Protocol of the Session on May 23, 2002

Einfluss. Das wiederholen sie immer wieder. Die Rahmenbedingungen sind dafür schlecht. So werden sie wenig unterstützt von den Kammern, also auch die Berufsschulen. Irgendwie stimmt so manches nicht. Das ist mir bei der Vorbereitung hier auch klar geworden. Die Bereitschaft junger Frauen in einem alten Bundesland zu beginnen, beträgt nach jährlichen Erhebungen des Bundesinstituts für Berufsbildung mehr als 70 Prozent. Das sollte uns doch sehr, sehr hellhörig werden lassen. Nochmals, es handelt sich dabei vor allem um junge Frauen, die gern eine höhere und hoch qualifizierte Tätigkeit erlernen und ausüben möchten. Es sind Frauen mit Abitur, die Ausbildungsplätze insbesondere im höherwertigen Dienstleistungsbereich suchen und deshalb abwandern. Ein weiteres Problem ist, dass am Ende der Berufsausbildung nur wenige Auszubildende von den Ausbildungsbetrieben übernommen werden, vor allem Frauen werden arbeitslos.

Es liegt uns noch eine zweite Studie vor, und zwar zur Abwanderung von jungen Menschen insgesamt aus den neuen Bundesländern, aber speziell auch auf Thüringen eingehend, und zwar die Studie der Universität Erfurt. Auch diese Studie der Universität Erfurt sieht im Geburtenrückgang als Folge der Abwanderung junger Frauen Probleme auf Thüringen und somit auch auf Thüringens Schulen zukommen. Das Schul- und Hochschulsystem sei unmittelbar von diesem Prozess betroffen.

Meine Damen und Herren, wie sieht das mit den jungen Frauen aus, die nur einen Hauptschulabschluss haben und dadurch noch weniger gut in eine Ausbildung vermittelbar sind? Eine weitere Ursache, weshalb vor allem junge Frauen Thüringen verlassen, liegt darin, dass sich die verfügbaren Ausbildungsberufe schwerpunktmäßig nicht in den expandierenden Branchen des Dienstleistungssektors oder im Bereich informationstechnischer Berufe finden. Sie sind überwiegend in traditionell gewerblichen Berufen, in denen Frauen nur geringe Ausbildungschancen haben. Hier stimmt doch irgendetwas nicht. Bei einer verantwortlichen Mitarbeiterin des Landesarbeitsamts Thüringen/SachsenAnhalt habe ich mich da auch extra noch mal erkundigt und sie hat diese Aussage gestützt. Es gibt wirklich zu wenig Ausbildungsberufe speziell auch für Frauen in den ITBranchen. Ich habe das gar nicht glauben wollen, aber sie hat es bestätigt. Ich frage mich, wie werden die Erfahrungen, die wir durch diese Koordinierungsstelle Naturwissenschaften/Technik für Schülerinnen gesammelt haben, die wir ja alle wollten und auch weiterführen, hier genutzt, um junge Frauen wirklich auch für diese Berufe zu interessieren, sie zu gewinnen. Ich hoffe, wir haben ja das Programm "Fritzi", Herr Minister, hier eröffnet in Eisenach, das vor allem Schülerinnen und junge Frauen für solche zukunftsträchtigen Berufegewinnen soll. Aber wenn sie nicht angeboten werden, dann machen wir uns ja lächerlich. Das ist mir auch klar geworden.

Ein weiterer Grund, das wurde auch in der Studie der Universität festgestellt, für Abwanderung sind wie allgemein bekannt, dass in Thüringen die deutschlandweit

niedrigsten Löhne gezahlt werden. Es ist also überhaupt kein Standortvorteil, hier von einem Niedriglohnland zu sprechen oder sie mit niedrigen Löhnen zu locken.

