Protocol of the Session on November 11, 2005

Im Zusammenhang mit Gerechtigkeit ist auch die Frage auf die Chancen der Menschen in diesem Land zu richten. Sie klagen zum Beispiel Leistungen ein und sprechen sich sozusagen für die aus oder stellen sich auf deren Seite, die die so genannten Leistungsträger dieser Gesellschaft sind. Aber das ist doch ein Stück weit Diffamierung all derjenigen Menschen, die in unserem Land, und das ist die große Mehrheit, gerne Leistungen erbringen möchten, aber nicht in der Lage sind, diese Leistungen zu erbringen aufgrund von Arbeitslosigkeit, von anderweitiger sozialer Ausgrenzung und all den Fragen, die wir kennen. Ich will in diesem Zusammenhang auch noch mal deutlich aus unserer Sicht sagen: Was ist denn ungerecht daran, wenn Menschen fordern, dass alle gleichberechtigt zur Finanzierung des Staatswesens herangezogen werden? Was ist ungerecht daran, wenn Menschen fordern, dass der Stärkere die Schwächeren mit stützt? Was ist ungerecht daran, wenn Menschen die im Grundgesetz festgelegte Gleichberechtigung einfordern, meine Damen und Herren?

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Gerechtigkeit stärkt Freiheit und Demokratie in diesem Land - das ist unsere Sicht auf die Dinge - und in dieser Hinsicht möchten wir gern Politik entwickeln.

Eine dritte Bemerkung: Das Datenmaterial des Thüringen-Monitors nutzen Sie zu einer aus meiner Sicht gewagten Interpretation, ausschließlich Ihre Politik biete Alternativen. Und noch schlimmer: Sie lassen ja eigentlich nicht einmal eine Diskussion dieser gewagten Interpretation im umfänglicheren Sinne zu. Sowohl die ersten und leider viel zu spät für eine tiefgründige Debatte vorgelegten Daten des Monitors als auch die Ergebnisse der Bundestags

wahl machen doch deutlich, dass die Menschen Ihrer Interpretation der Alternativlosigkeit immer weit weniger Glauben schenken, Herr Althaus. Ich halte diesen Fakt im Übrigen für sehr eindrucksvoll und einen bemerkenswerten Beleg dafür, dass die Menschen souverän ihre Meinung in diesem Land zum Ausdruck bringen können.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Deshalb kann ich auch nicht verstehen, wie man zwischen dem Grad des politischen Interesses der Bürger in diesem Land, der glücklicherweise sehr hoch ist, und ihrer Meinungsäußerung im Rahmen der Einschätzung, die Sie dazu haben, eine solche Diskrepanz entwickeln kann, wie Sie das getan haben. Und wenn wir wieder dabei sind, dass der Maßstab - das muss ich allerdings auch zum Monitor sagen - politischen Verständnisses ist, dass man sozusagen die Staatsfeiertage kennt, also, meine Damen und Herren, die Zeit sollten wir doch wohl überwunden haben.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Eine vierte Bemerkung: Ich komme noch mal auf die Eingangsworte des Ministerpräsidenten zurück: „Die Thüringer haben sich dem deutschen Einheitsschiff ohne Wenn und Aber anvertraut“. Lassen wir einen Moment dieses Bild auf uns wirken. Ohne Wenn und Aber, ohne Bedingungen und Kritik hätten sich die Menschen dem Schiff anvertraut. Sie wissen zwar nicht so genau, wohin die Reise geht, sitzen aber still auf ihren Plätzen, harren dessen, was da kommen wird. Ich kann mir ja vorstellen, dass ein solches Bild sich gut aus Sicht der Landesregierung oder aus Sicht der CDU-Fraktion ansehen lässt, aber ich glaube, es führt uns einfach nicht weiter, weil das Wichtige an Passagieren ist, dass sie doch das Ziel mitbestimmen möchten, darüber diskutieren müssten, wenn wir das Gesellschaftsbild nehmen, dass sie Kurs und Geschwindigkeit mit debattieren und beeinflussen möchten, dass sie letzten Endes auf der Reise sozusagen auch mit am Steuer sein wollen, dass sie den Kurs mit besprechen wollen und dass sie die Maschinen mit bedienen wollen und dass sie schließlich auch am Ende eines Reisetages die Annehmlichkeiten an Bord genießen möchten. Dies zusammen zu beachten und gemeinsam zu diskutieren, wäre doch eine neue Politik, allerdings mindestens für unsere Landesregierung und die Thüringer CDU.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Es ist sicher richtig, in diesen Tagen in verschiedenen Zusammenhängen an den 9. November zu erinnern und auch an die Ereignisse, die wir heute als friedliche Revolution 1989 bezeichnen und die eine

