Protocol of the Session on October 23, 2019

Unsere Verfassungsmütter und -väter haben das Grundgesetz als Antithese zu jedem politischen Extremismus konzipiert. Insbesondere sein Kernsatz, der erste Satz des Artikels 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, ist die Antwort auf den Nationalsozialismus.

Es liegt in der Konsequenz dieses verfassungsrechtlichen Denkens, dass das Grundgesetz den Feinden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerade nicht die Freiheit einräumt, sie abzuschaffen.

Moral erschließt sich auch in dem, wogegen wir sind. Schreckliche Vereinfacher haben unser Land schon einmal in die Katastrophe geführt. Das darf sich nie mehr wiederholen. Diese Haltung erfordert eine permanente Wachsamkeit.

Ich möchte an das NPD-Verbotsverfahren erinnern. Es wurde 2012 auch auf maßgebliche Initiative Sachsen-Anhalts hin beschlossen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht anders entschieden hat: Der Verbotsantrag gegen die NPD war richtig und durchaus erfolgreich - nicht vor Gericht, aber politisch.

Erstens ist das Gericht inhaltlich den Argumenten der Bundesländer gefolgt. Das Bundesverfassungsgericht hat die NPD als eindeutig rechtsextrem eingestuft. Es gibt jetzt klare Kriterien.

Zweitens war der Antrag der Bundesländer von großer symbolischer Bedeutung. Das Urteil markiert eine klare Linie. Die Bundesrepublik

Deutschland versteht sich nicht als wertneutraler Staat. Ihr Fundament beruht ganz wesentlich auf dem Grundsatz der wehrhaften Demokratie.

Aber nicht nur der Staat ist gefordert. Die Bekämpfung des Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Staatliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen und Organisationen sind gleichermaßen in der Pflicht. Mein ausdrücklicher Dank geht an die Mitwirkenden und an alle Besucherinnen und Besucher des Solidaritätskonzerts in Halle am vergangenen Samstag. Tausende Menschen sind aufgestanden und haben sich mit den Opfern des feigen Anschlags vom 9. Oktober solidarisiert.

Die Zivilgesellschaft in Halle hat ein starkes Signal nach außen gesendet: Halle steht zusammen. Die Stadt tritt entschlossen auf im Kampf gegen Anti

semitismus und Rechtsextremismus. Das Konzert war eine großartige und beispielgebende Aktion. Solche Initiativen fördern die Integration und den Zusammenhalt nach innen. Die Stadt hat damit ihr wahres Gesicht gezeigt.

Sehr geehrte Damen und Herren! Eine erfolgreiche Bekämpfung des Antisemitismus setzt eine intakte Zivilgesellschaft und ein hohes Maß an politischer Bildung voraus. Eine gefestigte Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Teil der demokratischen Kultur, und politische Bildung ist der Schlüssel zu demokratischem Handeln und Denken.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Echte Teilhabe und Engagement setzen Wissen und Kenntnisse voraus. Gesellschaftliches Engagement braucht Kompetenz, und es gilt umgekehrt: Lernen durch Engagement. Wer mitreden will, muss informiert sein und wissen, worüber er spricht.

Menschen, die mit ihrer persönlichen Lebenssituation unzufrieden sind und Angst vor der Zukunft haben, sind anfälliger für rechtsextremistische Parolen. Diese diffusen Zukunftsängste korrespondieren oft mit einem nur schwach ausgeprägten Bekenntnis zu unserem Gemeinwesen und einem geringen Bildungsniveau. Einfache Antworten auf komplexe Probleme finden in einem solchen Umfeld leichter Gehör. Hier verfängt sich das populistische Statement, das an Gefühle appelliert und ganz bewusst auf differenzierte und reflektierte Positionen verzichtet.