Meine Damen und Herren, aus den privaten Entscheidungen, die aus reinen Existenzgründen getroffen werden, den Freistaat zu verlassen, wird auf Dauer ein Problem des Landes. Die Flexibilität von jungen Frauen wird so nüchtern von ihnen selbst gesehen, sie sagen, ich verlasse den Freistaat, wenn ich hier nichts finde. Das finde ich eigentlich dramatisch. Ich habe das miterlebt in der eigenen Familie, als 1992 unsere eigene Tochter wegging, da hat man den jungen Leuten gesagt: Gehen Sie doch in die alten Bundesländer. Sie ist gegangen und das war für uns dramatisch. Sie ist aber nach zwei Jahren zurückgekommen, weil wir auch als Familie dafür geworben haben, und das war ein richtiger Schritt. Sie hatte gute Erfahrungen gesammelt und hat diese hier auch sehr gut einbringen können, aber so gelingt es ja nicht sehr häufig, dass sie wieder zurückkommen. Es wäre schön, wenn es uns gelingen würde. Und in Ihrem Ministerium, Herr Minister Schuster, wird eben leider diese Entwicklung bisweilen bagatellisiert. Man sagt, das sind private Entscheidungen. Ich denke, das sollte man doch sehr, sehr ernst nehmen.

Junge Frauen wollen beides, sie wollen Beruf und Familie. Unser dichtes Netz von Kindertagesstätten, mit dem wir bis jetzt immer noch wuchern konnten, ist auch bald aufgebraucht. In Erfurt gibt es z.B. noch sechs Kinderkrippen und der Bedarf ist so gewachsen, wir können ja froh darüber sein. Diese reichen im Grunde schon nicht mehr aus und Erfurt plant auch hier auszubauen. Das tun aber nicht alle Kommunen. In anderen Regionen sieht es hier schon wesentlich dramatischer aus. Es wird höchste Zeit, dass wirklich alles unternommen wird, um diese Abwanderungsbewegung zu stoppen und lieber mit vielen kleinen Schritten ans Ziel zu kommen, als gar nichts zu tun. Und noch mal abschließend: Der Präsident der Erfurter Handwerkskammer hebt ja zu jedem Anlass hervor die gute Unterstützung der Landesregierung für die Handwerker und für den Mittelstand. Dann fordern Sie doch auch eine Gegenleistung, Anstrengungen zu unternehmen und mehr Ausbildungsplätze zu schaffen und nicht das Angebot zurückzufahren, damit junge Frauen hier in Thüringen auch bleiben. Die Jugendberufshilfe hat zu Recht ungewöhnlich scharf eine mangelnde Ausbildungsbereitschaft von Thüringer Unternehmen kritisiert zum ersten Mal, dass sie so hart und so scharf mit Namen an die Presse gegangen sind. Ich zitiere hier den Geschäftsführer der Jugendberufshilfe Thüringens, Herrn Backhaus, er sagte ganz eindeutig - ich zitiere, Frau Präsidentin: "Notwendig seien in erster Linie nicht mehr Fördergelder", da ist ja sehr viel geflossen und fließt, "sondern neue politische Lösungen" sagte Backhaus, "und oft werde an der Jugendarbeitslosigkeit nur herumgewerkelt." Ich denke, das sollte uns schon zu denken geben, wir sollten das sehr ernst nehmen und gemeinsam auch dafür sorgen und gemeinsam etwas tun und nicht, Herr Kretschmer, so tun als würden wir nur das politisch verkaufen wollen oder alles schlecht

