistische Einheitspartei den Reformbedarf zu einer Art Trugbild erklärt und so tut, als sei Deutschland im Meer der Globalisierung eine Insel, auf der man alles anders machen könne. Das gilt auch im Blick auf die gegenwärtigen Vorhaben in Thüringen. Wenn ich unser Familienfördergesetz sehe, wenn ich das Kindertagesstättengesetz, so wie wir es jetzt ändern, sehe, ist es immer noch das modernste - und wird weiter modernisiert - in ganz Deutschland. Schauen

Sie sich doch mal die Gesetze ringsum an!

(Beifall bei der CDU)

In welchem Kontext wir leben und was wir hier tun, das werden wir im nächsten Plenum besprechen. Im Übrigen: Wie immer die Terminleiste gewesen ist, am 8. Dezember können wir dann die Einzeldebatten führen an dem konkreten Punkt und bei den anderen Punkten jeweils dann auch, wenn sie auf der Tagesordnung stehen. Die Versuchung ist groß, sich auf diese Erwartungen an Politik einzulassen, aber ich sage noch einmal: Bei allen Auseinandersetzungen, bei allem scharfen Wind, der einem ins Gesicht bläst, es wäre ein Fehler, selbst dann, wenn wir damit kurzfristige Zustimmung gewinnen könnten. Wir sind davon überzeugt, dass Deutschland sich umorientieren muss. Joachim Fest hat bereits 1993 in einem lesenswerten Essay unter dem Titel „Die schwierige Freiheit“ auf die in Unordnung geratene Balance zwischen Bürger und Staat verwiesen. Auch hier zitiere ich: „In der von allen Seiten betriebenen Praxis zunehmend mehr Verantwortung auch für die ureigensten Lebensfragen auf den Staat zu übertragen, kommt“ - laut Fest - „einer schrittweisen, wenn auch vom weiten Mantel der Fürsorge verdeckten Entmündigung des Einzelnen gleich und verkürzt insoweit die Bürgerrechte.“ Wir wollen und wir müssen Freiheit und Selbstverantwortung stärken. Solidarität hat ihre Berechtigung, wenn sie zusammen mit der Subsidiarität gedacht wird. Auch dieses Begriffspaar müssen wir immer wieder neu deklinieren; Solidarität, aber eben auch Subsidiarität, Hilfe zur Selbsthilfe, die am Ende wieder zu Mündigkeit führt. Es reicht nicht, das einfach zu predigen. Es kommt darauf an, es auch in praktischer Politik umzusetzen. Dieser Weg wird in Wirtschaft und Gesellschaft, davon sind wir fest überzeugt, Kräfte freisetzen und auch aus der Verunsicherung befreien, die viele Bürgerinnen und Bürger ergriffen hat, weil sie sehen, dass es so, wie es ist, nicht bleiben kann. Auch diese Erkenntnis ist ja da, allerdings ohne zu sehen - das trifft für viele zu -, wohin die Reise gehen soll. Nur dadurch wird auch das Fundament gestärkt, auf dem sozialen Ausgleich, wenn wir beides zusammenbringen, Veränderungsbereitschaft, die wir verstärkt wirklich immer wieder abrufen müssen, aber eben auch mit einer Zielvorgabe, dass am Ende Ausgleich möglich bleibt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir bilden uns nicht ein, damit kurzfristig Erfolge erzielen zu können. Ich glaube auch nicht, dass sich die Gewichte im Dreieck Freiheit, Gleichheit, Sicherheit in wenigen Jahren völlig umdrehen lassen. Aber auf mittlere und längere Sicht wird sich etwas ändern, davon bin ich überzeugt. Da setze ich nicht zuletzt auch, wie im Übrigen auch der Thüringen-Monitor hoffnungsvoll ja zeigt, auf die jüngere Generation, die sich viel

freiheitsorientierter erweist, weil sie eben die alte Prägung nicht mehr hat, weil es für sie selbstverständlich ist, an Bildungsprogrammen im Austausch quer durch Europa, nach Amerika, durch Australien oder sonstwo in der Welt teilzunehmen. Sie können sich überhaupt nicht mehr vorstellen, wie das gewesen ist vor 16 Jahren noch. Ich vertraue auf die Erfahrung, die Menschen mit erweiterten Freiräumen machen werden. Auch das wird Maßstäbe verschieben.