solche war. Aber wir müssen natürlich auch fragen im Hinblick auf die 15 Jahre, die darauf folgten: Was ist aus den vielen, auch damals sehr unterschiedlichen Vorstellungen zu Demokratie, zu Gesellschaft und zu Staat geworden, die 1989 formuliert wurden? Wo sind viele dieser Ansätze zum Beispiel im Zusammenhang mit mehr direkter demokratischer Beteiligung der Menschen an den staatlichen Entscheidungen und Interessen in den vergangenen 15 Jahren geblieben? Wir werden bei dieser Fragestellung feststellen, dass es dazu viele Defizite zu sagen gäbe in dem, was wir nach 1989/90 hier an politischen Realitäten erlebt haben.

Eine Forderung wird im Mittelpunkt stehen bleiben: Die Menschen in Thüringen wollen Partizipation, sie wollen Teilhabe am Arbeitsleben, sie wollen in der Bildung und Kultur Chancen sich erwerben und bei ihrer Gestaltung mitgestalten. Deshalb unterstützen eben vier von fünf Thüringern die Demokratie als eine Staatsidee, wie wir das auch tun.

In wachsendem Maße unzufrieden sind die Menschen allerdings mit dem - ich hatte das schon erwähnt -, wie sich gegenwärtig Demokratie in Praxis entwickelt und wie sie funktioniert. Wenn sich der Anteil der so genannten unzufriedenen Demokraten um 10 Prozent erhöht hat, so sollte dies für uns ja kein alleiniger Anlass zur Sorge sein, sondern uns auch dazu anhalten, nach den Ursachen weiter zu forschen und zu fragen und Veränderungen für Politik daraus zu schlussfolgern.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

In diesem Jahr hat die etablierte Politik in Bund und Land allerdings aus unserer Sicht das Ansehen der demokratischen Praxis durchaus weiter beschädigt. Viele Bürgerinnen und Bürger haben gespürt, dass die Herbeiführung von Neuwahlen sozusagen per Ausrufung durch den Kanzler das Parlament entwertete und beschädigte. Nach der Wahl ist das Unbehagen der Menschen weiter angewachsen. Für viele ist jetzt offensichtlich, es geht überhaupt nicht um Inhalte, es geht nicht vor allem um politische Probleme, sondern ganz viel auch um persönlichen Machtanspruch und Parteiinteressen, wie denn nun was im Bundestag zu verteilen sei und bei der Regierungsbildung.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Anders können sich doch die Menschen die Eskapaden und Rochaden in den großen Volksparteien überhaupt nicht erklären. Und obendrauf - ich hatte das eingangs erwähnt - packt die Politik noch ein Paket aus Kürzungen und neuen Belastungen, denn - ich sage es hier noch mal - wer bezahlt denn die Mehrwertsteuererhöhung, die Heraufsetzung des

Rentenalters, die Kürzung der Pendlerpauschale? Man könnte das an dieser Stelle noch fortsetzen. Die großen Parteien haben aus meiner Sicht bei den Wahlen eine deutliche Quittung erfahren. Es ist nämlich die Tatsache, dass ihre Politik des Sozialabbaus, die sie ständig in den Mittelpunkt gestellt haben, eben keine solide Mehrheit für eine Regierungsbildung im Bundestag hat. Wenn es nun so ist, dass wir eine große Koalition bekommen werden, dann ist das parlamentarisch ein normaler Gang. Aber damit ist doch noch lange nicht verbunden, dass man die Rezepte weiter betreibt, die man vor den Wahlen schon hatte und für die man die Quittung von den Wählerinnen und Wählern bekommen hat.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Was ist denn das für eine Ignoranz in der Politik! Wir können die so nicht gebrauchen, denke ich einfach, wir müssen hier umdenken.