reden, so ist es echt nicht gemeint. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Für die SPD-Fraktion hat sich Frau Abgeordnete Pelke zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, lassen Sie mich im Nachgang zu der kurzen Antragsbegründung, wie es sich auch bei einer Begründung gehört, noch einiges zu unserem Antrag sagen. Herr Kretschmer, ich finde es eigentlich schade, dass Sie sich auf so ein Diskussionsniveau begeben, Sie selber haben am Ende Ihrer Rede gesagt, es ist im Prinzip relativ einfach, wir müssen nur Thüringen liebens- und lebenswert machen, dann bleiben die Leute schon hier. Wenn das Ihre Einstellung ist, dann ist es ja noch weniger als das, was nach Ihrer Einschätzung in unserem Antrag steht. Herr Kretschmer, uns zu unterstellen, dass wir hier Wahlkampf oder uns eines Themas populistisch bemächtigt haben, das ist einfach unfair, weil wir oft an dem Punkt, wenn es um Jugendpolitik ging, wenn es um die Frage der Ausbildungsplätze ging, wenn es um die Frage der Arbeitsmarktpolitik ging, immer das Thema "Abwanderung" zum Thema gemacht haben. Ich dachte eigentlich, wir wären uns an dem Punkt einig, dass hier Handlungsbedarf besteht. Genau deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Wir haben uns doch nicht hingestellt und haben gesagt, der Wirtschaftsminister macht überhaupt nichts. Wir haben doch nicht gesagt, hier passiert überhaupt nichts. Wir haben gesagt, die Zahlen, die im Moment auf dem Tisch liegen, nicht von irgendwem, sondern vom Landesamt für Statistik, legen mittlerweile ja im Prinzip dramatische Aspekte dar. Und es muss doch in unser aller Interesse sein, dafür Sorge zu tragen, dass junge Menschen nicht weggehen von Thüringen. Wie Sie das bezeichnen, ob man das als dramatisch ansieht oder mittlerweile aufmerksamer sein muss, oder wie auch immer, das ist doch nicht die Frage. Wir haben uns bemüht, einige Aspekte zusammenzutragen, die Möglichkeiten oder Grundlagen wären, über die man reden kann, um jungen Leuten hier, wie Sie gesagt haben, eine Lebensmöglichkeit zu geben. Und da wäre es vielleicht mal vernünftig darüber nachzudenken, wie können wir denn im Bereich der Wohnungsbauförderung attraktiven Wohnraum zur Verfügung stellen, gerade für junge Menschen in der Familiengründungsphase. Das hat jetzt nicht allein unter dem Aspekt mit dem Wohnungsleerstand etwas zu tun, attraktiver Wohnraum hat etwas mit Umfeld zu tun, hat etwas mit Umfeldbedingungen zu tun, hat etwas mit der Lage des Wohnraums zu tun und, und, und. Das wird der Wirtschaftsminister sicherlich auch sehr viel besser einschätzen können. Er könnte auch dazu etwas sagen. Lassen Sie doch mal über den Punkt nachdenken, dass junge Menschen, die aus zwei Gründen weggehen, um nur einmal zwei Gründe zu nen

nen, einmal, weil sie hier entweder keine Ausbildung oder keinen Arbeitsplatz finden oder aber, weil sie sagen, wir bekommen für unsere Arbeit in den Altbundesländern eben die entsprechende Entlohnung. Reden Sie doch mit Ihrer Kollegin Frau Arenhövel, die weiß doch auch, dass gerade im Bereich der Altenpflege junge Menschen weggehen. Gerade im Bereich der Krankenpflegeberufe gehen junge Menschen weg, insbesondere auch junge Frauen und das hat etwas mit der Entlohnung zu tun und das hat etwas mit den Bedingungen hier zu tun.

Wenn junge Menschen beispielsweise in Ballungsgebiete der Altbundesländer weggehen und dann dort aber höhere Lebenshaltungskosten haben, wäre möglicherweise - wir sagen nicht, dass wir das Gelbe vom Ei erfunden haben - das Angebot von preiswertem attraktiven Wohnraum hier ein Aspekt, weshalb man noch mal darüber nachdenken könnte, Thüringen zu verlassen, und wenn Sie uns Wahlkampf unterstellen. Ich gebe Ihnen sehr Recht, Herr Kretschmer, dass die Mobilitätshilfe sehr unterschiedlich diskutiert wird. Aber, ich denke, es ist ein Aspekt, dass man darüber reden muss und nicht mehr und nicht weniger wollten wir hier zum Ausdruck bringen. Die Mobilitätshilfe, die sich im Prinzip darauf beschränkt, jungen Leuten die Mobilität von Ost nach West noch attraktiver zu machen, ist angesichts solcher Zahlen aus unserer Sicht problematisch und darüber müssen wir reden, wenngleich, auch das weiß ich, die Mobilitätshilfe auch gar nicht in der Größenordnung angenommen wird, wie das vielfach hier in der Thematik rüberkommt, aber genau deswegen lassen Sie uns doch über diesen Punkt sprechen. Also, Wahlkampf ist es nicht, weil wir damit natürlich auch in Richtung der Bundesregierung schauen, also so einfach, dass Sie sich hier herstellen und sagen, alles, was schlecht läuft ist die Bundesregierung und alles, was irgendwie positiv läuft, selbst dann war es die Landesregierung und wenn es dann nicht funktioniert, war es wieder der Schröder - das ist ein bisschen einfach.