Udo di Fabio hat in seinem Buch über die „Kultur der Freiheit“ darauf hingewiesen, dass über Freiheit und Gleichheit nur in einem kulturellen Deutungssystem sinnvoll debattiert werden kann. Deshalb verstehen wir Freiheit ja auch nicht als einen Zustand der Schranken- und Bindungslosigkeit, sondern sehen in ihr einen Begriff, zu dem Ordnung und Verantwortung notwendig dazugehören. Freiheit ist eben für uns nicht Beliebigkeit und nicht nur Selbstbezogenheit, sondern immer gekoppelt an die Verantwortung, an das Wirken im Gemeinwohl.

Unsere politischen Schlüsselbegriffe hängen an der Lebenskultur und der politischen Kultur, wie sie nun einmal geworden ist. Aber sie ändert sich auch und es entspricht im Wesentlichen noch sozialistischer Denkungsart, Gerechtigkeit gedanklich immer wieder an die Freiheit anzuknüpfen. Der Idee der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entspricht es besser, ihn zuerst an die von der Freiheit ausgehende Überlegung zu knüpfen. Eine Gesellschaft ist danach gerecht, wenn sie - ich zitiere noch einmal di Fabio - „… jedem die Chance gibt, möglichst viel von seiner Biographie, seinem Leben durch eigene Entscheidungen und seiner Planung bestimmen zu können“. Der Sozialstaat wurzelt dann eher im Gedanken der Brüderlichkeit oder Solidarität, als dass er sich durch das Ziel leiten ließe, möglichst viel an Gleichheit zu verwirklichen.

Die gesellschaftliche Debatte über diese Fragen hat begonnen. Es geht darum, letztlich den Mittelweg, den wir gehen, auch auszubuchstabieren, ein Mittelweg zwischen dem Kollektivismus sozialistischer Herkunft, gegen dessen lange Schatten wir nach wie vor kämpfen, und einem ideologischen Prinzip denaturierten Liberalismus, der von Nächstenliebe und Solidarität in der Tat nichts wissen will. Aber die soziale Marktwirtschaft, die neue soziale Marktwirtschaft, ist hier der Weg in der Mitte, die wir auch zielstrebig weiter in den Konkretionen in unserer Politik einsetzen, die Politik konsequent an Wachstum für mehr Beschäftigung auszurichten und in Wort und Tat einer Kultur der Freiheit zu ebnen.

Beide Punkte müssen zusammenkommen. Es sind zwei entscheidende Ansatzpunkte, um dem Extremismus letztlich in unserem Land das Wasser abzugraben. Es hat die materielle Seite, es hat aber auch

die ideelle, die kulturelle, die geistige Seite. Politische Bildung etwa, Pflege einer demokratischen Erinnerungskultur, die doppelte Diktaturerfahrung in unserem Land, all das ist zu bedenken, wenn wir mit unseren eigenen Mitteln dem Extremismus uns entgegenstellen. Dazu gehört letztlich auch die Bereitschaft, nicht nur durch eignes Zutun, das sage ich ganz bewusst, Desorientierung bei Bürgerinnen und Bürgern zu verstärken. Das ist ein Appell, der an Politik und Medien gleichermaßen geht, für sachorientierte Information gerade bei den schwierigen Umorganisationsprozessen, in denen wir stehen, zu sorgen. Aber im Kern sind das die beiden etwas ausführlich skizzierten Punkte: Wachstum für mehr Beschäftigung und Ausrichtung unseres Denkens und Handelns an einer Kultur der Freiheit. Das sind die maßgeblichen Punkte, denen wir uns vom ersten Tag dieser 4. Legislaturperiode gestellt haben mit der Regierungserklärung „Die Chancen der Freiheit nutzen“ und dem, was wir jetzt in tagtäglicher Politik konkret umsetzen. Hier hat die CDU einen klaren Fahrplan, eine klare Maßgabe. Der Thüringen-Monitor gibt uns in der Grundentscheidung Recht mit vielen, vielen Aufgaben, die sich für uns daraus ergeben, aber auch mit all dem, was wir kritisch bewerten müssen, um wirklich an das Ziel mit dem zu kommen, was wir für diese Gesellschaft vor Augen haben. Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Für die Landesregierung hat Minister Dr. Gasser um das Wort gebeten.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, „Politische Kultur im Freistaat Thüringen“ lautet das Thema. Vor wenigen Wochen konnten wir den 15. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands begehen. Dieses historische Ereignis brachte auch den Menschen in Thüringen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als die tragenden Grundpfeiler unserer Verfassungsordnung. Diese freiheitlich-demokratische Grundordnung ist das Fundament unserer politischen Kultur. Sie bedeutet Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt, Kritikfähigkeit und Eigenverantwortung, Pluralismus und streitbaren Diskurs ebenso wie Kompromissfähigkeit und Toleranz. Politischer Extremismus jeglicher Art, gleich ob Links- oder Rechtsextremismus, bedeutet, diese freiheitlich-demokratische Grundordnung und damit den Grundkonsens unserer Verfassungsordnung abzulehnen. Wo dies geschieht, wird unserer politischen Kultur ihre Grundlage entzogen. Eine Untersuchung und Bewertung der politischen Kultur in Thüringen kann deshalb nicht umhin, auch die