Eine fünfte Bemerkung: Was muss denn nun geschehen - die Frage stellen sich sicherlich alle -, damit aus unzufriedenen wieder zufriedene Demokraten werden? Die Menschen wollen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld mitentscheiden - Beschäftigte in ihrem Betrieb, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer in der Schule, Einwohner in ihrer Kommune. Gemeinsam mit der SPD hatten wir gestern Vorschläge zu mehr direkter Demokratie auf kommunaler Ebene hier in einem Gesetzentwurf in erster Lesung vorgestellt. Das, was wir allerdings aus der Mitte des Hauses und auch von der Landesregierung gehört haben, stimmt mich für diesen Prozess wenig optimistisch. Das zentralste Argument war: Wir haben doch eine gerade erst einige Zeit in Kraft befindliche Kommunalordnung, da machen wir doch nicht wieder alles neu.

Meine Damen und Herren, was ist denn das für eine inhaltliche Debatte, wenn es um die Mitbestimmung, die Fragen der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern geht?

(Beifall bei der Linkspartei.PDS, SPD)

Ich weiß auch gar nicht, woher diese Abkehr von schon einmal gemachten Erfahrungen bei der CDU-Fraktion in dieser Frage kommt. Wir haben auf der Landesebene solide und mit Kompromissen - das ist bei politischen Auseinandersetzungen immer so - eine gemeinsame Verbesserung in diesem Hause erbracht. Warum, meine Damen und Herren, gehen Sie jetzt einen Schritt zurück und verweigern sich quasi schon von vorn herein bei der Überlegung, dies nun auch auf der kommunalen Ebene zu tun? Ist das Ihre Antwort auf die Tatsachen, die zum Beispiel auch in dem jetzt vorliegenden Monitor hinsichtlich des Zutrauens der Bürgerinnen und Bürger

zu Demokratie vorliegen, was Vertrauen in Institutionen, in Politik und Parteien bringen soll? Ist das Ihre Antwort, frage ich Sie? Dann sage ich: Die Reise, um beim Schiff zu bleiben, geht in die verkehrte Richtung, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS, SPD)

Da haben Sie politischen Besserungsbedarf, und das ganz deutlich.

Der Bildungsbereich ist angesprochen. Ja, Herr Althaus, Sie haben sich auch darauf bezogen - es gibt eine relativ positive Sicht auf das Bildungswesen der DDR. Ich will hier ausnahmsweise noch einmal zitieren. Es ist ja von Ihnen nicht gesagt worden, dass Entwicklungen von Kindern in der DDR positiver bewertet werden mit 81 Prozent, die Gesundheitsvorsorge mit 88 Prozent und das Bildungswesen sogar mit 90 Prozent. Nun will ich, um nicht Missverständnisse aufkommen zu lassen, hier klar sagen, auch wir stehen zu den Entwicklungen, die Indoktrination, wie sie in der DDR üblich war, aus der Schule entfernt haben, und sind sehr damit einverstanden, dass dies heute zumindest in der Art und Weise nicht mehr der Fall ist. Aber ich will noch auf ein anderes Problem hinaus. Wir können natürlich jetzt nachforschen, warum denn nun so viele Menschen so positiv über das Bildungs- oder Gesundheitswesen der DDR nachdenken. Das ist sicher auch richtig, das zu tun, aber nur dann, wenn wir damit nicht eine DDR-Forschung, die dieses oder jenes belegen soll, hauptsächlich betreiben, sondern dann, wenn wir unser heutiges Bildungssystem in Frage stellen. Wenn das nämlich so unwidersprochen wäre, dann würde überhaupt niemand in dem Maße über die Erkenntnisse und Erfahrungen aus der DDR reden. Heute muss geändert werden!

(Beifall bei der Linkspartei.PDS, SPD)

Aber Ihre Antworten sind bekannt. Wir haben das Beste oder zumindest ein sehr gutes Bildungssystem. Die Frage, dass man schon ab der 5. Klasse über den weiteren Bildungsweg entscheiden muss, ist goldrichtig, obwohl alle Beteiligten im Lande anderes debattieren.

(Zwischenruf Abg. Wehner, CDU: Das gibt’s doch gar nicht.)