Wir haben auch das heikle Thema "Bund-Länder-Programm", "Bund-Länder-Sonderprogramm für zusätzliche betriebsnahe Ausbildungsplätze", angesprochen. Auch das ist ein Punkt, wo wir uns selber in die Kritik nehmen und das gehört sich auch so. Gerade bei so einem heiklen Thema muss man dann auch einmal gegenüber der eigenen Regierung sagen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Es tut mir Leid, wir haben nicht verstanden, weshalb dieses Programm von 16.000 geförderten Ausbildungsplätzen auf 14.000 reduziert worden ist in Absprache mit den Ländern, weil von den Ländern gesagt worden ist, der Bedarf ist sinkend aufgrund sinkender Geburtenzahlen. Das stimmt nicht, meine Damen und Herren, das wissen Sie selber, das ist angesprochen worden. Diese sinkenden Geburtenzahlen, dieser Geburtenknick ist bei weitem erst im Jahre 2006/ 2007 zu erwarten. Insofern kann man jetzt nicht von einer Verbesserung der Situation reden. Unser Anliegen ist es, dass mindestens die alte Zahl von 16.000 geförderten Ausbildungsplätzen vorhanden ist und darüber muss man doch reden, auch wenn man möglicherweise Kritik in die

eigene Richtung deutlich machen muss. Das heißt, diese sieben Punkte, die wir in diesem Antrag aufgeschrieben haben, sind Punkte, die wir als Diskussionsbedarf benennen wollten und das heißt nicht, dass wir zurückrudern. Wir hätten in diesem Antrag noch über Enquetekommission reden können, wir hätten noch über andere Varianten reden können. Aber, sind Sie doch einmal ganz ehrlich, Sie in der Mitte dieses Hauses sind doch sowieso von vornherein wieder in die Diskussion gegangen, diesen Antrag abzulehnen, ob wir nun noch 20 Punkte mehr aufgelistet hätten oder 20 Punkte weniger. Das können Sie doch dann auch so ehrlich sagen, dass es - egal, was von dieser Seite des Hauses an Anträgen kommt - ohnehin nicht Ihre Zustimmung finden wird. Leider Gottes nicht einmal in so einem sensiblen Thema die Zustimmung für eine Ausschussüberweisung, wo wir uns alle zusammensetzen könnten und die Ergebnisse von anderen Kommissionen mit einbeziehen würden, um zu einem Handlungspaket zu kommen, weil eben mittlerweile die Situation der Abwanderung dramatisch ist.

Noch einen Satz zu den Zahlen, die Sie immer mit anderen Ländern vergleichen. Es mag ja sein, dass das immer sehr wichtig ist, aber es ist nun mal so, dass wir hier Abgeordnete im Thüringer Landtag sind. Vergleiche mit Mecklenburg-Vorpommern oder mit Sachsen-Anhalt, das kann alles ganz interessant sein, helfen uns in unserer speziellen Situation aber nicht weiter. Wenn Sie dann die Zahlen vergleichen, dann müssten Sie ehrlicherweise auch auf die Pendlerzahlen verweisen. Die sind natürlich in Thüringen besonders hoch und das hat auch etwas mit den Abwanderungszahlen zu tun. Deswegen stellt sich die Situation unterschiedlich dar. Ich dachte, Herr Kretschmer, das hätten Sie der Ehrlichkeit halber auch mit ansprechen können. Es ging uns hier überhaupt nicht darum zu behaupten, es sei nichts getan und es würde nichts getan, sondern wir haben einen Handlungsbedarf gesehen, den wir hier niedergeschrieben haben. Wir hätten uns eigentlich gewünscht, dass es zumindest an diesem Punkt eine Einigkeit in diesem Hause gibt, zu diskutieren, zu überlegen, wie man ein Handlungsprogramm, das relativ schnell greift, um jungen Leuten, wie Sie gesagt haben, um Sie zu zitieren: "ein lebenswertes Thüringen zu erhalten", wie dieses funktionieren kann. Das hätte ich ganz gern gemeinsam gemacht, aber ich sehe, dass Sie das nicht wollen. Nichtsdestotrotz beantrage ich auch noch einmal namens meiner Fraktion die Überweisung dieses Antrags an den Ausschuss für Wirtschaft, Arbeit und Strukturpolitik und an den Ausschuss für Soziales, Familie und Gesundheit. Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Für die PDS-Fraktion hat sich der Abgeordnete Huster zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kretschmer, wenn ich jedem Antrag hier im Thüringer Landtag Wahlkampf unterstellen möchte, der in zeitlicher Nähe zu irgendwelchen Wahlen ist, dann befürchte ich, wir würden Monate vor Wahlen überhaupt keinen Antrag mehr vernünftig beraten können.