Verbreitung extremistischer Einstellungen unter den Thüringern zu untersuchen. Deshalb möchte ich die Vorstellung des Thüringen-Monitors 2005 zum Anlass nehmen, die Entwicklung des Rechtsextremismus in Thüringen darzustellen, einerseits anhand der Ergebnisse des Thüringen-Monitors als empirischsoziologischer Untersuchung von rechtsextremistischen Einstellungen unter den Thüringern, andererseits anhand des tatsächlichen aktuellen Lagebilds rechtsextremistischer Aktivitäten im Freistaat, wie es sich aus Sicht von Polizei und Strafverfolgungsbehörden darstellt. Sie werden sehen, dass zwar weder in dem einen noch in dem anderen Bereich wesentliche Veränderungen festzustellen sind, es wird sich allerdings auch zeigen, dass kein Grund besteht, in unseren Bemühungen um die Bekämpfung von Rechtsextremismus nachzulassen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Thüringen-Monitor zeichnet hinsichtlich der Verbreitung rechtsextremistischer Einstellungen in der Gesamtbetrachtung kein Bild dramatischer Veränderungen im Vergleich zu den Vorjahren. Für das Jahr 2005 ergibt sich ein Anteil von 22 Prozent rechtsextremistisch Eingestellter unter den Thüringern. Dieser Wert von mehr als einem Fünftel der Bevölkerung entspricht nahezu dem der Vorjahre. 2004 wurden 23 Prozent, 2002 21 Prozent ermittelt. Allerdings sind hinter diesem relativ konstanten Gesamtanteil einzelne Tendenzen und Veränderungen im Vergleich zu den Vorjahren erkennbar, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen müssen.

Lassen Sie mich kurz erläutern: Der ThüringenMonitor gliedert die Befragung in verschiedene Teilbereiche, für die nach Zustimmung oder Ablehnung von vorgegebenen Aussagen gefragt wird. Aus einem Gesamtsummenindex der einzelnen Antworten ermittelt sich dann eine rechtsextremistische Einstellung. Innerhalb dieser Teilbereiche fällt die Zustimmung zu Aussagen, die dem traditionellen rechtsextremistischen Gedankengut zuzurechnen sind, ohne erhebliche Veränderungen aus. Hinsichtlich nationalsozialistischer und antisemitischer Einstellungen ist sie seit 2001 leicht gesunken. Deutlich gesunken ist die Zustimmung zu der sozialdarwinistischen Aussage, dass sich in der Gesellschaft wie in der Natur das Recht des Stärkeren durchsetzen müsse. Diese fand 2005 die bisher geringste Zustimmung. Hohe Zustimmungswerte fanden 2005 wie in den Jahren seit 2003 die nationalistischen Aussagen, insbesondere die Forderung nach einem energischen Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland. Eine Veränderung wird in erster Linie bei den ausländerfeindlichen Einstellungen deutlich. Zwar ist der Anteil der ausländerfeindlich Eingestellten in Thüringen seit 2003 konstant geblieben; nach den Bewertungen der Forscher ergibt sich ein Anteil ausländerfeindlich eingestellter