Die aktuelle Shell-Jugendstudie hat diese Zusammenhänge nochmals bestätigt. Es gibt unter Jugendlichen in Deutschland eine Affinität zum Populismus. Zu dieser Gruppe zählen rund 25 % der Jugendlichen. Diese Affinität ist nach dieser Studie umso höher, je geringer das formale Bildungsniveau ist. Jugendliche mit höherer Bildungsposition sind mehrheitlich weltoffen und kosmopolitisch eingestellt, so die Studie. Bei Jugendlichen mit einer niedrigen Bildungsposition verhält es sich umgekehrt. Hier tendiert mehr als jeder Zweite zu den Populismusgeneigten oder, wie die Studie sie nennt, Nationalpopulisten. Sie lehnen gesellschaftliche Vielfalt und eine Pluralisierung der Lebensweisen ab.

Der Anschlag von Halle zeigt aber nach jetzigem Erkenntnisstand, dass auch andere Motive für aggressives Verhalten eine Rolle spielen können. Die Schuld für die eigene Unzufriedenheit oder das eigene Scheitern bei anderen zu suchen äußert sich oft in Ressentiments gegenüber anderen Gruppen und Menschen. Ebenso ausgeprägt sind bei diesen Jugendlichen die Politikverdrossenheit und das Gefühl, ständig benachteiligt zu

werden und sich dauerhaft als Loser zu empfinden.

Mich beunruhigt auch die aktuelle Umfrage des Pew-Forschungsinstituts. Sie attestiert den Menschen in Ostdeutschland eine tendenziell negativere Einstellung gegenüber Minderheiten als den Menschen in den alten Bundesländern. Zwar hatten 81 % der befragten Ostdeutschen eine positive Meinung über Juden, aber 12 % äußerten sich negativ. Das sind 12 % zu viel.

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Was kann man dagegen tun? - Ich habe auch kein Patentrezept, aber ich bin nach wie vor zutiefst vom Wert der Bildung überzeugt. Die Demokratie braucht politische Bildung und professionelle Kompetenz bei Erziehern und Pädagogen. Der Grad der politischen Bildung und der Akzeptanzwert für die repräsentative Demokratie korrelieren: Je höher die Bildung, umso größer ist die Akzeptanz. Aufklärung und Bildung schützen vor einfachen Welterklärungen.

(Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜ- NE)

Die Wirklichkeit ist eben nicht schwarz oder weiß, sie ist grau in vielen Schattierungen. Aufklärung beginnt in der Familie - ich sage noch einmal ganz bewusst: in der Familie - und setzt sich fort in der Schule, an den Universitäten, im beruflichen und privaten Umfeld. Dabei geht es auch um die Persönlichkeitsentwicklung. Zu Erziehung und Bildung gehören auch Werteerfahrung und -vermittlung, vor allem ganz enge soziale Kontakte, und zwar nicht nur in den sozialen Medien, sondern vielmehr direkt von Mensch zu Mensch.

Deshalb brauchen wir starke Kultureinrichtungen in unserem Land. Sie bieten Orientierung und Sinnstiftung. Über Kunst und Kultur finden Menschen zueinander. Kulturelle Bildung eröffnet neue Welten, jenseits der Verlockungen im Internet. Die Kultur ist die Substanz einer Gesellschaft. Sie gestaltet unser demokratisches Gemeinwesen mit.

Sehr geehrte Damen und Herren! Wir alle müssen wachsam und sensibel sein gegenüber offenen und latenten rechtsextremen und antisemitischen Äußerungen und vor allem auch Haltungen in Familien, Schulklassen, Sportvereinen, Arbeitsteams und der Nachbarschaft. Wir müssen genau hinsehen, uns einmischen, nicht schweigen, sondern entschlossen handeln und energisch widersprechen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich will in diesem Zusammenhang exemplarisch an das Modellprojekt „Engagiert vor Ort - Gemein

sam gegen Diskriminierung und Menschenverachtung“ erinnern, dessen Träger das Netzwerk für Demokratie und Courage Sachsen-Anhalt ist. Humanitäre Errungenschaften unserer Zivilisation sind alles andere als unerschütterlich. Sie können leicht zunichtegemacht werden. Unterschätzen wir diese Gefahr nicht! Zwar gehören zur Tradition des westlichen Denkens Ideale wie Freiheit und Toleranz, aber Toleranz kennt Grenzen. Sie sind von jedem und überall aufzuzeigen.