(Zwischenruf Abg. Bergemann, CDU: Er hat das Gegenteil gesagt.)

(Zwischenruf Abg. T. Kretschmer, CDU: Ihr habt das gesagt.)

Sie sind ein Hitzkopf. Ich würde in unserem föderativen System wahrscheinlich überhaupt keine Anträge sinnvoll beraten können. Also, ich unterstelle dem Antag der SPD dieses nicht, sondern ich sehe bei allen Unzulänglichkeiten den sachlichen Gegenstand und die Komplexität des Themas, über das man dringend reden muss. Jeder Antrag, der sich mit Abwanderung und Bevölkerungsentwicklung im weitesten Sinne befasst, muss eigentlich unzulänglich bleiben, unvollständig bleiben, weil eigentlich das Thema das komplexeste überhaupt ist. Meine These ist, dass Abwanderung und Geburtenentwicklung so zentral sind, auch als Leitbild für einen Freistaat wie Thüringen geeignet sind. Es ist schlichtweg der Indikator, ob ein Standort, also ein Freistaat Thüringen oder Ostdeutschland insgesamt, zukunftsfähig ist oder nicht und das muss uns, glaube ich, in der Dimension, in der Tiefe des Problems klar werden. Auf die Frage, ob der Osten ausstirbt, das ist sicherlich auch erst einmal eine provokative Frage, aber, von den Prognosen ausgehend, bis zum Jahr 2020 wird der Bevölkerungsrückgang im Osten Deutschlands noch einmal mit einer Million Menschen beziffert. Neben der Überalterung, die damit verbunden ist oder die parallel dazu läuft, ist das noch einmal ein Riesenproblem. Nicht umsonst beschäftigen sich jetzt auch die Wirtschaftsverbände sehr ausführlich damit, was ihren künftigen Fachkräftebedarf betrifft.

Um das Problem der Abwanderung noch einmal zu verdeutlichen, möchte ich Sie auf ein kleines Gedankenspiel einladen. Allein die Vorstellung, dass wir in diesen Jahren Geburtenzahlen hätten, wie zum Ende der DDR, die Folge dieser hohen Geburtenzahlen wäre tatsächlich eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, die an Entwicklungsländerzahlen wie in Algerien anknüpft oder die eine Ausreise aus Ostdeutschland in die alten Bundesländer zur Folge hätte, die mindestens so hoch wäre wie zu Endzeiten der DDR oder die eine massive Verdrängung älterer Arbeitnehmer aus dem Arbeitsleben hier im Osten zur Folge hätte. Also, entweder die Probleme einzeln oder alle zusammen; wenn wir eine vergleichbare Geburtenquote wie zu DDR-Zeiten hätten, hätten wir diese Probleme. Das heißt im Umkehrschluss, dass auch, wenn ich über dieses Problem diskutiere, über andere Organisationen in der Arbeitswelt nachgedacht werden muss, auch deshalb, weil die jetzige - jetzt verwende ich einen Begriff, der nicht be

sonders schön ist - Reproduktionsquote im Osten gerade mal 52 Prozent beträgt und diese Reproduktionsquote darf von uns nicht so interpretiert werden, als dass es sich hier um einen zeitweiligen Glücksfall handelt, so nach dem Motto, wir wüssten ja gar nicht, wo wir mehr Kinder unterbringen, sondern wir müssen schon sagen, dass diese geringe Reproduktionsquote Ausdruck auch von gesellschaftlicher Krise und vielleicht auch eine Folge dieser Umbruchsituation ist.