Thüringer von gleich bleibend nahezu 44 Prozent der Bevölkerung. Innerhalb der Aussagen zur Ausländerfeindlichkeit haben sich jedoch Veränderungen ergeben. 2005 ist nämlich erneut eine Zunahme der zustimmenden Äußerungen zu der Aussage festzustellen, Ausländer kämen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen. Mittlerweile stimmen 58 Prozent der Thüringer dieser Aussage eher oder vollkommen zu. Zwar besteht die Veränderung zum Vorjahr nur in einem Prozentpunkt, seit 2001 ist die Zustimmung jedoch kontinuierlich angestiegen. Sie liegt mittlerweile um 10 Prozentpunkte höher als im Jahre 2001. Auch wenn der Thüringen-Monitor in diesem Jahr keine explizite Begründung für diesen Anstieg formuliert, dürfte sich an der Begründung der Autoren vom vergangenen Jahr auch in diesem Jahr nichts geändert haben. Diese so genannte sozioökonomisch motivierte Ausländerfeindlichkeit lässt sich darauf zurückführen, dass gerade in Zeiten des Um- und teilweisen Abbaus sozialstaatlicher Systeme Ausländer verstärkt als Konkurrenten um die knappe Ressource Sozialleistungen wahrgenommen werden. Es wäre demnach überzogen, jeden, der dieser Aussage zustimmt, schon generell als Rechtsextremisten zu bezeichnen. Vielmehr verursacht die Unsicherheit über die eigene soziale Lage eine ausländerfeindliche Einstellung, die allerdings im Kontext mit weiteren Elementen der Befragung zu einer rechtsextremistischen Einstellung werden kann. Auch die von Herrn Ministerpräsidenten Althaus angesprochenen großen Überfremdungsängste trotz eines äußerst geringen Ausländeranteils von 2 Prozent dürften darauf zurückzuführen sein. Auch diese Angst sehe ich weniger in einem von ihr eigentlich implizierten rassistischen Ursachenzusammenhang, sondern vielmehr ebenso sozioökonomisch motiviert. Dafür spricht auch, dass die Zustimmung zu beiden Statements in der Befragung seit 2001 nahezu analog gestiegen ist.

Die Bedeutung der eigenen sozialen Situation für das Auftreten von rechtsextremistischen Einstellungen zeigt sich auch an einem anderen Zusammenhang. Herr Ministerpräsident Althaus hat ihn ebenfalls bereits angesprochen - den Einfluss von Arbeitslosigkeit auf die Herausbildung rechtsextremistischer Einstellungen. Auch in den diesjährigen Befragungen waren rechtsextremistische Orientierungen unter den Erwerbslosen weit stärker verbreitet als unter den Befragten, die einer Beschäftigung nachgehen. 2005 haben sich diese Unterschiede sogar nochmals verstärkt, so dass nunmehr 42 Prozent der Arbeitslosen nach der Befragung des Thüringen-Monitors als Rechtsextreme gelten im Vergleich zu 16 Prozent von den Thüringern, die ganztägig eine Erwerbstätigkeit ausüben. Dabei begünstigt nicht nur Arbeitslosigkeit die Herausbildung von rechtsextremistischen Standpunkten. Auch die Arbeitsplatzsicherheit spielt eine Rolle, wie ein

Vergleich zwischen Befragten mit sicherem und mit unsicherem Arbeitsplatz zeigt. Hingegen hat eine frühere Arbeitslosigkeit kaum Einfluss auf die Entstehung von rechtsextremistischen Ansichten. Eine unsichere eigene soziale Situation ist also offenbar als wesentlicher Hintergrund für rechtsextremistische Einstellungen erkennbar.

Ein Blick auf weitere Faktoren verdeutlicht als weiteren wesentlichen Zusammenhang mit einer rechtsextremistischen Einstellung den Bildungsgrad der Befragten. Hier finden sich nicht nur sehr große Unterschiede im Ausmaß rechtsextremer Denkmuster entsprechend dem Bildungsgrad. Diese Unterschiede sind im Zeitverlauf zugleich bemerkenswert stabil. Der bisher größte Abstand zwischen den höher Gebildeten und der Gruppe mit formal niedrigerem Bildungsstand ist nun im Jahr 2005 mit einer Differenz von 30 Prozentpunkten erreicht worden. Als besonders bedenklich kommt noch hinzu, dass bei mangelnder Bildung gleichzeitig eine höhere Gefahr besteht, keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden und somit die wesentlichen Faktoren für eine rechtsextremistische Einstellung zusammentreffen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was sich dieser Tage in den Städten Frankreichs abspielt, zeigt in dramatischer Deutlichkeit, welche Folgen die jahre- oder gar jahrzehntelang aufgestaute Kombination mangelnde Bildung, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit haben kann, und dies in einem fest gefügten demokratischen Staat mitten in Europa. Keineswegs rechtfertigt irgendeine Ursache die Begehung derartiger Straftaten, wie es gerade in Frankreich geschieht. Jedoch zeigen die Vorgänge in unserem Nachbarland, wie gefährlich es für die Stabilität einer Gesellschaft ist, die Bildung von gesellschaftlichen Randgruppen oder Parallelgesellschaften außerhalb des Grundkonsenses der politischen Kultur zuzulassen und die Ursachen hierfür nicht frühzeitig zu erkennen und auf sie zu reagieren.