Seit der Antike war die Distanzierung vom Judentum immer wieder ein Kern des westlichen Denkens und Weltbildes. Auch vor diesem historischen Hintergrund ist die Erinnerung an die singulären Verbrechen des Nationalsozialismus unerlässlich. Der Mord an den europäischen Juden war präzedenzlos. Die Schoah ist Geschichte, der Antisemitismus nicht. Aus unserer Gesellschaft ist er nicht verschwunden. Er war es auch nicht in den beiden deutschen Staaten nach 1945. Der Firnis der Zivilisation ist dünn.

Eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad, wie sie Björn Höcke propagiert, wird es mit uns nicht geben. Wir mahnen die Erinnerung heute und in Zukunft an. Unser gegenwärtiges Denken beeinflusst auch unsere Einstellung gegenüber der Vergangenheit. Das Ausbleiben der Erinnerung wäre eine echte Katastrophe. Zukunft braucht Erinnerung. Es ist wichtig, Fragen zu stellen, über die Geschichte nachzudenken, den Bezug zur Gegenwart herzustellen und aus diesen Zusammenhängen die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind präzedenzlos. Sie waren kein „Vogelschiss“, wie Alexander Gauland behauptete,

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

sondern sie waren das schlimmste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte, und diese Geschichte verjährt nicht. Man kann sie auch nicht bewältigen. Was geschehen ist, ist geschehen. Dennoch sind wir alles andere als machtlos. Niemand muss orientierungslos in die Zukunft gehen. Zukunft gewinnt man auch durch den Rekurs auf die Vergangenheit. Zukunft zu gestalten heißt: zu wissen, worauf unsere Gegenwart aufbaut.

Warum sollte man nicht aus der Geschichte lernen, und warum sollte uns die Beschäftigung mit der Geschichte nicht wachsamer für bestimmte Entwicklungen machen? - Das ist für mich die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Geschichte, und deshalb sind Erinnerung, Gedenken und die Beschäftigung mit unserer Vergangenheit so eminent wichtig.

Deshalb können gar nicht genug Schulklassen aus Sachsen-Anhalt in unsere polnische Partner

region Masowien reisen, um dort zu erfahren, was im Vernichtungslager Treblinka geschehen ist. Hier wurden allein zwischen Juli 1942 und August 1943 fast eine Million Jüdinnen und Juden getötet. Ihr Leben wurde brutal ausgelöscht, darunter das besonders vieler Kinder und Jugendlicher. Ich bin dankbar, dass sich unsere Partnerregion und der dortige Präsident Marschall Struzik sehr stark dafür eingesetzt haben, dass dort eine sehr aussagefähige Gedenkstätte errichtet wurde, die auch schon von vielen Jugendlichen aus Sachsen-Anhalt besucht wurde. Aber das kann noch deutlich verstärkt werden.

Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Langem gibt es intensive Kontakte zwischen jungen Menschen aus Sachsen-Anhalt und Israel. Schulpartnerschaften und Jugendbegegnungen sind Zeichen lebendiger und guter Beziehungen. Unsere Hochschulen und Universitäten kooperieren erfolgreich und eng miteinander. Die Landeszentrale für politische Bildung pflegt seit der Wiedergründung des Landes Sachsen-Anhalt vor knapp 30 Jahren intensive Kontakte zu vielen staatlichen und nicht staatlichen Institutionen in Israel. Sie organisiert Gedenkstättenfahrten für Schulklassen und führt Geschichtsprojekte, unter anderem mit Überlebenden der Schoah, durch.

Die Vermittlung fundierter Geschichtserkenntnisse, der Austausch auf allen Ebenen und das gegenseitige Kennenlernen, die Neugier auf den anderen und das andere sind von entscheidender Bedeutung. Deutsche Jugendliche sollten möglichst früh für die Besonderheiten im deutschisraelischen Verhältnis sensibilisiert werden. Insofern kommt dem zweiseitigen Jugendaustausch eine ganz zentrale Bedeutung zu.

