Protocol of the Session on October 23, 2019

Was mich in diesem Fall aber noch mehr schockiert, ist das Profil des Täters. Stephan B. war ein unauffälliges Blatt, 27 Jahre alt, lebte bei seiner Mutter. Er soll in keiner Kartei der Polizei oder des Verfassungsschutzes als Extremist verzeichnet gewesen sein. Dennoch soll er sich bereits im Jahr 2015 im Internet eine Waffe besorgt haben.

Laut einem Fernsehbeitrag der ZDF-Sendung „Frontal 21“ hatte er aber schon vor fünf Jahren einen Kontakt zur NPD gesucht. Fünf Jahre später stellt er Munition und Waffen selbst her, lädt seinen gesamten Bestand an Waffen und Sprengsätzen in einen gemieteten Golf und macht sich auf den Weg zur Synagoge nach Halle.

Nachdem sein Anschlag - man kann heute sagen: Gott sei Dank - auf die jüdische Gemeinde gescheitert ist - darauf ist heute hier schon eingegangen worden -, weil die Eingangstür gehalten hat, tötet er danach scheinbar willkürlich zwei Menschen. Anschließend flieht er mit einem Auto.

Im benachbarten Wiedersdorf verletzt er ein Ehepaar mit Schüssen schwer.

Durch einen selbst verursachten Verkehrsunfall wurde er schließlich überwältigt und in Gewahrsam genommen.

Mehr als 700 Polizisten waren im Einsatz und konnten den Täter nach gut eineinhalb Stunden festnehmen.

Mittlerweile sitzt der Täter in Untersuchungshaft. Er hat gestanden und - hören Sie gut zu! - antisemitische sowie rechtsextreme Motive eingeräumt.

Wer hier also jetzt noch sagt, wir unterstellen etwas, der hat das selbst - - Man kann sagen, man glaubt ihm nicht, aber das ist nun einmal die Tatsache.

(Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

- Herr Kirchner, so ist es gewesen.

(Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

Mehr als 50 Gläubige haben an diesem Tag in Halle den jüdischen Festtag Jom Kippur gefeiert. Wir möchten uns gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die Tür der Synagoge nicht gehalten hätte. Das hat sie Gott sei Dank. Dennoch mussten Menschen sterben, Menschen, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Während dieser schockierenden Tat spricht der Täter größtenteils in einem holprigen Englisch. Er überträgt seine Handlungen live im Internet und hat sogar Zuschauer, die ihm live dabei zusehen, mehr als 2 200 Follower, die sich das Video anschließend noch angesehen und geteilt haben.

Das Attentat von Halle wird dort gezeigt, wo es seinen Ursprung hatte: im Internet. Dort hat sich der Täter Stephan B. radikalisiert.

Können wir vor diesem Hintergrund noch von einem Einzeltäter sprechen? - In diesem konkreten Fall müssen wir das bejahen. Insgesamt betrachtet wäre es aber zu einfach. Der Blick auf diese Taten muss weitergehen. Das sieht auch der Generalbundesanwalt Peter Frank so; meine Kollegin ging darauf schon ein. Der „Spiegel“ zitiert ihn mit den Worten: „Selbst wenn sie ihre Taten allein verübten, seien sie in einer virtuellen Gemeinschaft eingebunden, die im Internet ihre Morde bejubelt.“ In diesem Zusammenhang spricht er gar von einer neuen Form des Terrorismus.

Über die Grenzen hinaus finden sich ähnliche Taten: in Oslo, auf Utøya, in Pittsburgh in den USA - meine Kollegen gingen darauf ein -, ebenso in Christchurch in Neuseeland, um nur einige Beispiele zu nennen.

Alle diese Taten sind erst aus Worten erwachsen, haben dann im Internet Gleichgesinnte gefunden, die sie dazu motivierten, diesen Worten auch Taten folgen zu lassen. Genau dieses Muster trifft auf diesen Anschlag zu.

Diese Taten finden auch bei uns statt. Ich erinnere an das Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Oktober 2015, als ein Rechtsextremist sie mit einem Messer in den Hals gestochen hat.