(Beifall bei der PDS)

Ich will nicht so weit gehen zu sagen, dass sich hier ein Gesellschaftsmodell überlebt hat, aber Ostdeutschland ist ja nicht das einzige Problemkind in diesem Fall, sondern es betrifft eigentlich alle westlichen Gesellschaften, Ostdeutschland im Moment ganz besonders hart. Das zeigt, denke ich, auch in der Argumentation die eigentliche Tiefe des Problems, über die wir reden müssten. Damit Sie mir nicht vorwerfen, dass ich nur über höhere Dinge rede, um die Ausschussüberweisung dieses Antrags zu befürworten, will ich ein Beispiel aus meiner kommunalen Praxis nennen. Wir machen in Gera seit 2 Jahren als PDS-Jugend unter dem Stichwort "Zukunftskampagne - Abwanderungskampagne" eine Reihe von Gesprächen mit Unternehmen, mit Vertretern aus Politik, aus Kultur, es sind alle wirklich am Start und wir reden darüber, wie wir in unserer Region in Gera Vorschläge entwickeln können, die dort helfen, dass junge Leute dableiben. Natürlich kommt in den meisten Gesprächen im Ergebnis immer heraus, ja wir brauchen Arbeitsplätze, Ausbildungsplätze, hohe Löhne, aber es kommt auch darüber hinaus heraus, dass das sehr viel mit Image zu tun hat. In diesem Zusammenhang macht mir ein Fakt besonders große Sorgen, den wir alle sehr ernst nehmen sollten, weil ich denke, der trifft nicht nur für Gera zu, sondern den kann man auch auf den Freistaat übertragen. Oftmals wissen 14-Jährige schon vor ihrem ersten direkten Kontakt mit der Arbeitswelt, dass sie dieses Land verlassen wollen. Das steht bei denen schon fest und da können wir hier über vieles reden, wenn Jugendliche, wenn Heranwachsende, schon - wo auch immer her, sicher auch aus der Erfahrung ihrer Freunde, ihrer Eltern usw. wird das genährt - innerlich abgeschlossen haben mit dieser Region, dann wird es für uns ganz schwer, die Leute hier zu lassen bzw. sie wiederzubekommen. Es geht also auch viel um Image und bei aller Kritik, ich denke, auch eine Imagekampagne des Freistaats Thüringen kann ja gar keinen anderen Anspruch haben, als auch ein Signal an die Leute zu geben, sich aktiv mit ihrer Region auseinander zu setzen. Über Details haben wir hier in dem Landtag ja hinlänglich gestritten, das will ich an dieser Stelle nicht tun.

Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang: Mir scheint dringend notwendig, dass wir über die Form unserer Kommunikation mit den Menschen nachdenken. So, wie wir es bisher handhaben über Zeitungen und mit Ansprachen über die Medien wird es nicht gelingen, weil diese Probleme, die vor uns stehen, ich sage nur Thema "Stadtumbau", darüber

kann man nur 1 : 1 mit den Leuten reden, um auch begreiflich zu machen, dass wir bei dem bevorstehenden Stadtumbau auch Chancen haben, Chancen für eine nachhaltige Region. Dass die Städte kleiner werden, das wissen wir alle, aber dass damit auch Chancen verbunden sind, ich glaube, da müssen wir über Kommunikation dringend nachdenken. Wenn eine Stadt wie Gera mit ca. 115.000 Einwohnern hoch geschätzt nach den Prognosen im Jahr 2020 noch 80.000 Einwohner hat und wir beginnen jetzt mit dem Stadtumbau, dann hinterlässt das, wenn dieser Prozess nicht vernünftig kommuniziert wird, tiefe Spuren bei all den Leuten, die das beobachten. Das sind nicht nur ihre Häuser, aus denen sie vielleicht herausziehen müssen, sondern das sind dann die Straßen, die nicht mehr belebt sind, das sind die Cafés, die nicht mehr belebt sind, das ist die Disco, die nicht mehr läuft, weil nicht genügend Nutzer da sind. Ich meine, dass wir bei aller Offenheit des Prozesses die Chancen betonen sollten, aber hier im Landtag darüber nachdenken müssen, wie wir diesen Prozess vor Ort unterstützen können.