Solidarität mit Israel soll und darf sich nicht allein aus der Geschichte ableiten. An diesen Staat bindet uns Deutsche mehr als nur die Erinnerung an die Vergangenheit. Unser Blick muss auch nach vorn gerichtet sein.

Niemand soll sagen, man könne doch nichts ändern. Das ist grundfalsch. Wir bestimmen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ich möchte nicht, dass Deutschland zu einem Land wird, in dem Juden nicht mehr leben wollen. Dagegen müssen wir uns mit aller Entschlossenheit wehren. Das ist unser Land.

(Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Zu unserem Land gehört auch, dass sich alle Menschen, die in Deutschland leben, dieser geschichtlichen Verantwortung bewusst sind. Das heißt aber auch, Verantwortung für das zu übernehmen, was unsere Geschichte lehrt, und für das, was aus diesem Land wird. Wir haben eine

Verantwortung für seine Vergangenheit wie für seine Zukunft.

Das schließt das unbedingte Bekenntnis zu unserem Grundgesetz ein, und zwar für alle, die hier leben, unabhängig davon, ob sie in Deutschland geboren wurden oder nicht, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht. In unserer Gesellschaft muss ein Klima der Toleranz und des gegenseitigen Respekts herrschen. Dafür haben wir alle Sorge zu tragen.

Demokratie und Antisemitismus schließen sich aus. Jeder Rassismus ist potenziell oder tatsächlich antisemitisch, und jeder Antisemitismus - das zeigt die Geschichte - ist nationalistisch fundiert. Der Antisemitismus in Deutschland war stets mit dem deutschen Nationalismus verflochten. In ihm war immer die Tendenz zur Ausschließung anderer angelegt.

Unser gemeinsamer Feind ist der Menschenhass, denn er kann uns alle treffen. Ich bin froh und dankbar dafür, dass es jüdisches Leben in Deutschland gibt. Wir haben lebendige Gemeinden in Deutschland und in Sachsen-Anhalt. Sie wachsen und gedeihen. Neue Synagogen werden im Zentrum unserer Städte gebaut. In Dessau, der Geburtsstadt von Moses Mendelssohn, dem der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing mit seinem Drama „Nathan der Weise“ ein literarisches Denkmal setzte, entsteht dort, wo einst die alte Synagoge stand, die 1938 vernichtet wurde, ein neues Gotteshaus. Wer Synagogen baut, möchte bleiben. Das ist ein klares Bekenntnis und darüber sind wir froh.

Am 8. November dieses Jahres findet der Festakt für die Synagoge in Dessau statt. Die Magdeburger Gemeinde hat im letzten Jahr das ChanukkaFest in der Öffentlichkeit gefeiert. Ich war zusammen mit der Landtagspräsidentin dort und konnte wie andere nichtjüdische Bürgerinnen und Bürger Anteil an diesem frohen Fest nehmen. Das ist nach der Schoah alles andere als selbstverständlich. Vergessen wir das nie.

Am 5. November dieses Jahres wird die Grundstücksübergabe an die jüdische Gemeinde für die neue Synagoge in Magdeburg erfolgen. Das ist unsere Botschaft, die wir nach dem feigen Anschlag vom 9. Oktober von Sachsen-Anhalt aus in alle Welt aussenden wollen. - Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜ- NEN)

Herzlichen Dank, Herr Ministerpräsident. Bleiben Sie bitte noch ganz kurz vorn. Es gibt eine Wortmeldung des Abg. Herrn Farle. - Sie haben das Wort, Herr Farle.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Sie haben in Ihrer Rede vieles gesagt, das wir vollständig unterstützen können, nämlich dass der Kampf gegen Antisemitismus in allen Bevölkerungsgruppen, in allen Kreisen und Schichten, auch in allen politischen Parteien, überall dringend notwendig ist. - Das haben Sie gesagt.

Dann haben Sie Ihre Rede aber verkürzt und haben gesagt, dass das nur den Rechtsextremismus betreffe, den man angehen müsse. Das ist ein gravierender Denkfehler.