(Sebastian Striegel, GRÜNE: Oder der Amoklauf von München!)

- Lieber Herr Striegel, ich trage meine Rede selbst vor.

Nun hat es wieder Drohungen gegen Politiker in Thüringen gegeben. Nach Medienberichten wurde unter anderem der grüne Landtagsabgeordnete Dirk Adams zum Parteiaustritt aufgefordert; sonst würde ihm ein ähnliches Schicksal wie der Kölner Oberbürgermeisterin drohen.

Mein Kollege Mike Mohring hat mittlerweile wiederholt Morddrohungen erhalten. Nach seinen Aussagen kamen diese Drohungen ebenfalls von Rechtsextremisten, die ihn aufforderten, vom Wahlkampf abzusehen, sonst würden sie ihn abstechen oder gar eine Autobombe unter seinem Auto zünden.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das muss aufhören.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LIN- KEN)

Rechtsextreme Gewalttaten reichen aber noch viel weiter zurück. Ich möchte Sie erinnern an den Brandanschlag auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, auf das Wohnhaus von 150 vietnamesischen Vertragsarbeitern in RostockLichtenhagen, an den Tod von drei Türkinnen nach einem Brandanschlag von drei Neonazis in Mölln oder auch an die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds.

Medienrecherchen belegen mindestens 169 weitere Todesopfer rechtsextremer Gewalt sei 1990. Dazu kommen 1 600 antisemitische Straftaten im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik Deutschland.

Das ist eine erschreckende Erkenntnis, eine Erkenntnis, die zeigt, dass die Sicherheitslage in unserem Land, was den Antisemitismus, den Rechtsextremismus und den Rechtsterrorismus angeht, sehr angespannt ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich ist der Anlass für die Regierungserklärung unseres Ministerpräsidenten und die dazugehörige Debatte das Verbrechen vom 9. Oktober. Dennoch ist diese Tat ein Spiegelbild der Gesamtentwicklung in unserem Land, und das auch mit internationalen Vernetzungen.

Die Tat an sich verüben Einzelpersonen. Doch sie werden getrieben und motiviert von einer Gemeinschaft im Internet so lange, bis sie eine Gewaltbereitschaft aufbauen, die auch Opfer mit sich bringt. Radikale und antisemitische Hetze im Internet haben sich längst auf das reale Leben ausgewirkt. Es sind Nebenwirkungen der Digitalisierung und der sozialen Plattformen. Nutzer

sind dort anonym. Täter können sich verstecken. Radikale können ihre Neigungen unter dem Deckmantel eines zufällig gewählten Benutzernamens mit Gleichgesinnten teilen.

Diesen Personen, diesen Tätern, diesen unberechenbaren Tätern auf die Spur zu kommen ist eine gewaltige Aufgabe für unsere Sicherheitsbehörden. Vor diesem Hintergrund ist es völlig unangemessen, verehrte Kollegen der AfD, wieder einmal den Rücktritt eines Ministers zu fordern. Wir stehen zu unserem Innenminister Holger Stahlknecht. Darum weisen wir, ähnlich wie es der Ministerpräsident schon gesagt hat, Ihren Antrag mit aller Entschiedenheit zurück.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir alle wissen, meine Damen und Herren, dass der Zweite Weltkrieg viel Leid und auch Schande über unser Land gebracht hat, beim Beginn und beim Ende, auch über die Deutschen, verehrte Kollegen. Beim Holocaust sind sechs Millionen europäische Juden ermordet worden. Aus Halle (Saale) wurden rund 700 Juden in Konzentrationslager verschleppt, in Magdeburg mehr als 1 500 Juden ermordet.

Auch die Jahre danach waren für die Juden in Sachsen-Anhalt nicht einfach. Mit der Wiedervereinigung vollzog sich dann eine grundlegende Wende.