Lassen Sie mich aber auch mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass die jüngsten Ereignisse in Thüringen, ich meine damit den Brandanschlag von Schülern auf ihre Schule in Altenburg wegen einer Verärgerung durch den Schulleiter, der ihnen nämlich verboten hatte, Alkohol, Zigaretten auf dem Schulgelände zu rauchen, und die Autoaufbrüche in Bad Liebenstein, es nicht rechtfertigen, wenn ein blitzschneller Analyst aus diesem Hause hier ein Ursachenszenarium aufstellt und dies mit Frankreich vergleicht. Dies sind eben keine französischen Verhältnisse in Thüringen; darauf ist es nicht zurückzuführen. Es handelt sich hier vielmehr um ganz normale Straftaten. Im Übrigen, bei aller Bedeutung des gesellschaftlichen Umfelds, jeder, der Kriminalität nur auf soziale Problemlagen zurückführen will, verharmlost die Tatsache, dass Straftaten immer in der in

dividuellen Verantwortlichkeit des Täters liegen. Das wollen wir nun nicht noch vergesellschaften.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die genannten Faktoren für Verbreitung von rechtsextremistischen Einstellungen unter den Thüringern sind also durchaus generell vorzufindende Ursachen für extremistische Einstellungen. Sie werden in Thüringen allerdings noch durch ein besonderes Phänomen ergänzt. Bemerkenswert ist nämlich der Zusammenhang, den der Thüringen-Monitor seinem diesjährigen Schwerpunktthema gemäß zwischen rechtsextremistischen Einstellungen und der Sicht auf die DDR und die Deutsche Einheit aufzeigt. Eine positive DDR-Bewertung und der Wunsch nach einer Rückkehr zur sozialistischen Ordnung hängen laut der Studie signifikant mit rechtsextremistischen Einstellungen zusammen. Während sich unter den Befragten mit großer Distanz zur DDR nur 15 Prozent mit rechtsextremistischen Einstellungen befinden, ist es in der Gruppe mit hoher DDR-Affinität ungefähr die Hälfte der Befragten. Ähnliches gilt für die Bewertung der deutschen Einheit. Befragte, die mehr Vor- als Nachteile in der Deutschen Einheit sehen, neigen ausländerfeindlichen, rassistischen oder nationalsozialistischen Positionen sehr viel weniger zu, als Befragte, bei denen das Urteil umgekehrt ausfällt. Die Studie führt dies dabei weniger auf die aktuellen Belastungen durch die Folgen der deutschen Einheit als vielmehr auf die prägenden Sozialisationserfahrungen in der DDR zurück.

Diese Schlussfolgerung der Forscher wird noch dadurch gestützt, dass ebenso ein sehr starker Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und autoritären Einstellungen festgestellt wurde. Solche autoritären Einstellungen werden in frühen Sozialisiationsphasen ausgebildet. So finden sich unter den autoritär Eingestellten auch 36 Prozent mit rechtsextremistischen Einstellungen und in der kleinen Gruppe der nicht Autoritären besteht ausnahmslos Distanz zum Rechtsextremismus. In der Mittelgruppe liegt der Anteil bei nur 8 Prozent. Unterdurchschnittliche Anteile Rechtsextremer finden sich zudem bei den Befragten, für die die Entfaltung eigener Fähigkeiten und die Kritikfähigkeit einen hohen Wert darstellen. Stärkere Verbreitung finden rechtsextremistische Ansichten demgegenüber, je mehr die Werte Gleichheit und Sicherheit der Freiheit vorgezogen werden. Und noch einen weiteren Hintergrund konnten die Forscher ausmachen: die Anomie - das Gefühl der Desorientierung angesichts rascher Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld. Unter den Befragten, die die Aussage „Heute ändert sich alles so schnell, dass man nicht weiß, woran man sich halten soll“ ablehnen, finden sich nur 6 Prozent mit rechtsextremistischen Einstellungen. Unter denjenigen, die ihr zustimmen, das ist sehr interessant, ist dieser Anteil sechsmal so hoch.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Freiheit, Kritikfähigkeit, Eigenverantwortung - diese Elemente unserer freiheitlichen Ordnung werden offenbar von einem Teil der Thüringer nicht bewusst als Errungenschaften der deutschen Einheit wahrgenommen, nicht als die tragenden Kräfte einer Gesellschaft, die in der DDR unterdrückt wurden und die letztlich zum Fall der Mauer geführt haben.