(Beifall bei der PDS)

Ich wage hier die These: Es ist auch ein Kommunikationsproblem und das sollten wir parteiübergreifend, wo es möglich ist, wirklich angehen. Ich meine, dass wir als Abgeordnete die Pflicht haben, Initiativen wie in Gera vor Ort wirklich zu unterstützen, mit den jungen Leuten ins Gespräch zu kommen. Das ersetzt zwar nicht fehlende Arbeitsplätze, aber eine Identifikation mit der Region und Verständnis der Probleme hilft schon viel. Ich brauche ja auch einen bestimmten Gründer- und Aufbaugeist, wenn ich etwas bewegen will. In diesem Sinne meine ich, kann der Antrag der SPD-Fraktion wirklich qualifiziert werden. Ich glaube nicht, dass man damit in wenigen Tagen wirklich zu greifbaren Ergebnissen kommen könnte, aber in einem längeren Diskussionsprozess, der vielleicht zum Ziel hat, Abwanderungen und Geburtenentwicklung wirklich auch als ein Leitbild darzustellen, im positiven Sinne Zukunftsfähigkeit des Freistaats Thüringen, sehe ich genügend Chancen. Und, meine Damen und Herren der CDU-Fraktion, es dürfte dann wirklich nicht so schwer sein, diesem Antrag auch zuzustimmen; er ist für Sie tatsächlich unschädlich.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Für die Landesregierung hat sich der Wirtschaftsminister zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, ich denke, bei dieser Diskussion geht es nicht um die Frage, ob man eine bestimmte Entwicklung dramatisiert oder bagatellisiert, sondern es geht zunächst um die Frage, ob man

sie überhaupt richtig analysiert hat. Wenn ich mir die verschiedenen Beiträge so vor Augen führe, habe ich nicht den Eindruck, dass dies allseits der Fall ist. Mich erinnert diese Diskussion, nicht hier, sondern generell, an jenen Mediziner, der zwar nicht in der Lage ist, eine Diagnose zu erstellen, aber sich als guter Chirurg empfiehlt.

Meine Damen und Herren, wir müssen uns zunächst einmal im Klaren darüber sein, dass dieses Thema - wie gesagt, von erheblicher Bedeutung - kein spezifisches Ostthema ist, es ist ein deutsches Thema insgesamt. Die Spitzenreiter bei dem negativen Wanderungssaldo sind Länder im Westen: Niedersachsen hat den höchsten negativen Wanderungssaldo deutschlandweit; Saarland, Bremen sind dabei. Und bei den neuen Ländern haben wir weder den positiven noch den negativen Spitzenwert. Brandenburg hat einen positiven Saldo, weil dort die Randwanderung in Berlin natürlich dazu führt, dass eine starke Zuwanderung erfolgte. Wir haben den zweiten Platz nach Brandenburg. Das heißt, es ist auch kein typisch thüringenspezifisches Problem. Es ist ein gesamtdeutsches Problem überhaupt. Wenn man die Abwanderungszahlen reduzieren will, dann muss man die Gründe für Abwanderungen ermitteln. Die Ursachen von Wanderungsbewegungen sind eindeutig das Wachstumsund Wohlstandsgefälle zwischen den Regionen. Immer dann, wenn die Konjunktur lahmt, steigt die Wanderungsquote. Die Zahlen steigen jetzt, weil die Konjunktur so schwach ist.

Wenn man also die Wanderung einschränken will, muss man im Umkehrschluss dafür sorgen, dass die konjunkturelle Entwicklung wieder besser wird. Da bin ich bei einem Thema, das wir sattsam hier diskutiert haben. Wenn man über die Abwanderungen im Osten spricht, sollte man die Diskussion nicht so führen, dass sie dem Osten schadet.

(Beifall bei der CDU)

Es wird der Eindruck erweckt, dass man hier nur noch wartet, wer als Letzter den Lichtschalter umlegt. Wenn das durch die Gazetten geht, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Investoren sich für die neuen Länder erst gar nicht mehr interessieren.

(Beifall bei der CDU)

Es gibt viele Meldungen mit dem Tenor, dem Osten laufen die Menschen davon. In Wirklichkeit haben wir interessante Angebote zu machen. Wir können Fachkräftepotenziale anbieten, die es in den alten Ländern nicht mehr gibt. Wir haben ein interessantes Fachkräftepotenzial zu bieten, das muss doch auch gesagt werden. Wir sollten nicht von einer sterbenden Region sprechen, das trifft doch einfach nicht zu.