Ich habe nicht die Zeit und will es in diesem Zusammenhang auch nicht näher ausführen. Aber auch die DDR hatte ein sehr gespaltenes Verhältnis zum Judentum und zum Staat Israel, um das einmal ganz klar zu sagen, Herr Lippmann.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Die jüdischen Gemeinden in unserem Land und ihre Landesvertretungen sprechen seitdem wieder von einer politischen Kultur, die erstmals Bedingungen schafft, jüdisches Leben umfassend zu gestalten und zu verwirklichen, und das unterstützt vom Land Sachsen-Anhalt. Das dokumentiert sich sogar in einem zwischen dem Land Sachsen-Anhalt und der Jüdischen Gemeinschaft geschlossenen Staatsvertrag, der 2006 erneuert wurde.

Auf der Homepage des Landesverbandes jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt heißt es: „Es dauerte lange, bis dieses Land sie annahm, bis aus Juden in Deutschland lebende deutsche Juden wurden.“

Am 9. November 2019 werden wir wieder an die Reichsprogromnacht erinnern, als Juden Opfer organisierter und gelenkter Gewaltmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes wurden. Ich

habe es wirklich nie für möglich gehalten, dass diese Menschen jemals wieder Angst vor Angriffen haben müssen.

In der vergangenen Woche hat der Journalist Richard Schneider in einem Beitrag der „Zeit Online“ Folgendes gesagt - ich zitiere -:

„Ich will als Jude in meinem Alltag frei leben und atmen können. Es gab Zeiten, da hatte ich geglaubt, das sei möglich in Deutschland. Es war möglich. Heute ist es nach meinem Dafürhalten nicht mehr möglich.“

Er hat Deutschland, seine Heimat, verlassen. Dass das nicht zur Regel wird, meine sehr verehrten Damen und Herren, dafür sollten wir alle, die wir hier sind, unterschiedlich unserer eigenen Feldpostnummern, kämpfen. Das sage ich ganz deutlich.

(Zustimmung von Rüdiger Erben, SPD, und von Dr. Katja Pähle, SPD)

Wir alle hier im Hohen Hause und die Menschen draußen auf den Straßen, beim Bäcker, beim Abholen ihrer Kinder sollten dafür kämpfen, dass Menschen unterschiedlicher Konfession und unterschiedlichen Glaubens in diesem Land friedlich und frei zusammenleben können.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Darum bin ich auch der jüdischen Gemeinschaft und unserem Innenminister Holger Stahlknecht dankbar, dass sie sich umgehend zu einem sicherheitspolitischen Gespräch getroffen haben. Dabei ging es unter anderem auch um den Abschluss einer ergänzenden Vereinbarung zum bereits genannten Staatsvertrag sowie um bauliche Sicherheitsmaßnahmen an Synagogen und deren Finanzierung. Zudem werden die Beteiligten in weiteren Gesprächen die von der Landespolizei zu erstellende allgemeine Gefährdungsbeurteilung gemeinsam mit dem Sicherheitsbeauftragten des Zentralrates der Juden erörtern.

Nur so kann es funktionieren. Denn in dieser Zeit helfen uns ein Zusammenrücken mehr als ein Verurteilen oder einseitige Schuldzuweisungen. Nur wir gemeinsam können gegen jede Form von Terrorismus in unserem Land vorgehen, können unseren demokratischen Rechtsstaat für die Zukunft aufrechterhalten.

Meine Damen und Herren! Ich habe es bereits eingangs erwähnt: Mehr als 700 Polizisten haben geholfen, den Täter von Halle festzunehmen. Unser Dank gilt insbesondere und ausdrücklich den Einsatzkräften vor Ort, die unter schweren physischen und psychischen Belastungen den Täter stellen konnten. Das Handeln der dortigen Einsatzkräfte hat sich in dieser Krise bewährt.

Ihr Handeln dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass der Einsatz unserer Polizei professionell verlaufen ist und der Täter trotz aller Schwierigkeiten gefasst werden konnte. Wer in einer solchen Situation Kritik an der Polizei übt, sollte sich immer vor Augen halten, dass die Einsatzkräfte für uns alle ihr Leben aufs Spiel setzen.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)