Meine Damen und Herren, der Thüringen-Monitor gibt keine pauschale Antwort - und das bitte ich zu beachten - auf die Frage nach der einen Ursache oder dem typischen Hintergrund einer rechtsextremistischen Einstellung. Erkennbar ist allenfalls ein Zusammenspiel vielschichtiger Faktoren. Verunsicherung und Arbeitslosigkeit - aus der das Bedürfnis nach Gleichheit und Sicherheit erwächst - erscheinen als die wesentlichen Faktoren, deren Produkt die unverändert hohe Verbreitung rechtsextremistischer Einstellungen ist. Gerade die Ursachenforschung sollte deshalb weiter ausgebaut werden.

Meine Damen und Herren, inwieweit sich rechtsextremistische Einstellungen tatsächlich in rechtsextremistischen Aktivitäten niederschlagen, ist eine ganz andere Frage. Mit den Befunden des Thüringen-Monitors über das Einstellungspotenzial der Thüringer ist noch keine Aussage darüber getroffen, wie sich der Rechtsextremismus in äußerlich erkennbarer Weise entwickelt hat. Denn erst, wo die Einstellungen offen zu Tage treten, die gedankliche Ebene verlassen und in rechtsextremistische Äußerungen, Aktivitäten oder Straftaten umschlagen, ist das Feld für die hoheitliche staatliche Tätigkeit durch Polizei, Verfassungsschutz und Strafverfolgungsbehörden eröffnet. In dieser tatsächlichen Entwicklung des Rechtsextremismus spiegelt sich das nach dem Thüringen-Monitor vorhandene Einstellungspotenzial nicht unbedingt und nicht deckungsgleich wider. Zwischen den gedachten Ansichten und der offenen Äußerung rechtsextremistischer Gedanken oder gar der aktiven Betätigung im rechtsextremistischen Spektrum bestehen erhebliche Differenzen. Lassen Sie mich dies verdeutlichen. Laut Thüringen-Monitor ist der Anteil rechtsextrem Eingestellter in der Gruppe der Menschen im Alter über 60 Jahren am größten. Bis auf 2004 war dies seit 2001 immer der Fall. Hinsichtlich einer Verteilung solcher Ansichten innerhalb der Geschlechter sind es in Thüringen 27 Prozent Frauen, hingegen nur 16 Prozent Männer, die nach der Befragung als Rechtsextremisten gelten. Beide Befunde lassen sich weder anhand der Straftaten aus dem Bereich der politisch motivierten Kriminalität noch anhand sonstiger Aktivitäten, wie Demonstrationen oder Konzerte, im tatsächlichen Bereich nachvollziehen. Sowohl ältere Menschen als auch Frauen spielen im Bereich dieses äußerlich wahrnehmbaren Rechtsextremismus eine deutlich untergeordnete Rolle. Mit anderen Worten, nicht jeder, der nach den

Ergebnissen der Befragung solchen Einstellungen zuneigt, betätigt diese Einstellung auch praktisch oder ist bereit, seine Einstellung zum Beispiel auch durch die Wahl einer rechtsextremen Partei zu äußern. Die NPD hat glücklicherweise kein Wahlergebnis von 22 Prozent, die extremistischen Einstellungen schlagen sich offenbar anderweitig nieder. Daher möchte ich das Augenmerk nun auf die aus Sicht von Polizei, Verfassungsschutz und Strafverfolgungsbehörden tatsächlich feststellbaren aktuellen Erscheinungen und Entwicklungen des Rechtsextremismus in Thüringen lenken.

Diese Organisationen hatten in den vorvergangenen Jahren einen großen Teil ihrer Mitglieder verloren. Dieser Trend kam im zweiten Halbjahr 2004 zum Stillstand, in einigen Bereichen kehrte er sich sogar um. Insbesondere die NPD konnte in Thüringen einen Aufwärtstrend einleiten, sie konnte sowohl die Zahl ihrer Mitglieder von 150 auf 180 Personen steigern als auch ihre Strukturen ausbauen und die Anzahl ihrer Aktivitäten erhöhen. Der Partei gelang auch, sowohl bei der Landtagswahl 2004 als auch bei der Bundestagswahl 2005, ihren Anteil an den Wählerstimmen zu steigern. In der zweiten Hälfte des Jahres 2004 leitete die NPD auch die Wiederbelebung ihrer Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ ein, indem sie Stützpunkte Saale-Orla und Jena gründeten.