Jetzt noch einmal zu den Ursachen: Sicher kommen bei Abwanderungsmotiven viele infrage. Es wurden die Wohnverhältnisse genannt. Frau Pelke, wenn ein Bereich weithin geregelt ist, dann ist es der Bereich der Wohnversorgung,

des Wohnumfelds, der städtebaulichen Entwicklung. Sogar im Eigentumsbereich ist viel geschehen, um Wohneigentum bilden zu können, und zwar sehr viel preisgünstiger als zum Beispiel im mittleren Neckarraum oder im Rhein-Main-Gebiet oder im Raum München.

(Beifall bei der CDU)

Da haben wir keinen Rückstand aufzuarbeiten. Das zentrale Problem sind die Lohnstrukturen, die Tarifstrukturen und die Aufstiegsmöglichkeiten, die Qualifizierungsmöglichkeiten, also allesamt Probleme, die im Bereich der Wirtschaft zu klären sind, für die die Politik nicht, jedenfalls nicht primär, zuständig ist. Hierüber muss gesprochen werden.

Die Landesregierung betont seit Monaten und Jahren, dass wir eine differenzierte Lohnpolitik brauchen, dass wir einen differenzierten Flächentarif brauchen, um dringend benötigte Fachkräfte hier auch binden zu können. Wenn die Einkommensunterschiede so groß sind wie sie sind, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn es zu Abwanderungen kommt.

Was ist zu tun? Die Landesregierung hat im Rahmen des Tarifpartnergesprächs eine Arbeitsgruppe eingesetzt, der Vertreter der Gewerkschaften, Vertreter der Wirtschaft und der Landesregierung angehören. Sie soll die Zukunft der Flächentarife erörtern. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass man hier nur etwas tun kann, wenn gleichzeitig die Produktivität der Wirtschaft steigt. Wenn man umverteilt, ohne, dass etwas zu verteilen ist, ist dies von großem Schaden. Aber, wie kann man die Produktivitätsentwicklung steigern? Diese Frage richtet sich zunächst an die Wirtschaft, aber auch an die Politik, an das Land oder den Bund oder die Kommunen. Zu nennen ist etwa der Bereich Ausbildung, Studienplätze, Forschung usw. Bei der Ausbildung haben wir viel erreicht, noch nicht alles, beileibe nicht, darüber reden wir ja schon längere Zeit. Über die Entwicklung der Hochschulen ist auch viel gesprochen worden, auch über die Erfolge unserer Hochschulen beim Ranking. Trotzdem bleiben hier auch weitere Aufgaben zu lösen. Angesichts der Abwanderungszahlen sollte man auch dafür sorgen, dass interessante Arbeitsplätze, die es gibt, auch besetzt werden. Das ist ja keineswegs der Fall. Wir haben Abwanderungen und gleichzeitig werden interessante Arbeitsplätze im Land angeboten, die keine Nachfrage finden. Deshalb führen wir eine Informationskampagne durch, um das tatsächliche Angebot an Ausbildungsplätzen und Arbeitsplätzen den jungen Leuten nahe zu bringen. Dafür haben wir "Thüringen perspektiv" gestartet. Zum Zweiten ist es dann wichtig, den tatsächlichen Bedarf an Fachkräften zu ermitteln, damit man passgenau vermitteln und ausbilden kann. Dafür hat der Ministerpräsident die Managementgruppe gegründet, um dies zu erreichen. Frau Pelke, wenn Sie schon die Politik ansprechen, dann wäre es vielleicht auch ganz gut, auch die Bundespolitik in die Pflicht zu nehmen.

(Zwischenruf Abg. Pelke, SPD: Habe ich doch.)

Dann wäre es ganz gut, Sie würden Ihre Bundesregierung veranlassen, bei dem Ausbildungsprogramm die von uns geforderten 16.000 Ausbildungsplätze wieder zu genehmigen. Die Bundesregierung weigert sich dies zu tun.

(Zwischenruf Abg. Pelke, SPD: An dem Punkt sind wir uns doch einig.)

Da können Sie wirklich was bewirken, bitte tragen Sie dazu bei, dass das Bund-Länder-Programm für junge Menschen wieder aufgelegt wird, und zwar in dem Umfang wie bisher.

(Beifall bei der CDU)