Auch alle weiteren Fragen behandeln Sie in dieser Art und Weise: Wir bleiben bei dem, was wir haben. Das ist aus unserer Sicht keine richtige politische Schlussfolgerung aus den aktuellen Situationen.

(Zwischenruf Abg. Wehner, CDU: Man kann auch in der 6. Klasse wechseln. Dummschwätzer!)

(Zwischenruf Abg. Dr. Klaubert, PDS: Er hat Klugschwätzer gesagt.)

(Glocke der Präsidentin)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist hier gesprochen worden zum Anwachsen extremistischer Positionen, rechtsextremistischer Positionen.

(Unruhe im Hause)

Kommen Sie zur Ruhe? Ein Stück müssen wir uns schon, denke ich, gegenseitig zuhören, weil es ja um politische Kultur in diesem Hause geht.

(Beifall Abg. Kuschel, Die Linkspar- tei.PDS)

Ich möchte einige Bemerkungen machen im Zusammenhang mit dem anwachsenden Rechtsextremismus in der Gesellschaft. Dies wird entsprechend benannt. Alle haben insgesamt erkannt, dass wir uns auch aufgrund der aktuellen Wahlergebnisse weiter mit diesen Fragen auseinander setzen müssen. Aber ich will auch ganz deutlich an dieser Stelle sagen, da geht es um mehr als nur um Lippenbekenntnisse. Ich gehe auch hier noch mal auf den gestrigen Tag zurück. Wir haben die Fragen einer antifaschistischen Klausel für die Thüringer Verfassung debattiert. Das, was wir öffentlich erleben in diesen Zusammenhängen, sollte uns noch einmal Anlass sein, darüber wirklich gründlich nachzudenken und zu diskutieren. Ich fordere Sie ganz einfach auf, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion und der Landesregierung, Ihre bisherige Haltung auf diesem Gebiet noch einmal zu durchdenken.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Ich bleibe auch dabei, dass wir mehr gemeinsame Aktivitäten brauchen, auch im Sinne eines Landesprogramms gegen Rechtsextremismus.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS, SPD)

Das steht auf der Tagesordnung aus meiner Sicht und ist eigentlich erneut aufzurufen, auch wenn wir den Monitor hernehmen.

Ich will aber andererseits hier auch noch mal auf eine Tatsache aufmerksam machen, die Sie auch in Ihrer Regierungserklärung, Herr Althaus, wieder in diesem Zusammenhang gestellt haben. Ihr Herr Minister Schliemann hat gestern vom Linksextremismus im Zusammenhang mit der RAF gesprochen. Den Positionen, die Herr Schliemann dort kurz entwickelt hat, kann ich mich durchaus anschließen, das sehe ich auch so. Wer aber nun, wie Sie das erneut getan

haben, Herr Ministerpräsident, die Linkspartei.PDS in eine extremistische, sozusagen ja auch gesellschafts- und staatsgefährdende politische Position bringen will, die sie ausgesprochen nicht einnimmt - und das möchte ich hier deutlich sagen -, der begibt sich immer wieder in die Gefahr, da mal den real in der Gesellschaft vorhandenen Rechtsextremismus zu relativieren, zu bagatellisieren und deshalb nicht angemessen sich damit auseinander zu setzen. Die Frage muss ich schon mal aufgreifen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS, SPD)

Wir sind, meine verehrten Damen und Herren, der Auffassung, dass der vorliegende Thüringen-Monitor einer gründlicheren Aussprache und Debatte und gesellschaftlichen Widerspiegelung bedarf, als dies innerhalb einer solchen vormittäglichen Parlamentsdebatte möglich ist. Wir haben deshalb einen Entschließungsantrag Ihnen vorgestellt, in dem wir auf eine gesonderte Veranstaltung verweisen, die wir durchführen sollten und wofür wir die Unterstützung der Landesregierung und die Mitarbeit der Autoren erbitten möchten, weil wir ganz einfach der Auffassung sind, dass das vorliegende Material, was uns ja auch nur sehr kurzfristig zugegangen ist, einer weit eingehenderen Debatte bedarf. Der sollten wir uns insgesamt ohne ideologische Vorurteile, aber mit viel Ernsthaftigkeit in der Bewertung der Situation in unserem Lande stellen. Danke schön.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS, SPD)