Eine neue Entwicklung wurde im Jahr 2004 auf Bundesebene mit dem Konzept eingeleitet, die extreme Rechte in einer Volksfront von rechts zusammenzuschließen. Die NPD rief auf, Abgrenzungen zu überwinden und appellierte an alle volkstreuen Deutschen, an einer wahren Volksbewegung für Deutschland zu arbeiten. Die DVU schloss sich dem Konzept einer Volksfront von rechts an und traf mit der NPD erfolgreiche Wahlabsprachen, infolge derer die NPD zur Bundestagswahl gemeinsam mit Vertretern der DVU antrat. Der Landesverband Thüringen der NPD verstärkte das traditionell gute Verhältniss zu den Neonazis durch Integration und Kooperation, insbesondere durch die Gewinnung von neuen Mitgliedern aus diesem Spektrum sowie die Übertragung von Parteiämtern und die Teilnahme an Veranstaltungen der jeweils anderen Seite.

Auch der Aktionismus der Neonazis hat im ersten Halbjahr 2005 nicht nachgelassen. Zunehmend treten sie in die NPD ein. Sie beteiligten sich in einem großen Umfang an Demonstrationen oder Kundgebungen der NPD, die die meisten größeren rechtsextremistischen Veranstaltungen in Thüringen auch angemeldet und durchgeführt hat. Wie im Vorjahr thematisierte das neonazistische Spektrum auch 2005 vor allem die Sozial- und Arbeitsmarktreform der Bundesregierung. Im Jahr 2005 wurden zahlreiche Montagsdemonstrationen veranstaltet und Flug

blätter verteilt, in denen gegen Ausländer agitiert wurde. Die genannten Motive für Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus, nämlich die unsichere soziale Situation und die vermeintliche Konkurrenzsituation mit Ausländern um die Leistungen des Sozialstaats, werden hier von den Extremisten also ganz gezielt aufgegriffen und instrumentalisiert.

Die Skinhead-Szene weitete ihr Personenpotenzial 2004 von 380 auf etwa 410 Personen aus und entfaltete wesentlich mehr Aktivitäten. Das Personenpotenzial der rechtsextremistischen Skinhead-Szene ist in Ostdeutschland, wo nur rund ein Fünftel der Bevölkerung, aber fast die Hälfte der gewaltbereiten Rechtsextremisten der Bundesrepublik lebt, überproportional hoch. Von diesen subkulturell geprägten Rechtsextremisten gehen auch die meisten der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten aus. Für das Lebensgefühl der Skinheads sind insbesondere Skinhead-Musik und -Konzerte von herausragender Bedeutung. Sie vermitteln der Szene ein starkes Gemeinschaftsgefühl und tragen durch die oftmals Gewalt verherrlichenden Texte der Musik zum Einstieg in das rechtsextremistische Spektrum bei. Im Jahr 2003 waren vier Skinhead-Konzerte veranstaltet worden. Ein weiteres Konzert hatte die Polizei aufgelöst. Im Jahr 2004 wurden 12 Skinhad-Konzerte bekannt. Ein weiteres Konzert wurde von der Polizei im Vorfeld verhindert. Die Szene versucht weiter, die Anzahl der Skinhead-Konzerte zu steigern. In diesem Jahr hat sie bereits 17-mal den Versuch unternommen, solche Konzerte durchzuführen. Bislang - Stand 30.09.2005 - fanden sechs Skinhead-Konzerte statt, sieben wurden von der Polizei aufgelöst, vier weitere Konzerte von der Polizei im Vorfeld verhindert. Das größte Skinhead-Konzert der letzten Jahre fand in Thüringen am 2. April 2005 in Pößneck statt. Es schloss sich an den Landesparteitag der NPD an, der in demselben Gebäude stattfand. An dem Konzert nahmen weit mehr als 1.000 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet und dem Ausland teil. Als Veranstaltungsleiter trat der Vorsitzende des Thüringer Landesverbandes der NPD auf. In der Folge dieses Konzerts wurden die polizeilichen Maßnahmen zur Bekämpfung rechtsextremistischer Straftaten in hohem Maße effektiviert durch die wöchentlich stattfindende Sicherheitslage, die Erhöhung der Einsatzstärke der Polizei zu den Schwerpunktzeiten am Wochenende, die Einrichtung einer ständigen Rufbereitschaft für Beamte im Innenministerium, die bei besonderen Einsatzlagen die Führungsverantwortung übernehmen. Eine Übersicht des Landeskriminalamts über alle Örtlichkeiten, an denen bereits Veranstaltungen des rechten Spektrums stattgefunden haben, steht allen Behörden der Thüringer Polizei seit Anfang 2005 zur Verfügung. Das Polizeiverwaltungsamt stellt bei besonderen Einsatzlagen einen kompetenten Ansprechpartner, insbesondere im Hinblick auf die juristische Beratung, zur Verfügung, Diese

Maßnahmen haben sich bislang als erfolgreich erwiesen. Von den von April bis Oktober bekannt gewordenen acht Skinhead-Konzerten konnten sechs aufgelöst und zwei verhindert werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, besonders im Bereich der rechtextremistischen Musik besteht eine intensive überregionale, teilweise auch internationale Zusammenarbeit. Dies gilt sowohl für die Auftritte von Skinhead-Bands als auch für die Produktion von Musik. Ein aktuelles Beispiel für die zunehmende Professionalisierung des rechtsextremistischen Vertriebswesens stellt das so genannte Projekt "Schulhof" dar. Mit diesem Projekt beschritt diese Szene einen neuen Weg. Es sieht eine offensive, flächendeckende Verteilung rechtsextremistischer Musik an Jugendliche vor, die der Szene bislang nicht angehören. Dabei sollen CDs vor Schulen und an öffentlichen Orten - wie Jugendtreffs und Bushaltestellen - kostenlos an Jugendliche verteilt werden. Etwa 50.000 CDs wurden für dieses Projekt produziert. Einer erneuten Bewertung der Strafverfolgungsbehörden vom Oktober 2005 zufolge ist der Inhalt der CD strafbar. In der ersten Augustwoche dieses Jahres wurden in Thüringen in mehreren Orten erstmals CDs verteilt, die möglicherweise aus diesem Projekt stammen. Das Landeskriminalamt leitete Ermittlungsverfahren wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole und Verbreitung von schwer jugendgefährdenden Medien ein. Auch seitens der NPD wird besonders das Medium Musik als Mobilisierungspotenzial und zur Mitgliedergewinnung genutzt. Bei Veranstaltungen können wesentlich mehr Teilnehmer - gerade auch Neonazis und Skinheads - mobilisiert werden, wenn rechtsextremistische Musik zum Einsatz kommt. Beispiele für NPD-Veranstaltungen mit erheblichen Musikanteilen stellen in diesem Jahr das Fest der Völker am 11. Juni in Jena und das Friedensfest am 9. Juli in Gera dar. Gerade das Fest der Völker nahm aufgrund der Vielzahl von Bands und von Rednern sowie deren Internationalität einen neuen Stellenwert unter den rechtsextremistischen Veranstaltungen in Thüringen ein. Die Zielgruppe der Jugendlichen wurde außerdem mit einer kostenlosen Schulhof-CD angesprochen, welche am Vortag im Vorfeld der Bundestagswahl auch an Thüringer Schulen verteilt worden ist, jedoch nicht mit der CD aus dem Projekt Schulhof identisch ist.

Insgesamt lässt sich also ein Nachlassen der Aktivitäten der NPD, der Neonazi- und der SkinheadSzene nicht feststellen. Besonders ist das Ziel erkennbar, verstärkt Jugendliche besonders über Musik anzusprechen und einzunehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinsichtlich der politisch motivierten Kriminalität ist festzustellen, dass die Straftaten aus dem Bereich der politisch

motivierten Kriminalität rechts seit dem Jahr 2000 kontinuierlich gesunken sind von damals 1.846 auf 591 im Jahr 2004. 36 Taten davon waren Gewaltstraftaten. Im 1. Halbjahr 2005 konnten bisher bereits 330 Straftaten, davon 81 Straftaten aus dem rechten Spektrum, registriert werden. Dies entspricht einer Steigerung gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum von 17 Prozent. Anzumerken ist hier allerdings folgender Zusammenhang. Da im Rahmen der politisch motivierten Kriminalität rechts die Propagandadelikte einen sehr hohen Anteil darstellen, sind durch das beharrliche Tragen von Zeichen und Symbolen verfassungswidriger Organisationen, insbesondere bei Veranstaltungen und Versammlungen, sowie durch die konsequente polizeiliche Verfolgung entsprechend hohe Fallzahlen zu verzeichnen. Hinzu kommt, dass für das unter Rechtsextremisten weit verbreitete Label „Thor Steinar“ seit Mitte 2004 ein durch die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft begründeter Anfangsverdacht für das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen bestand. Dies allein führte im 1. Halbjahr 2005 zu 129 Fällen. Größere Bedeutung muss allerdings der deutlichen Zunahme der Gewaltstraftaten zukommen, auch wenn die absoluten Zahlen verhältnismäßig gering ausfallen. Dazu muss man wissen, in der Bundesrepublik gibt es im Jahr insgesamt etwa 6.300.000 Straftaten, 21.000 Straften entfallen auf den Bereich der politisch motivierten Kriminalität. Insoweit sind die Zahlen in Thüringen relativ gering.